Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Larry Lohmann

Offizielle Antworten auf Umweltkrisen drehen sich zunehmend um handelbare Anteile von ökologischem Nutzen. Das Kyoto-Protokoll von 1997, das EU-Emissionshandelssystem von 2005 und das Pariser Abkommen von 2015 geben vor, den Klimawandel durch Handel mit Verschmutzungsrechten zu bekämpfen. Ähnliche Systeme erlauben den Verkauf von Biodiversitätszertifikaten, die beispielsweise Industrieunternehmen oder Bauträger kaufen können, um genau die Zerstörung zu ‚neutralisieren‘, für die sie verantwortlich sind.

Keine dieser ‚marktwirtschaftlichen Umweltinitiativen‘ hat das Potenzial, die Klimakrise, die Krise der biologischen Vielfalt oder eine andere ökologische Krise zu bewältigen. Das ist nicht ihre Aufgabe. Sie lassen sich besser als Teile des kapitalistischen Kampfes um Antworten auf den Zusammenbruch der Kompromisse verstehen, zu denen er im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts gezwungen war.

Ein Kompromiss betraf den Wohlfahrtsstaat des Nordens, die Nachfragesteuerung und eine Übereinkunft über hohe Löhne und hohen Verbrauch für eine weiße männliche Arbeiteraristokratie des Nordens in Verbindung mit einem ‚Minderverbrauch‘ im globalen Süden, der billiges Öl liefert. Dieser Kompromiss geriet ab den 1970er Jahren ins Wanken: Die Ölproduzenten weigerten sich, die Preise niedrig zu halten, Frauen weigerten sich, unbezahlte Reproduktionsarbeit zu leisten, Minderheiten lehnten den Rassismus ab, genervte Arbeitnehmer*innen suchten nach Wegen, der Tretmühle zu entkommen. Um mit den sinkenden Profitraten fertig zu werden, wurde im Globalen Süden ein neues Angebot an billigen Arbeitskräften geschaffen, indem eine historisch beispiellose Menge an Menschen von ihrem Land vertrieben wurde – und im Globalen Norden dadurch, dass die Arbeitnehmer*innen vom Sozialstaat, den Gewerkschaften und den bestehenden Lohnverträgen abgekoppelt wurden. Um den neuen Beschäftigten Arbeit zu geben, wurden neue, umfassende Offensiven gestartet, um weltweit Rohstoffe aus Commons und indigenen Territorien zu gewinnen. Begleitet wurde dieser neu belebte Extraktivismus von einer ‚neo­keynesianischen‘ Antwort auf das Problem, wie denn die schlecht bezahlten Arbeitenden in der Lage sein sollten, all die neu angebotenen Güter zu kaufen: Es kam zu einer enormen Ausweitung privater Kredite, faktisch einer Kolonialisierung der künftigen Löhne der Armen. Das Finanzwesen trug auch dazu bei, die Ertragslücke zu schließen, indem es Spekulationsblasen, Ausschlachtung von Unternehmen (Asset strips), Herstellung von Derivaten[1], Immobilienspekulation, Steuerhinterziehung im großen Stil, Diebstahl öffentlicher Güter und andere Betrügereien förderte.

Ein zweiter Kompromiss, der im späten 20. Jahrhundert zerbrach, war der nationale Developmentalismus, in dem das Kapital eine Möglichkeit sah, die revolutionären Energien der postkolonialen nationalistischen Bewegungen zu dämpfen. Mit seinem Versprechen einer auf Unabhängigkeit ausgerichteten Arbeitsteilung zwischen Landwirtschaft und Industrie auf nationaler Ebene stand der Developmentalismus zwangsläufig einer stärkeren Globalisierung der Eigentums­ und Wertverhältnisse im Wege. Er fiel auch den Widersprüchen zum Opfer, die mit der Förderung kapitalistischer Ersatzlösungen für kommunale Ansätze verbunden waren. Die Grüne Revolution, die Nahrungsmittelhilfe und der Ausbau der Infrastruktur sowie die auf die Privatisierung von Einzelbetrieben ausgerichtete ‚Landreform‘ verstärkten nur die Abhängigkeit und die Klassenspaltung. Zum Glück für das Kapital nahm die Notwendigkeit von Kompromissen ab, als das Gespenst einer sozialistischen Alternative nach den chinesischen Reformen von 1979 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Jahrzehnt später verblasste. Ebenso hatte das Kapital das Glück, den Aufstieg der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) zu seinem Vorteil nutzen zu können, indem es die Petrodollar­Schulden als post­developmentalistisches Instrument zur Disziplinierung des Globalen Südens auf dem Weltmarkt einsetzte. Die Rückkehr zu einer eher kolonial geprägten Weltordnung wurde durch eine neue Welle von erzwungenen Handelsverträgen und interkontinentalen Infrastruktur­Korridoren eingeläutet, die mit dem Slogan der Welthandelsorganisation (WTO) Made in the Worldüberschrieben sind.

Ein dritter gescheiterter Kompromiss war die konventionelle Umweltregulierung, die sowohl Ausdruck als auch Beitrag zur ‚Ausreizung‘ der kostenlosen Abfallsenken war, auf die sich das industrielle Kapital lange Zeit verlassen hatte. Die Regulierungsbürokratien hatten behauptet, dass sie in der Lage seien, Krisen zu bewältigen durch die Nachahmungen von Prinzipien der Commons wie dem bedingungslosen Recht auf Leben für die verschiedenen Arten, einschließlich des Menschen. Doch ebenso wie der Wohlfahrtsstaat (Welfarismus[2]), der sich durch eine halbherzige Verteidigung des Menschenrechts auf Lebensunterhalt auszeichnet, konnte dieser Kompromiss nicht von Dauer sein. Kaum war die richtungsweisende US­Umweltgesetzgebung der 1970er Jahre verkündet, wurde sie als ‚Wachstumsverbot‘ angegriffen. Praktischerweise waren neoliberale Ideologen, in Washington ansässige Denkfabriken und Umwelt­NGOs zur Stelle, um einen Ausweg anzubieten. Die Verordnung würde bleiben, aber ihre Commons-Elemente würden wegfallen. Die Grenzwerte für Schädigungen würden nicht von außen durch Expert*innen festgelegt, welche die Bedürfnisse des Kapitals nicht kennen, sondern in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Die Naturwissenschaften würde durch Wirtschaftswissenschaften (econoscience) ersetzt werden. Keines der Rechte von Menschen oder Nichtmenschen wäre bedingungslos.

Der Schlüssel dazu war die Konstruktion einer ‚neuen Natur‘, die aus standardisierten Ökosystem-­Dienstleistungen[3] besteht, welche weltweit gehandelt werden können. Um die Kosten für die Reduzierung der Umweltauswirkungen im eigenen Land zu vermeiden, könnten Unternehmen nun die Umweltgesetze einhalten, indem sie von nah oder fern kostengünstige ökologische Kompensationseinheiten kaufen. Dabei handelt es sich um Äquivalente zur Reduzierung von CO2­Emissionen, um Anteile des Fledermausschutzes, um ‚international übertragene Minderungsergebnisse‘ und so weiter. Die Natur wurde umgerüstet und ‚gemittelt‘ um neben billigen Ressourcen und billigen Arbeitskräften serienmäßig Zertifikate für billige regulatorische Erleichterungen zu produzieren, die dazu beitragen, Förder­ und Verschmutzungswege offen zu halten, die durch herkömmliche Umweltgesetze abgeschnitten zu werden drohten. Der Haken an der Sache war, dass Investitionen in die neuen Ökosystem­Dienstleistungen nur dann fließen würden, wenn eine ausreichende Nachfrage durch den Rohstoffabbau, die mit fossilen Brennstoffen betriebene Produktion sowie die Entwicklung der Infrastruktur vorhanden wäre. In einer ultimativen Orwell‘schen Versöhnung war eine ‚gesunde‘ Umwelt von der Umweltzerstörung abhängig geworden.

So konnten beispielsweise Kraftwerke in Europa ihre Treibhausgas-Emissionen ‚ausgleichen‘, indem sie die photosynthetische Kapazität von Landstrichen in Lateinamerika, Afrika oder Asien kolonisierten. Konzerne konnten außerdem eine fiktive Zukunft durch den Kauf von Anteilen an ‚vermiedener Schädigung‘ abbauen: Solange sie behaupten konnten, dass sie das, was sie anderswo als ‚unvermeidliche‘ Schädigung deklarierten, verhinderten, waren Privatunternehmen rechtlich befugt, zu Hause wie gewohnt weiterzumachen. Diese Logik kam einer Maschine zur Erneuerung von sich selbst erfüllenden kolonialen Mythologien gleich. Die Rhetorik stellte phantasielose Dritte­Welt­Bewohner*innen, die dazu verdammt waren, ihre Umwelt durch unverantwortliche industrielle Entwicklung oder Brandrodung zu zerstören, den aufgeklärten Investoren aus dem Norden gegenüber, die allein in der Lage seien, durch unabhängiges Handeln die Zukunft der Natur sicherzustellen. Wie der Welfarismus[3] und der Developmentalismus war auch die konventionelle Umweltregulierung sowohl globalisierten Wert­Beziehungen als auch neuen Kolonialismen von Raum und Zeit gewichen.

Da der Handel mit Ökosystem­Dienstleistungen darauf abzielt, die Regulierung billiger zu machen, um die Kapitalakkumulation zu fördern, ist der Druck auf die Preise genauso groß wie auf den Märkten für Primärrohstoffe[4].

Kein Land des Südens wird durch den Handel mit Ökosystem­Dienstleistungen reich werden, genauso wenig wie durch Neo­Extraktivismus. Bürger*innen­Bewegungen müssen sich gegen beides wehren im Rahmen ihrer Kämpfe gegen Sparprogramme, Lohnkürzungen, neue Einhegungen von Gemeingütern, Finanzialisierung, Freihandelsabkommen und andere Aspekte des Neoliberalismus.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] Ein Derivat ist ein Finanzprodukt, das den Preis eines bestimmten Basiswerts abbildet. (Anm. d. Übers.)

[2] Welfarismus ist eine politische Ideologie, die darauf abzielt, das Wohlergehen und die Lebensqualität der Bevölkerung durch staatliche Interventionen und soziale Programme zu fördern. (Anm. d. Übers.)

[3] Als Ökosystemleistungen werden die Dienstleistungen der Natur für den Menschen bezeichnet, die er durch die Lebensräume und Lebewesen wie Tiere und Pflanzen bezieht. Die Ökosystemleistungen schaffen die Basis für grundlegende Bedürfnisse des Menschen, wie beispielsweise den Zugang zu Wasser und Nahrung. (www.umweltdachverband.at/themen/naturschutz/biodiversitaet/oekosystemleistungen) (Anm. d. Übers.)

[4] natürliche Ressourcen, die noch nicht weiterverarbeitet wurden (Anm. d. Übers.)

Weitere Ressourcen:

Araghi, Farshad (2009), ‚The Invisible Hand and the Visible Foot: Peasants,

Dispossession and Globalization‘, in A. Haroon Akram­Lodhi and Cristobal Kay (eds), Peasants and Globalization: Political Economy, Rural Transformation and the Agrarian Question. New York: Routledge.

Felli, Romain (2014), ‚On Climate Rent‘, Historical Materialism. 22 (3–4): 251–80.

Pena­Valderrama, Sara (2016), ‚Entangling Molecules: An Ethnography of a Carbon Offset Project in Madagascar’s Eastern Rainforest‘, PhD thesis, Durham University, http://etheses.dur.ac.uk/11475/


Larry Lohmann arbeitet für The Corner House, eine britische NGO. Er hat in Thailand und Ecuador gelebt und ist Mitglied des Beirats des World Rainforest Movement. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Artikel sowie von Büchern wie Energie, Arbeit und Finanzen (mit Nicholas Hildyard, Sturminster Newton: The Corner House, 2014).

Der Originalartikel kann hier besucht werden