Die Bundesregierung schweigt zu den Massenanschlägen im Libanon, während UN-Stellen sie als völkerrechtswidrig kritisieren. Zugleich lehnt Berlin eine UN-Resolution gegen die Besatzung Palästinas ab: Das Bündnis mit Israel wiegt schwerer.

Die Bundesregierung setzt ihr Schweigen zu den Massenanschlägen mit Pagern und Walkie-Talkies im Libanon fort. Während die Zahl der Todesopfer steigt und zahllose Menschen – auch unbeteiligte Zivilisten – Gliedmaßen oder ihr Augenlicht verloren haben, bleibt eine Stellungnahme Berlins, das sich allgemein als Hort der Menschenrechte inszeniert, weiterhin aus. Nicht nur UN-Stellen haben scharfe Kritik an den Anschlägen geübt, die internationales Recht gebrochen und zudem „Furcht und Schrecken“ auch in der völlig unbeteiligten Zivilbevölkerung hervorgerufen haben, wie der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, schon am Mittwoch festhielt. Der scheidende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat die Anschläge inzwischen aufgrund ihrer „unvermeidlichen und schweren Kollateralschäden unter Zivilisten“ ebenfalls verurteilt. In deutschen Sicherheitskreisen und in Teilen der Medien werden die Anschläge dagegen völlig offen gelobt. Zugleich weigert sich die Bundesregierung, einer UN-Resolution zuzustimmen, die einem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag Geltung verschaffen will: Die Resolution kritisiert das mit Berlin verbündete Israel.

Anschläge im zivilen Alltag

Die Sprengstoffanschläge, die am Dienstag mit zahllosen Pagern, am Mittwoch mit einer wohl etwas niedrigeren Zahl an Walkie-Talkies verübt wurden – die Geräte waren heimlich mit Sprengstoff präpariert worden –, haben nach gegenwärtigem Stand alleine im Libanon 37 Todesopfer und rund 3.000 Verletzte gefordert; mindestens zwei Kinder kamen ums Leben. Weitere Opfer waren in Syrien zu verzeichnen. Verletzt wurden neben zahlreichen Zivilisten nicht zuletzt ein Diplomat – Irans Botschafter im Libanon – sowie Mitarbeiter der iranischen Botschaft in Beirut. Besonders häufig kam es zu schwersten Verletzungen an Händen und Augen. Genau das war offenkundig gewollt: Die Pager explodierten laut übereinstimmenden Berichten erst nach mehrmaligem Klingeln – zu einem Zeitpunkt also, zu dem man davon ausgehen konnte, dass ihre Besitzer oder andere Personen sie in die Hand genommen und in Richtung auf ihr Gesicht geführt hatten. Schauplätze der Anschläge waren – absehbar – nicht Orte, an denen Kämpfe stattfanden, oder militärische Einrichtungen wie Kommandozentren oder Kasernen, sondern Orte des zivilen Alltagslebens – Supermärkte, Büros, private Wohnungen, private Fahrzeuge, öffentliche Straßen und Plätze sowie ein Trauerzug während einer Beerdigung.

Unter Bruch des Völkerrechts

Deutliche Stellungnahmen liegen mittlerweile unter anderem von den Vereinten Nationen vor. So erklärte etwa der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, bereits am Mittwoch, die Anschläge seien „schockierend“, ihre „Auswirkung auf Zivilisten“ sei „nicht akzeptabel“: „Die Furcht und der Schrecken“, die in der Zivilbevölkerung des Libanon „entfesselt wurden, sitzen sehr tief.“[1] „Tausende Personen gleichzeitig anzugreifen – ob es sich nun um Zivilisten oder Mitglieder bewaffneter Gruppen handelt –, ohne zu wissen, wer im Besitz der ins Visier genommenen Geräte ist, wo sie sich befinden und was sie zum Zeitpunkt des Anschlags umgibt“, breche internationale Menschenrechtsübereinkommen und, insoweit es anwendbar sei, auch das Humanitäre Völkerrecht. Türk forderte eine unabhängige und umfassende Untersuchung: „Diejenigen, die einen solchen Anschlag angeordnet und ausgeführt haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden.“[2] Auch UN-Generalsekretär António Guterres übte scharfe Kritik. Mit Blick darauf, dass die Täter Geräte mit Sprengstoff präpariert hatten, die auch im zivilen Alltag verwendet werden, äußerte Guterres, es sei „sehr wichtig, zivile Gegenstände nicht zur Waffe zu machen“.[3] Regierungen müssten in der Lage sein, diese Regel durchzusetzen.

Folgenlose Phrasen

Während unter anderem auch der scheidende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell darauf hinwies, die Täter seien offenkundig bemüht, im Libanon Angst und Schrecken zu verbreiten, und die Anschläge wegen ihrer „unvermeidlichen und schweren Kollateralschäden unter Zivilisten“ klar verurteilte [4], liegt von der Bundesregierung bis heute keine Positionierung zu dem Geschehen vor. So sahen sich etwa Berliner Regierungssprecher am Mittwoch zwar in der Lage, ein soeben vom georgischen Parlament verabschiedetes Gesetz, das Werbung für nichtheterosexuelle Lebensformen prinzipiell untersagt, scharf zu verurteilen. Gleichzeitig lehnten sie jedoch jegliche Stellungnahme zu der ersten Anschlagswelle vom Dienstag, die zwölf Todesopfer gefordert und die Bevölkerung des Libanon in Angst und Schrecken versetzt hatte, trotz zahlreicher Nachfragen kalt ab.[5] Am gestrigen Donnerstag äußerte sich zum ersten Mal Außenministerin Annalena Baerbock auf X. Baerbock erklärte – es wurde jetzt mit einer bewaffneten Reaktion der Hizbollah gerechnet –, sie „warne alle Seiten vor weiterer Eskalation“; schließlich brächten „Schlag & Gegenschlag … die Region keinen Millimeter zum Frieden“. Völlig folgenlose Äußerungen dieser Art zählen seit je zum festen Repertoire der Berliner Ampelkoalition.

„Ein Husarenstück“

Unverhohlene Befürwortung der Anschläge ist aus den deutschen Sicherheitsapparaten und aus Teilen der Medien zu hören. So äußerte etwa Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Münchener Universität der Bundeswehr, witzelnd auf X: „[Hizbollah-Chef Hassan] Nasrallah schmeißt gerade seinen Pager weg.“ Gerhard Conrad, ein einstiger hochrangiger Mitarbeiter des Bundesnachrichtendiensts (BND), nannte die Anschläge eine „Operation“, die „sehr eindrucksvoll“ verlaufen sei – „ein Husarenstück“; „natürlich“ seien auch Zivilisten getroffen worden, doch sei dies bloß, „was man einen Kollateralschaden nennt“.[6] „Statt ‘Blow out the Brains‘ ‘Blow off the balls‘“, twitterte Jan Fleischhauer, ein Journalist der Wochenzeitschrift Focus, mit Blick auf männliche Opfer, deren Pager in ihrer Hosentasche explodiert war: „Die armen Kerle können jetzt nur beten, dass die Jungfrauen im Himmel, die angeblich auf sie warten, über diesen kleinen Verlust hinwegsehen.“[7] Der Ex-Grünen-Politiker und heutige Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Volker Beck teilte ein Meme, das einen Pager mit der Aufschrift „Deine 72 Jungrauen warten auf dich“ zeigte.[8] Die auf X veröffentlichten Kommentare von Fleischhauer und Beck wurden mittlerweile gelöscht.

Hohle Phrasen

Das Schweigen der Bundesregierung zu den Pageranschlägen, die von UN-Stellen als völkerrechtswidrig angeprangert werden, geht mit einer Missachtung von Stellungnahmen der internationalen Justiz einher, die die Bundesregierung gewöhnlich preist, sofern sie deutschen Interessen entsprechen. So war Berlin am Mittwoch (Ortszeit) nicht dazu bereit, in der UN-Generalversammlung einer Resolution zuzustimmen, die einem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag Geltung verschaffen soll. Darin hatte der IGH bereits im Juli festgestellt, Israels anhaltende Besatzung palästinensischer Territorien sei illegal und müsse schnell beendet werden. Das forderte die UN-Resolution ein. Sie verlangte zudem, um dem Anliegen Nachdruck zu verleihen, die Besatzung solle innerhalb von zwölf Monaten beendet werden. 124 Staaten stimmten zu, 14 stimmten dagegen, 42 enthielten sich. Zwar behauptete das Auswärtige Amt, man wolle nicht nur „das Gutachten … respektieren“, sondern auch „seine Umsetzung in vollem Umfang unterstützen“.[9] In der Abstimmung, die genau diese Umsetzung forderte, enthielt sich die Bundesrepublik jedoch. Auch sonst setzt sie, in hohlen Phrasen die Einhaltung internationalen Rechts einfordernd, ihre Unterstützung für die israelische Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu fort. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.

 

[1], [2] Comment by UN High Commissioner for Human Rights Volker Türk on explosions across Lebanon and in Syria. ohchr.org 18.09.2024.

[3] ‘Civilian objects should not be weaponised‘: UN chief on Lebanon blasts. aljazeera.com 18.09.2024.

[4] Lebanon: Statement by the High Representative on the new series of explosions across the country. eeas.europa.eu 18.09.2024.

[5] Regierungspressekonferenz vom 18. September 2024.

[6] Lars Langenau: Explodierende Pager: Was für den Mossad als Urheber spricht. sueddeutsche.de 18.09.2024.

[7], [8] Raphael Schmeller: Eskalation im Libanon: Welche Strategie verfolgt die israelische Regierung? berliner-zeitung.de 19.09.2024.

[9] Erklärung anlässlich der Resolution der UN-Generalversammlung über das IGH-Gutachten zu den rechtlichen Folgen von Israels Besatzungspolitik. auswaertiges-amt.de 19.09.2024.

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