Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Ariel Salleh

Im 21. Jahrhundert klafft die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten immer weiter auseinander, obwohl das Potenzial für eine lokal verankerte globale Demokratie in den basisdemokratischen Bewegungen für eine andere Globalisierung steckt. Während der Kapitalismus derzeit in Überproduktion und Stagnation verharrt, wendet sich der neoliberale Akkumulationstrieb der Finanzspekulation zu. Staatliche Funktionen werden vom Unternehmenssektor vereinnahmt, Arbeitsregulierung und Sozialleistungen werden abgebaut.

Vorschläge zur Erdsystem-Governance[1] (ESG) zielen auf eine internationale politische Architektur ab, in der Klima und biologische Vielfalt post-souveräne Themen sind. Erdsystem-Governance spricht andere politische Akteur*innen an als Staaten, nämlich zwischenstaatliche Bürokratien, Unternehmen und wissenschaftliche Elitenetzwerke. Jenseits dieser transnational herrschenden Klasse wird das kreative Handeln von Arbeiter*innen, indigenen Völkern und sorgenden Frauen in den Hintergrund gedrängt.

Erdsystem-Governance wird als ein neues Wissensparadigma für eine umweltbewusste globale Wirtschaft und Politik angepriesen. Die eigene Website postuliert die „5­A“: analytische Probleme der Architektur, der Handlungsfähigkeit (agency), der Anpassungsfähigkeit (adaptiveness), der Verantwortlichkeit (accountability), der Verteilung (allocation) und des Zugangs (access). Diese werden mit vier übergreifenden Forschungsthemen verbunden: Macht, Wissen, Normen und Dimension. Darüber hinaus hat die ESG vier Fallstudienbereiche oder ‚Flaggschiffaktivitäten‘: Wasserversorgung, Ernährung, Klima und Wirtschaft. Ebenso wie das Anthropozän­Argument, mit dem die ESG verknüpft ist, lenkt sie von den historischen Spannungen zwischen Kapital und Arbeit, geografischem Zentrum und Peripherie, Produktion und Reproduktion ab. Durch die Naturalisierung menschgemachter Probleme verdrängen sowohl der Anthropozän­Ansatz als auch die ESG potenziell die soziale Verantwortung und verteidigen gleichzeitig den kapitalistischen Status quo.

Anfang der 1970er Jahre hatte der US­amerikanische Außenpolitikstratege George Kennan ein globales Managementgremium außerhalb der Vereinten Nationen gefordert. Unterstützung kam von der Mont Pelerin Society und der US Heritage Foundation, rechtsgerichteten Verfechtern von Individualismus, Privatwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit und Freihandel. Zum Teil als Reaktion auf diesen Aufruf wurde 1987 ein Weltwirtschaftsforum geschaffen, und auf dem Weltgipfel von Rio 1992 wurde ein Weltwirtschaftsrat für nachhaltige Entwicklung ins Leben gerufen. Die Rio-Agenda-21, das Übereinkommen zur biologischen Vielfalt und das Klimaschutzabkommen spiegeln diesen Zusammenhang wider. Bald darauf wurde bei der Weltbank die Global Environment Facility eingerichtet. In den späten 1990er Jahren kamen Vorschläge für eine World Environment Organization (Weltumweltorganisation), die neben der neoliberalen Welthandelsorganisation (WTO) agieren sollte, von Frankreichs Präsident Chirac und Bundeskanzler Kohl aus Deutschland, die von Brasilien, Singapur und Südafrika unterstützt wurden.

Während die europäischen Wissenschaftler*innen über die Erdsystem­Analyse sprachen, überprüfte das Potsdam Institut die rund 800 multilateralen Umweltabkommen (MEAs). Dabei ging es darum, dass das Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten (CITES – Convention on International Trade in Endangered Species), gefährliche Abfälle (Basler Übereinkommen), Ozonwerte (Montreal­Protokoll) und biologische Sicherheit (Cartagena­Protokoll) mit dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT – General Agreement on Tariffs and Trade) in Einklang gebracht wurden. Weitere wichtige Teilnehmer*innen am laufenden Dialog über umweltpolitische Steuerung sind die Internationale Handelskammer (ICC – International Chamber of Commerce), die Weltbank, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD – Organisation for Economic Co­operation and Development), die UNESCO, der Internationale Gewerkschaftsbund (ITUC – International Trade Union Confederation) und die New Economics Foundation (NEF). Seit der Finanzkrise 2008 hat die Green Economy Coalition (GEC – Koalition für eine grüne Wirtschaft) große NGOs aufgenommen.

Die Erdsystem­Governance­Forschung, die ihren Hauptsitz an der Universität Lund hat, wird vom Internationalen Programm für menschliche Dimensionen globaler Umweltveränderungen (IHDP – International Human Dimensions Programme on Global Environmental Change), der Universität der Vereinten Nationen und dem Internationalen Wissenschaftsrat (ICSU – International Council for Science) unterstützt und beteiligt aktiv akademische Zentren in aller Welt. Es scheint extrem gut finanziert zu sein, mit Sponsoren wie dem Potsdam Institut und der Volkswagen-Stiftung. Die ESG­Website stellt Projekte, Konferenzen und Veröffentlichungen vor. Ein zentrales Thema ist die Idee einer Weltumweltorganisation, die möglicherweise durch eine Aufwertung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP – United Nations Environment Programme) erreicht werden könnte, indem es mit Sanktionsmacht gegenüber den Nationalstaaten ausgestattet wird, wie sie die Welthandelsorganisation (WTO) hat. Alternativ dazu sehen einige ESG­Befürworter*innen die Internationale Arbeitsorganisation (ILO – International Labour Organization) als Vorbild; andere vertreten die Auffassung, dass eine Organisation, die zwischen Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften vermittelt, ungeeignet sei, komplexe Umweltkonflikte zwischen Akteur*innen mit unterschiedlichen kulturellen Interessen zu lösen. Neoliberale Innovationen wie öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP – Public Private Partnerships) liegen ebenfalls im Blickfeld der ESG­Forscher*innen.

Als 2012 der Rio+20­Gipfel stattfand, legte das ESG­Netzwerk einen Vorschlag für die Weltumweltorganisation zur Beratung vor. Dieser fiel mit einer von Unternehmen, Regierungen und der UNO geförderten Agenda für eine grüne Wirtschaft – ‚The Future We Want‘ (Die Zukunft, die wir wollen) – zusammen, die mit Hilfe von PR­Agenturen erstellt worden war. Die Bewegungen für soziale Gerechtigkeit und Ökologie begegneten diesem Vorschlag des Establishments mit einer globalen Vision unter dem Titel ‚Another Future Is Possible!‘ (Eine andere Zukunft ist möglich!). Mit den Worten von Via Campesina: „Wir fordern ein vollständiges Verbot von Geo­Engineering­Projekten und ­Experimenten unter dem Deckmantel der grünen oder sauberen Technologie … Wir kämpfen für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion in kleinem Maßstab für den gemeinschaftlichen und lokalen Verbrauch“. Im Jahr 2015 wurde die in den Millenniums­Entwicklungszielen der Vereinten Nationen verankerte Mission in eine Reihe von Zielen für eine nachhaltige Entwicklung (SDG) übertragen, welche die korporative Agenda der grünen Wirtschaft widerspiegeln.

Stimmen aus der Zivilgesellschaft wehren sich zu Recht gegen die Förderung von marktwirtschaftlichen Wertvorstellungen als Ordnungsprinzip für das tägliche Leben und die politische Entscheidungsfindung. Während sie Lippenbekenntnisse zum demokratischen Subsidiaritätsprinzip ablegen, kolonisieren kapitalistische Entwicklungsprojekte und der Freihandel Ressourcen, Arbeitskräfte und Märkte in der globalen Peripherie; wodurch Menschen lokale Lebensgrundlagen und kulturelle Autonomie verlieren. Top­down­Pläne für ‚nachhaltige Entwicklung‘ werden durch Ausbeutung getragen. Marktlogiken wie Zahlungen für Ökosystemleistungen (PES – Payments for Ecosystem Services) stellen einfach nur Opportunitätskosten für den Globalen Süden dar. Der berechtigte Grundsatz der „gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und der entsprechenden Kapazitäten“, der im ursprünglichen Kyoto­Vertrag verankert war, wird beiseite geschoben, während sich die internationalen Verhandlungen auf den Treffen zum UN-Rahmenabkommen zum Klimawandel (UN Framework Convention on Climate Change) hinziehen.

Mit ihren „5­A“ und der technisch­rechtlichen Konstruktion von Autorität auf mehreren Ebenen stellen die ESG einen hegemonialen Prozess dar, der von Veränderung spricht und dabei Hand in Hand mit den Mächtigen geht. Der Glaube, dass die Natur zum Nutzen des Menschen existiert, und die instrumental-rationalen Vorstellungen, dass sie kontrolliert werden kann, spiegeln die männliche Hybris wider, die aus der europäischen wissenschaftlichen Revolution hervorgegangen ist. Die Erdsystem-Governance und die Anthropozän­These verstärken diese Gewalt durch die Abstraktionen der Systemtheorie. Mit ihrem Wissensparadigma umgeht die ESG die kritische Wissenschaft ebenso wie bäuerliche, indigene und ökologisch­feministische Perspektiven, die auf der Arbeit zur Erhaltung lebendiger Prozesse basieren. Die heutige transnational herrschende Klasse mit ihren objektivierenden, vom Leben losgelösten Wissensformen kann nur eine Illusion von ‚Earth Governance‘ verbreiten. Eine post­entwicklungspolitische Antwort auf ökologische und soziale Krisen muss konkret, empirisch und demokratisch sein.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkung

[1] Die Erdsystemwissenschaft (…) ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Erforschung des „Systems Erde“ befasst. Als Erdsystem wird dabei die Summe physikalischer, chemischer, biologischer und sozialer Komponenten, Prozesse und Wechselwirkungen bezeichnet, die den Zustand und die Veränderungen des Planeten Erde beeinflussen. Für den aus dem amerikanischen Englisch kommenden Begriff Governance gibt es keine deutsche Entsprechung. Im politischen Umfeld ist der Ausdruck alternativ zum Begriff Government (Regierung) entstanden und soll ausdrücken, dass innerhalb der jeweiligen politisch­gesellschaftlichen Einheit Steuerung und Regelung nicht nur vom Staat (Erster Sektor), sondern auch von der Privatwirtschaft (Zweiter Sektor) und vom Dritten Sektor (Vereine, Verbände, Interessenvertretungen) durchgeführt werden. (vgl. wikipedia, 8.1.2023) (Anm. d. Übers.)

Weitere Quellen

Biermann, Frank / Steffen Bauer (2005), The Rationale for a World Environment Organization. In: Frank Biermann / Steffen Bauer (eds), A World Environment Organization: Solution or Threat for Effective International Environmental Governance. London: Ashgate.

Davos World Economic Forum Privatization Agenda, https://www.weforum.org/focus/davos-2018/ (abgerufen am 20.05.2023)

Earth System Governance, https://www.earthsystemgovernance.org/ (abgerufen am 20.05.2023)

La Via Campesina, www.viacampesina.org (abgerufen am 20.05.2023)

Salleh, Ariel (2015), Neoliberalism, Scientism, and Earth Systems Governance. In: Raymond L. Bryant (ed.), International Handbook of Political Ecology. Cheltenham: Edward Elgar.

Steffen, Will, Jacques Grinevald, Paul Crutzen and John McNeill (2011), The Anthropocene: Conceptual and Historical Perspectives, The Royal Society Publishing. 369 (1938): 842–67.

The Global Governance Project, www.glogov.org (abgerufen am 20.05.2023)

UNCSD­Rio+20(2012), TheFutureWeWant, https://sustainabledevelopment.un.org/content/documents/733FutureWeWant.pdf (abgerufen am 20.05.2023)


Ariel Salleh ist Aktivistin, Autorin von Ecofeminism as Politics: nature, Marx, and the postmodern (1997/2007) und Herausgeberin von Eco-Sufficiency and Global Justice: women write political ecology (2009). Sie war Gründungsredakteurin der US­-amerikanischen Zeitschrift Capitalism Nature Socialism, ist Honorarassistentin für politische Ökonomie an der University of Sydney, ist Senior Fellow an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Gastprofessorin an der Nelson Mandela University. Sie ist Mitglied der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung eingerichteten Ständigen Gruppe für Alternativen zur Entwicklung.

Der Originalartikel kann hier besucht werden