Amnesty International wirft Deutschland und 20 weiteren Staaten Europas zunehmende Repression gegen friedliche Proteste, die Stigmatisierung abweichender Meinungen sowie das Schüren rassistischer Ressentiments gegen Araber vor.

(Eigener Bericht) – Amnesty International erhebt in einem aktuellen Bericht schwere Vorwürfe gegen 21 europäische Staaten, darunter nicht zuletzt Deutschland. Die Vorwürfe beziehen sich auf Einschränkungen des Rechts auf Protest; demnach werden in Europa und nicht zuletzt auch in der Bundesrepublik friedliche Demonstranten zunehmend „stigmatisiert, kriminalisiert und angegriffen“. Amnesty hat Fälle schwerer Polizeigewalt dokumentiert – zum Beispiel bei einer Demonstration in Frankfurt am Main –, konstatiert, wer zivilen Ungehorsam leiste, müsse in Deutschland damit rechnen, als „Terrorist“ oder auch als „ausländischer Agent“ diffamiert zu werden – auch von hochrangigen Politikern –, und kritisiert die harte Repression, der ausgesetzt ist, wer gegen den Gaza-Krieg protestiert. Dabei verfestigten staatliche Stellen nicht nur „stigmatisierende und diskriminierende Stereotypen“ über ethnische und religiöse Minderheiten; ihr Vorgehen offenbare auch einen „institutionalisierten Rassismus“, „der auf Araber und auf Muslime zielt“. Der Amnesty-Bericht wird zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, zu dem abweichende Meinungen in Deutschland zunehmend ausgegrenzt werden. Kritiker warnen vor einer autoritären Wende.

Exzessive Polizeigewalt

Die Vorwürfe, die Amnesty International speziell gegen Deutschland erhebt, beziehen sich insbesondere auf drei Bereiche. Beim ersten davon geht es um exzessive Polizeigewalt gegen Demonstranten. Als Beispiel führt Amnesty eine Demonstration am 1. Mai 2021 in Frankfurt am Main an, bei der die Polizei zum Beispiel Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzte. Dabei wurden zahlreiche Demonstranten verletzt; mehrere von ihnen erlitten Knochenbrüche, zwei sogar einen Schädelbasisbruch. Sanitäter berichteten Amnesty zufolge, die Polizei habe sie „einige Stunden“ lang daran gehindert, die Schwerverletzten zu behandeln.[1] Der Amnesty-Report dokumentiert auch Fälle exzessiver Polizeigewalt gegen Kinder und Fälle, die als Misshandlung oder Folter einzustufen seien, zum Beispiel solche, bei denen Demonstranten, die wehrlos am Boden lägen, geschlagen und getreten worden seien. Es komme auch vor, erklärt Amnesty, dass Demonstrationsbeobachter von der Polizei gehindert würden, das polizeiliche Vorgehen gegen Demonstranten zu dokumentieren: Sie würden dabei ultimativ aufgefordert, den Ort der Proteste zu verlassen.

„Zum Schweigen bringen“

Vorwürfe erhebt Amnesty International des weiteren bezüglich des Vorgehens deutscher Behörden gegen zivilen Ungehorsam. Dies bezieht sich nicht nur, aber explizit auch auf die Repression gegen Klimaaktivisten. Man habe, heißt es bei Amnesty, „ein besorgniserregendes Muster“ identifiziert: Personen, die friedlich protestierten, würden „festgenommen, angeklagt und vor Gericht gestellt“ – dies selbst dann, wenn ihre Taten weder „öffentliches Interesse“ gefährdeten noch ernste Schäden anrichteten. Vier Staaten in Europa, darunter Deutschland, griffen auf Gesetze gegen organisierte Kriminalität sowie gegen Terrororganisationen zurück, um zivilen Ungehorsam zu bestrafen; dabei würden auch gegen Personen, die friedlich protestierten, Haftstrafen verhängt. Das offizielle Vorgehen wecke Sorgen, dass das Stichwort „nationale Sicherheit“ als Waffe instrumentalisiert werde, „um abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen“. In diesem Zusammenhang konstatiert Amnesty, in Deutschland werde, wer gegen Missstände protestiere, immer öfter als „Extremist“, als „Terrorist“, als „Krimineller“ oder auch als „ausländischer Agent“ diffamiert – ein bequemes Mittel, dessen sich heute auch hochrangige Politiker bedienten, um missliebige Ansichten zu diskreditieren.

Präventivhaft

Besonders erwähnt Amnesty dabei den sogenannten Vorbeugegewahrsam, der es erlaubt, Personen auf den bloßen Verdacht hin, sie könnten an missliebigen Protesten teilnehmen, zu inhaftieren; in Bayern etwa ist das für bis zu 30 Tage möglich. Amnesty konstatiert, dies widerspreche gängigen internationalen Menschenrechtsstandards; man habe „mehrfach“ die betreffenden Bundesländer aufgefordert, ihre Gesetze an diese Standards anzupassen, damit aber – ähnlich wie in der Türkei – keinen Erfolg gehabt.

„Institutionalisierter Rassismus“

Gravierend sind die Vorwürfe, die Amnesty International bezüglich der Repression gegen Palästinenser und gegen Proteste gegen den Gaza-Krieg erhebt. Sie betreffen bereits die Zeit vor dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023. Demnach beruhten die präventiven Verbote von Demonstrationen rund um den Nakba-Tag im Frühjahr 2022 sowie im Frühjahr 2023 auf „stigmatisierenden und diskriminierenden Stereotypen“ bezüglich der erwarteten Teilnehmer, die etwa als „aus der arabischen Diaspora“ stammend, „mit palästinensischem Hintergrund“ oder als „von Muslimen beeinflusste Kreise“ beschrieben worden seien und denen man die Eigenschaft zugeschrieben habe, „eine Tendenz zu Gewalttaten“ zu haben. Dies zeige „institutionalisierten Rassismus gegen eine gesamte demografische Gruppe“. Nach dem 7. Oktober wiederum seien öffentliche Veranstaltungen, die Solidarität mit den Palästinensern hätten zeigen sollen, häufig komplett verboten, ansonsten lediglich mit unverhältnismäßigen Auflagen erlaubt worden, konstatiert Amnesty; Protestcamps an Universitäten seien auf fragwürdiger rechtlicher Grundlage mit Gewalt aufgelöst worden. Das Vorgehen, urteilt die Menschenrechtsorganisation, „verankert rassistische Vorurteile und Stereotypen“ und legt „institutionalisierten Rassismus, der auf Araber und auf Muslime zielt“, offen.

Autoritäre Wende

Der Amnesty-Bericht erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem die Kritik an einer autoritären Wende in Deutschland lauter wird. Im Kern bereits seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs, in zugespitzter Form seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober werden abweichende Meinungen insbesondere zu außenpolitischen Themen in wachsendem Maße ausgegrenzt. Jüngst hat zu Protest geführt, dass im Bundesbildungsministerium Überlegungen angestellt wurden, Hochschullehrer, die die Repression gegen die Palästina-Solidarität kritisieren, mit dem Entzug ihrer Forschungsmittel zu bestrafen (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Ein aktueller Gesetzesentwurf, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser vorgelegt hat, enthält Bestimmungen, denen zufolge in Deutschland lebende Menschen ohne deutschen Pass ausgewiesen werden können, wenn sie angebliche oder tatsächliche Terrorakte billigen; zur Erfüllung des Tatbestands, der freilich unscharf definiert ist – es gab Zeiten, da galten Kämpfer des ANC als „Terroristen“ –, genügt es demnach bereits, einen inkriminierten Beitrag in den sozialen Medien zu liken.[3]

 

[1] Zitate hier und im Folgenden: Under protected and over restricted. The state of the right to protest in 21 European countries. Amnesty International. 09.07.2024.

[2] S. dazu Wissenschaft im Weltkriegsformat.

[3] Chris Köver: Ausweisung schon nach einem Like. netzpolitik.org 26.06.2024.

Der Originalartikel kann hier besucht werden