Tendenziell drücken zur Zeit die führenden Mächte der Welt ihr Bedürfnis nach Frieden im Nahen Osten aus. Der nicht enden wollende Krieg behindert sie wirtschaftlich mehr und mehr. Allein, die derzeitige israelische Regierung spricht davon, dass die Waffen erst nach einem „totalen Sieg“, der völligen Vernichtung der Hamas schweigen. Das ist Israels laut ausgesprochene Antwort auf die Frage, was denn das Kriegsziel sei und was aus Gaza werden solle.
Am 3.5.2024 veröffentlichte das Büro des Premierministers Netanjahu „Gaza 2035“ online. Offiziell heißt diese Vision „Plan for the Transformation of the Gaza Strip“, Wandel von Krise zu Wohlstand. Im Namen der Web-Adresse steht „Businessmen Initiative“. – Gaza als eine Geschäftsidee? Netanjahu bezeichnet es Wiederaufbau aus dem Nichts (rebuilding from nothing). Dieser Name drückt schon aus, dass das Kriegsziel nicht (nur) die völlige Besiegung der Hamas ist, sondern Tabula rasa zu schaffen, nichts soll von dem übrig bleiben, was es vor dem 7. Oktober gab. Prompt empörte sich die palästinensisch-amerikanische Menschenrechtsanwältin Lara Elboro dagegen „Gaza ist nicht nichts“. (https://www.archpaper.com/2024/05/benjamin-netanyahu-unveils-regional-plan-free-trade-zone-rail-service-neom/)
Pläne israelischer Regierungsvertreter, Gaza völlig (von Menschen) zu räumen, sind hinreichend in der südafrikanischen Genozid-Anklage beim Internationalen Gerichtshof dokumentiert.
Das israelische Immobilienunternehmen Harey Zahav veröffentlicht im Dezember 2023, zusammen mit israelischen Soldaten, ein Video, in dem die Errichtung der neuen Siedlung mit dem Namen einer vor 2005 vorhandenen Siedlung, Morag, in Khan Yunis im Gazastreifen angekündigt wird. Später wird das zum Scherz erklärt.
Trumps Schwiegersohn Jared Kushner sagte in einem Interview am 15.2.2024: „… Es ist eine etwas unglückliche Situation dort, aber aus der Perspektive Israels würde ich mein Bestes tun, um die Leute rauszubringen und dann aufzuräumen. … Ich würde einfach irgendetwas im Negev mit Bulldozern platt machen und versuchen, die Menschen dort unterzubringen. … Gazas Grundstücke am Wasser könnten sehr wertvoll sein. …“
(… It’s a little bit of an unfortunate situation there, but from Israel’s perspective I would do my best to move the people out and then clean it up. … I would just bulldoze something in the Negev, I would try to move people in there. … Gaza’s waterfront property could be very valuable. …”; https://www.theguardian.com/us-news/2024/mar/19/jared-kushner-gaza-waterfront-property-israel-negev)
Netanjahus Plan kommt diesen Vorstellungen entgegen: Der Wiederaufbau soll in 4 Stufen erfolgen. In Stufe 1 befinden wir uns, „Zerschlagung der Hamas“ – ohne Kommentar wie das ausgeführt wird.
Stufe 2 nennt sich Humanitäre Hilfe. Israel behält sich dabei vor, von Norden nach Süden allmählich im Gazastreifen für sichere Zonen (d.h. Hamas-freie Zonen) zu sorgen. Humanitäre Hilfe wird über neue Zugänge eingelassen, von Palästinenser:innen verwaltet, aber unter Oberaufsicht von gemäßigten arabischen Staaten, die das auch finanzieren sollen. Zu diesen Staaten zählen Saudi-Arabien, Bahrain, Jordanien und Marokko.
Diese Phase soll 12 Monate dauern. Es gibt keinen Hinweis, ob VOR der Zerschlagung der Hamas zu erwarten ist, dass Israel Zugänge für humanitäre Hilfe öffnet. Es bedeutet auch, dass Israel selbst keine humanitäre Hilfe leisten wird, sondern sie lediglich erlaubt.
Die 3. Phase heißt Neuaufbau, für die 5 bis 10 Jahre veranschlagt werden. „Rehabilitierung und Entradikalisierung“ sind das Ziel. Ein Vergleich mit dem Marshall-Plan wird gemacht. Bauschutt wird weggeräumt und neue Städte werden von Grund auf errichtet, wiederum mit Unterstützung und unter Aufsicht gemäßigter arabischer Staaten. Es wird eine Wiederaufbaubehörde geschaffen, die zwar von Palästinenser:innen geleitet wird, aber beaufsichtigt, finanziert und angeleitet von den genannten arabischen Staaten. Neuaufbau ist nicht Wiederaufbau – was vorher war, alles Palästinensische soll nicht wiedererstehen. KI-Bilder zeigen Gebäude, die architektonisch eher ein weiteres Singapur oder Dubai ankündigen. Wiederum ist hier nicht die Rede davon, dass Israel Reparationen oder Wiederaufbaugelder zur Verfügung stellen wird.
Die letzte Phase heißt Selbstverwaltung – gewählte palästinensische Vertreter:innen können dieser Verwaltung angehören, wenn sie sich der Absage des Terrorismus und dem Frieden verpflichten. Es wird sogar in Aussicht gestellt, dass langfristig Westjordanland und Gaza vereint selbstverwaltet werden dürfen – wenn sie ihre Fähigkeit beweisen, die Deradikalisierung aufrechtzuhalten. Selbstverwaltung bedeutet kein palästinensisches Staatsgebilde. In der Tat soll die Sicherheit weiter in der Hand des israelischen Militärs bleiben. Israel behält sich das Recht vor, gegen Bedrohungen vorzugehen. Gaza könne – unter diesen Umständen – unabhängig verwaltet sein und schließlich Abraham Accords mit Israel abschließen.
Die Fortsetzung israelischer Militärpräsenz in Gaza ist Verteidigungsminister Gallant ein Dorn im Auge, weshalb er Netanjahus Plan ablehnte.
Die Liste alles Geplanten zeigt, wie „Gaza 2035“ in die globalen wirtschaftlichen Zusammenhänge passt und in welcher Rolle Israel sich dabei sieht: Dem Iran wird Radikalismus und Mangel zugeschrieben – Gaza 2035, wie Israel es vorsieht, wird ein Gegenstück dazu. Gaza soll Freihandelszone, Industrieproduktionszentrum, globaler Handels-, Finanz- und Infrastruktur-Knotenpunkt werden, also damit die chinesische Konkurrenz ausstechen.
NEOM wird erwähnt und Ähnliches im Sinai anvisiert. – Es fällt kein Wort, dass Sinai mit dem Friedensabkommen von 1979 (wieder) ägyptisch ist, Netanjahu also Pläne für Ägypten macht, ohne sie zu konsultieren oder zumindest Absprache dafür in „Gaza 2035“ vorsieht. Metalle im Wert von 1,3 Mrd. Dollar sollen aus Saudi-Arabien exportiert werden. Gaza soll ein Industrieproduktionszentrum für Elektroautos werden, Rohstoffe kommen dafür aus oder über die Golfregion, technologisches Knowhow aus Israel, Energie vom Gasfeld Gaza-Marine. Qualifiziertes (und relativ billiges) Personal stände zur Verfügung, wer das sei, wird nicht näher definiert.
Die Freihandelszone Gaza reicht vom Hafen El Arish in Ägypten (also wiederum über den Kopf Ägyptens hinweg gedacht) bis zum südisraelischen Sderot. Eine Eisenbahnlinie verbindet diese Orte und reicht bis nach NEOM. Selbstverständlich wird auch die IMEC-Verbindung von VAE über Saudi-Arabien, Jordanien nach Israel, aber vielleicht auch direkt nach Gaza einbezogen. Wasser wird in Meerwasserentsalzungsanlagen produziert. Für die Infrastruktur könnten Solarfelder in Sinai (noch einmal die Nennung ägyptischen Hoheitsgebiets) Energie produzieren. All diese Vorhaben würden ausländische Investitionen anlocken.
So würde Gaza wieder eine Position einnehmen, die es in der Zeit der Weihrauchstraße einnahm: Dreh- und Angelpunkt für die Welt zwischen Asien und Europa. – Damit gelingt es Israel, seine Pläne als ein Wiedererstehen des jüdischen Reiches aus der Vergangenheit hinzustellen, gleichgültig, ob es tatsächlich historisch ein jüdisches Volk war, das die Weihrauchstraße betrieb oder nicht.
Für die anvisierten Beteiligten, USA, die arabische Nachbarstaaten und Palästinenser:innen listet der Plan die Vorteile auf. Für die USA wird eindeutig die Bewahrung ihrer Vormachtstellung im Nahen Osten benannt sowie die Umsetzung des IMEC-Memorandums.
Saudi-Arabien, Bahrein und VAE wird versprochen, dass sie so Zugang zum Mittelmeer erhalten, dass ihre Volkswirtschaften von Investitionen profitieren und dass Saudi-Arabien ein Militärbündnis mit den USA erwarten könnte. Im Übrigen könnte man solche Intervention wie bei Gaza künftig auch für Jemen, Syrien und Libanon anvisieren. – Wie ist das gemeint, wenn der Ausgangspunkt bei Gaza die Schaffung eines leeren Raumes durch Krieg ist?
Jordanien und Ägypten könnten von innerem Druck radikaler Kräfte befreit werden. Ägypten könne auf Arbeitsbeschaffung auf dem Sinai hoffen.
Palästinenser:innen wird die Befreiung von der Hamas zugesagt, Öffnung des Gazastreifens für die Welt, Selbstverwaltung, Wiedervereinigung von Gaza und Westjordanland und „riesige Beschäftigungsmöglichkeiten“.
Offen bleibt die Frage, warum weder die USA noch Europa oder Deutschland, warum weder Saudi-Arabien noch andere arabische Staaten bei Verkündung von „Gaza 2035“ laut „Hurra, das ist das Ei des Kolumbus!“ rufen, warum nur aus den VAE eine Reaktion kam – Ablehnung. – Wird heimlich, hinter verschlossenen Türen, doch mit genau diesen Zielen vor Augen verhandelt, aber das darf nicht nach außen dringen, weil hierbei die Palästinenser:innen, sollten sie diesen Krieg überhaupt überleben, über den Tisch gezogen werden? Oder kann ein solch ungeheuerlicher Plan, erst einmal aus Gaza ein „Nichts“ zu machen, um es dann fern jeder palästinensischen Identität neu aufbauen zu lassen, im Interesse von Israel als lokaler Großmacht, im Interesse von regionalen Staaten an Profit und im Interesse der USA an einer Vormachtstellung in diesem Raum, kann solch ein ungeheuerlicher Plan nicht umgesetzt werden, weil er allen Werten von Menschenrechten, Freiheit und gerechtem Frieden ins Gesicht schlägt, weil er eben nur zu verwirklichen ist, wenn Gaza völlig zerstört wird, egal wie viele Menschenleben das kostet?
Einen ersten Hinweis gibt ein Artikel der GTAI am 25. Juli 2024. Die Germany Trade and Invest ist eine bundeseigene Marketing-Agentur für den Standort Deutschland. Sie ist in vollständigem Eigentum des Bundes und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz zugeordnet. Außer der Bewerbung des deutschen Wirtschaftsstandorts veröffentlicht die GTAI Informationen für deutsche Investor:innen im Ausland.
Der GTAI-Experte für Nahost, Detlef Gürtler beschreibt, wie Reedereien und Touristikunternehmen sowie Firmen, die auf die Lieferung von Produktionsteilen aus Asien angewiesen sind (Tesla z.B.) darunter leiden, dass die jemenitischen Huthis an der Meeresenge Al Bab zur Unterstützung Palästinas Schiffe beschießen, die im Zusammenhang mit Israels Krieg in Gaza stehen. „Doch die krisengeschüttelte Region könnte zum Hoffnungsträger werden. … Zumindest in Friedenszeiten.“
Unkommentiert bleibt eine Karte, die drei Handelswege aus Asien nach Europa aufzeigt: Eine Route führt vom Persischen Golf, wo die Türkei im Zuge des Iraq-Turkey-Europe Development Road Project (Türkei, Irak und Italien) schon den Hafen Al Faw im Irak hat ausbauen lassen. Erdogan erhofft sich davon, dass Istanbul zur Drehscheibe zwischen Asien und Europa wird. Auf dieser von GTAI angefertigten Karte endet allerdings das türkische Projekt in Mersin der Osttürkei.
Die zweite Route wurde im India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC) Memorandum of Understanding am 9.9.2023 auf Betreiben der USA angeregt. Waren, Gas (später grüner Wasserstoff) und Kommunikation sollen über eine Wasser-Land-Wasser-Route von Indien über die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Haifa in Israel als Drehscheibe nach Europa gelangen. Das Memorandum haben die USA, Indien, die VAE, Saudi-Arabien, Italien, Frankreich und Deutschland unterzeichnet. Das wäre Konkurrenz zu Erdogans Plan.
Ein dritter Weg ist eine Abspaltung von der IMEC-Route in Saudi-Arabien. Er führt von Riad über Jiddah Richtung Norden weiter über das von Saudi-Arabien als Übergang zu grüner Zukunft vorgesehenem Großprojekt NEOM nach – Gaza! Gaza als Drehscheibe.
Gaza 2035, Originalquelle: https://ynet-pic1.yit.co.il/picserver5/wcm_upload_files/2024/05/03/r1xP7iKGf0/Gaza_Businessmen_Initiative_heb___Copy__1_.pdf vom 3.5.2024, abgerufen 1.8.2024 unterdessen nicht mehr aufrufbar.