Nach dem Gipfeltreffen letzten Samstag, zu dem auch die Teilnehmer des über 1.100 km langen Friedensmarsches aus Maine stießen, und der zentralen Kundgebung am Sonntag, den beiden Hauptveranstaltungen der NO-NATO-YES-PEACE-Proteste, finden weiterhin vielzählige Friedensveranstaltungen verteilt über ganz Washington, D.C. statt. Und rund um den Globus sind Tausende, die die lange Reise nicht antreten konnten, nicht nur gedanklich, sondern auch mittels der vielfältig zur Verfügung gestellten Videos und Liveübertragungen hautnah und mit dem Herzen dabei. Mitten im Trubel Washingtons und trotz eines vollgepackten Zeitplans, nahm sich US-Oberst a.D. Ann Wright, die u.a. auch im NATO-Hauptquartier „Allied Forces Central Europe“ (AFCENT) in der Niederlande tätig war, reichlich Zeit, um mit mir dieses folgende Interview zu führen.

Liebe Ann, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview genommen hast.
Ann, Du dientest 29 Jahre lang in der US-Armee/Army Reserve und bist als Oberst in den Ruhestand getreten. Du verbrachtest außerdem 16 Jahre im diplomatischen Korps der USA und dientest in US- Botschaften in Nicaragua, Grenada, Somalia, Usbekistan, Kirgisistan, Sierra Leone, Mikronesien, Afghanistan und der Mongolei. Im März 2003 bist Du aus Protest gegen den US-Krieg gegen den Irak aus der US-Regierung ausgetreten. Seitdem setzt Du Dich für den Frieden ein. Dieses Jahr ist der 75. Geburtstag der NATO und wird in Washington mit hochrangigen Regierungs- und Militärbeamten gefeiert. Wie geht es Dir dabei, wenn die NATO ihre 75-jährige Geschichte feiert?

Vielen Dank, es ist mir eine Freude, bei Dir zu sein. Wie Du in Deiner Einleitung erwähnt hast, habe ich sowohl 29 Jahre lang im US-Militär gedient, bin als Oberst in den Ruhestand gegangen, als auch – eine meiner Verwendungen – ich war im NATO-Unterkommando „Allied Forces Central Europe“, das sich in den Niederlanden befindet. Ich habe die NATO also aus erster Hand kennengelernt. Und als US-Diplomat habe ich in Ländern gedient, in denen es NATO-Aktionen gab.

Und nach meinem Rücktritt vor 21 Jahren stehe ich der NATO und ihrem 75. Jahrestag sehr, sehr negativ gegenüber, denn die NATO scheint heute keine Kraft mehr für den Frieden, sondern eher eine Kraft für den Krieg zu sein. Und natürlich wird die NATO sagen: „Na ja, manchmal muss man einen Krieg führen, um Frieden zu bekommen. Man muss Sprengköpfe einsetzen und viele Menschen töten, um das Töten zu stoppen.“ Diese Logik finde ich sehr lästig und abstoßend. Und deshalb denke ich, dass wir zum 75. Jahrestag der NATO zurückblicken und schauen müssen, was die NATO in diesen 75 Jahren getan hat, und sehen und analysieren, wo daraus wirklich Frieden entstanden ist. Ein Frieden, der eigentlich durch Diplomatie hätte entstehen sollen und nicht durch militärische Aktionen, wie es bei der NATO üblich ist.

Ja, vielen Dank! Nun wurde diese Gegenveranstaltung von einer großen Allianz geplant, darunter viele Veteranen, Militärangehörige und Historiker mit einschlägiger militärischer und geostrategischer Erfahrung. Wie erklärst Du Dir, dass sich diese Menschen (Dich eingeschlossen) derzeit so vehement für Diplomatie, Waffenstillstände und Verhandlungen einsetzen, während Menschen mit weniger Erfahrung die Aufrüstung und damit Eskalations- und Bedrohungsszenarien weltweit vorantreiben?

Nun, das ist eine gute Frage. Und tatsächlich liegt die Antwort in der Frage. Weil es die Veteranen sind, die Menschen, die tatsächlich an Kriegen teilgenommen haben, die sagen: „Wir wollen es nicht mehr tun und niemand anderes sollte es tun.“ Weil die Konsequenzen, die wir aus erster Hand gesehen haben, so negativ sind. Es ist schrecklich, dass es einen besseren Weg geben muss, internationale Krisen zu lösen, dass das Erschießen von Menschen nicht der Weg ist, Krisen zu lösen. Und letztendlich sind es immer Verhandlungen und Worte, die Diplomatie, die eingesetzt wurden. Letztendlich wurde das Problem gelöst. Warum gehen wir also nicht direkt von der Krise zur Lösung des Problems mit nichttödlichen Mitteln über und lassen das Militär außen vor?

Der Friedensgipfel mit den Kernveranstaltungen vom 5. Mai bis 7. Juli begann schon sehr viel früher mit einem Friedensmarsch von Maine nach Washington und es folgen noch weitere verschiedenste Veranstaltungen. Kannst Du uns etwas mitnehmen und uns von Deinen Eindrücken erzählen? Gab es persönliche Highlights?

Ja! Wir waren so erfreut, dass Veterans for Peace beschlossen hat, dass die Organisation einen Marsch sponsern würde, die von der Nordspitze der Vereinigten Staaten über die gesamte Ostküste bis nach Washington, D.C. führte. Es war eine Reise, die 60 Tage lang dauerte und während dieser 60 Tage hielten die Demonstranten jeden Abend in einer anderen Stadt an und lokale Organisatoren veranstalteten in der Stadt Veranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen. Sicherlich war die NATO eines der Themen, aber es ging um die zunehmende Militarisierung unserer US-amerikanischen Gesellschaft und dann um die Einbeziehung in den damit verbundenen Kontext der ganzen Welt. Also hielt die Gruppe in Städten an, die stark militärisch involviert sind, und manchmal handelt es sich tatsächlich um aktive Militärangehörige, oder es handelt sich möglicherweise um Kriegsvereinigungen, also um die Konzerne, die die Waffen herstellen, mit denen Menschen auf der ganzen Welt getötet werden. Also den ganzen Weg hinunter von Maine durch Connecticut, Massachusetts, von Mainte nach New York, hinunter durch New Chersea, Maryland und schließlich nach Delaware. Das ist die Heimat von Präsident Biden. Sie hielten in Delaware und dann weiter nach Washington, D.C. Sie marschierten nicht etwa 12 Stunden am Tag. Es handelte sich um einen symbolischen Marsch, der normalerweise 3 bis 5 und manchmal bis zu 8 Meilen pro Tag zurücklegte. Aber weißt Du, als das Wetter kälter wurde – oder sie begannen bei kaltem Wetter – und es dann immer heißer wurde, weil viele der Demonstranten älter waren, war es die Symbolik, zu marschieren und dann die Veranstaltungen in den örtlichen Gemeinden abzuhalten. Das war das Wichtigste.

Wow, sehr schön! Leider wurde in unseren Medien bisher nicht darüber berichtet, obwohl die Medien voller Berichte über den NATO-Gipfel sind. Die Tausenden Menschen des Friedens werden immer noch kategorisch ignoriert. In Deutschland veränderte sich die mediale Berichterstattung signifikant und wurde am 24. Februar 2022 fast schlagartig eingeschränkt. Sie verabschiedete sich weitgehend von seriösen, d. h. sachlichen, kritischen (d. h. alle Aspekte beleuchtenden) und faktenbasierten Berichten zugunsten einer emotionalen und einseitigen parteiischen Berichterstattung. Dabei werden auch viele wesentliche Aspekte ausgeklammert, die nicht zum vereinfachten Schwarz-Weiß-Narrativ passen. Was ist Deiner Meinung nach die Ursache für diese Einseitigkeit und wie beurteilst Du die mediale Berichterstattung der Leitmedien in den USA – zu Eurem Gipfel und zu den Kriegen in der Ukraine und Israel ganz allgemein?

Nun, die Medien in den Vereinigten Staaten – und eigentlich auch international – stehen der Propaganda der Regierungen völlig einseitig gegenüber. Hier in den Vereinigten Staaten war es für uns unmöglich, eine landesweite Medienberichterstattung über unseren sehr wichtigen Gegengipfel zu bekommen. Wir hatten einige unabhängige Journalisten, die kamen und letztendlich darüber berichten werden, aber keiner der großen Fernsehsender und Websites berichtete überhaupt darüber. Wir waren nicht schockiert, denn darüber berichten die US-Medien nicht. Es handelt sich um Medien, die tragischerweise von der US- Regierung gekauft werden und das berichten, was die US-Regierung für wichtig hält, und nicht darüber, worüber die Öffentlichkeit Bescheid wissen sollte. Daher verlassen wir uns in hohem Maße auf die internationale Berichterstattung – Du weißt schon schon, bei verschiedenen Themen, beispielsweise bei der Berichterstattung von Aljazeera über den Krieg und den israelischen Völkermord in Gaza. Wir haben einige unabhängige Gruppen wie Mondoweiss oder Palestine Eye und ähnliches. Aber sie sind in der medialen Berichterstattungsszene sehr, sehr klein. Einerseits erhalten wir also manchmal mehr internationale Berichterstattung. Wir hatten am Sonntag tatsächlich mehr internationale Reporter zu unserer Kundgebung im Weißen Haus – wir hatten absolut keine Berichterstattung in den US-Medien über die Kundgebung im Weißen Haus aus den Vereinigten Staaten. Aber wir hatten zwei Fernsehsender aus der Slowakei und einen aus Finnland. Das war also die einzige Medienberichterstattung, die wir an diesem Tag bekamen.

Es ist also genauso wie in Deutschland. Wir trafen uns letztes Jahr auf dem Friedensgipfel in Wien und ich sprach mit Dir über den Prozess von Friedensverhandlungen. Du hast auf die bereits bestehenden UN-Leitlinien für Waffenstillstandsabkommen verwiesen mit der Betonung darauf, dass es zwei unterschiedliche Verhandlungsphasen gibt: die erste – und alles andere als triviale – für einen stabilen Waffenstillstand als Grundlage für die zweite für einen dauerhaften Frieden. Da die erste Phase durchgängig ausgeklammert wird, hast Du in einem Artikel noch einmal explizit darauf hingewiesen und die Schritte ausführlich erläutert.

Nun gibt es aktuelle Ereignisse, die darauf hindeuten, dass die erste Phase der Verhandlungen für einen Waffenstillstand begonnen haben könnte: z.B. Putins Angebot, einen Waffenstillstand auszuhandeln, und vorgestern Russlands Friedensplan mit dem Vorschlag, die Krim gemeinsam zu verwalten, Orbans Reise nach Kiew und Moskau mit dem Hauptanliegen eines Waffenstillstands, Glavchevs Angebot, auf dem NATO-Gipfel Bulgarien als Vermittler für Friedensgespräche vorzuschlagen oder Selenskyjs rhetorische Abkehr von der Maximalforderung, der Wiederherstellung der Grenzen von 1991. Wie ordnest Du diese Vorgänge ein? Sind sie ein Zeichen dafür, dass wir uns in die erste Phase begeben, oder sind sie wieder nur ein Strohfeuer?

Nun, wir hoffen auf jeden Fall, dass sie ein Indikator dafür sind, dass wir hier vorankommen. Aber da es festgefahren ist und offenbar die USA dabei zusehen, wie die Ukraine bis zur letzten Person kämpft, bin ich mir nicht wirklich sicher, ob diese sehr wichtige Initiative der Russischen Föderation irgendwohin führen wird. Jeffrey Sachs hat einen hervorragenden Artikel geschrieben, in dem es darum geht, wie oft die Russische Föderation Vorschläge für Friedensgespräche und Verhandlungen gemacht hat. Und jedes Mal wurden sie von den Vereinigten Staaten abgelehnt und dann von der Ukraine zurückgewiesen. Obwohl es sich also um einen sehr detaillierten Vorschlag handelt, der mit allen Hauptakteuren hier in Washington sehr leicht zustande kommen könnte, bin ich keineswegs sicher, dass die Vereinigten Staaten diesen Vorschlag aufgreifen werden. Präsident Selenskyj ist hier in Washington und es wird Nebentreffen der Vereinigten Staaten mit ihm geben, aber ich bin überhaupt nicht sicher, ob die Vereinigten Staaten damit vorankommen werden. Tragischerweise! Denn das bedeutet, dass in der Ukraine und in Russland immer mehr Menschen getötet werden. Und es ist ein schrecklicher Indikator dafür, wie kriegerisch die Vereinigten Staaten weiterhin sind.

Oh, das ist so traurig. Ich hatte gehofft, dass du bessere Neuigkeiten hättest.
Die Botschaft des NATO-Gipfels in Vilnius lautete: „Zuerst die NATO, dann die Ukraine.“ Die Ukraine sollte nur dann Mitglied werden, wenn sie kein Bündnisfall mehr für die NATO sein kann – also niemals.
Selenskyj war sichtlich verärgert und nannte es „beispiellos und absurd“. Der Beitritt würde die NATO schwächen, sodass es zu einem Zielkonflikt kam und die NATO beschloss, sich zu stärken. In Artikel 1 der Abschlusserklärung heißt es: „Dieser Gipfel markiert einen Meilenstein bei der Stärkung unseres Bündnisses.“ Darum geht es also. Die entscheidende Frage lautet also heute: Geht es noch um die Ukraine oder nur noch um die NATO? Welche Interessen verfolgt die NATO (bzw. die sie dominierenden USA) vorrangig und gibt es eine neue geostrategische Ausrichtung?

Nun, Präsident Zelenski war vor einem Jahr verärgert und ist immer noch verärgert. Die Zahl der NATO- Staaten, die weiterhin Waffentransfers in die Ukraine durchführen, ist immer noch groß. Aber er kann sehen – und die Welt kann sehen –, dass sich die NATO verlagert, von Europa nach Asien und in den Pazifik. Ich lebe auf Hawaii und im Moment finden dort die Übungen der Pazifikflotte statt, die größte Seekriegsübung der Welt. Und es nehmen 29 Länder teil, 8 davon sind NATO-Mitglieder. Die NATO rückt also in den Pazifik vor. Und ihre Partnerschaften, die sie mit Kolumbien hatten – jetzt haben sie sie mit Südkorea, Japan, Australien, Neuseeland. Es zeigt, dass die NATO nicht nur eine europäische oder nordamerikanische Organisation ist, sondern definitiv das, was wir nennen: globale NATO. Und das ist für uns alle eine sehr besorgniserregende Entwicklung. Dieses Militärbündnis denkt nun, es sei ein Bündnis für jede Krise überall auf der Welt.

Das betrifft direkt schon meine nächste Frage, Du hast sie schon fast beantwortet. Aber ich werde sie lesen: Kaum wahrgenommen in Europa, dessen Aufmerksamkeit von den Kriegen in der Ukraine und in Israel absorbiert wird, ist die Lage in Ostasien angespannt wie nie zuvor. Es findet eine langsame geopolitische Revolution statt – die NATO, die einst auf den Atlantik konzentriert war, wendet sich dem Pazifik zu. Die nordkoreanische Nachrichtenagentur KNCA schrieb: „Der „Streitwagen“ der NATO rast in Richtung Asien- Pazifik.“ Und der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, sagte: „Wir haben gesehen, was die NATO in Europa getan hat. Sie sollte jetzt nicht versuchen, Chaos hier im asiatisch-pazifischen Raum oder anderswo auf der Welt zu verursachen.“ Chinas Verteidigungsministerium warf der NATO Kriegstreiberei vor. Wu Qian sagte: „Man kann mit Recht sagen, dass die NATO wie eine wandelnde Kriegsmaschine ist. Wohin sie auch geht, es wird Instabilität geben.“ Anlässlich des 75-jährigen Bestehens der NATO – was hältst Du von dem Schritt, den Einflussbereich der NATO auf den Indopazifik auszudehnen? Wie soll die anhaltende Multipolarität der Welt organisiert werden?

Nun, wie ich bereits erwähnt habe, können wir mit Sicherheit sagen, dass die NATO auf dem direkten Weg ist, ein globales Militärbündnis zu werden. Ich möchte zu dem, was ich zuvor erwähnt habe, hinzufügen, dass wir große Besorgnis darüber haben sollten, was die NATO-Länder im Zusammenhang mit dem israelischen Völkermord in Gaza und den Waffenlieferungen vieler NATO-Länder an Israel tun. Es sind nicht nur die Vereinigten Staaten, die Waffen an Israel liefern, obwohl wir eine große Anzahl davon liefern, sondern auch Deutschland liefert Waffen. Und tatsächlich wurde die deutsche Regierung von der nicaraguanischen Regierung wegen ihrer Mitschuld am Völkermord, den die Israelis in Gaza begehen, verklagt. Es ist sehr, sehr beunruhigend, dass wir die NATO-Länder – sei es unter dem Namen des Bündnisses oder weil sie sowieso alle verbündet sind, und insbesondere, wenn die USA einen Befehl erteilen – unterstützen müssen. Wir müssen die Ukraine unterstützen, wir müssen Israel unterstützen, damit plötzlich alle diese Länder den Befehlen der Vereinigten Staaten folgen und diese Waffen für weitere Konflikte einsetzen.

Im November wurde ich als Sachverständige zum Thema Waffentransfers in den UN-Sicherheitsrat berufen. Und das ist die Zusammenfassung dessen, worüber ich gesprochen habe: Solange Länder unter der Führung der USA weiterhin Waffen in diese Konflikte transferieren, werden die Konflikte weitergehen. Die einzige Möglichkeit, ein endgültiges Ende der Konflikte herbeizuführen, besteht darin, den Transfer dieser Waffen zu stoppen. Und der UN-Sicherheitsrat wollte Informationen über Transfers in die Ukraine. Ich habe mir erlaubt, über die Waffentransfers der Vereinigten Staaten und anderer Länder nach Israel zu sprechen, die den israelischen Völkermord in Gaza verlängerten und auch neun Monate später noch verlängern.

Die NATO-Russland-Grundakte von 1997 hatte das vorrangige Ziel, durch vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis in einem gemeinsamen Sicherheits- und Stabilitätsraum zu schaffen. Beispielsweise sollten in den neuen Bündnisstaaten keine militärisch bedeutsamen NATO-Kampftruppen und andere nicht dauerhaft stationiert und auf Atomwaffen verzichtet werden. Heute sind allein tausende Bundeswehrsoldaten dauerhaft in Litauen stationiert. Und Präsident Andrzej Duda erklärte kürzlich, dass Polen bereit sei, Atomwaffen der NATO zu stationieren.
Ich habe 2 Fragen dazu: Unter diesen Umständen: siehst Du irgendeine Möglichkeit, wie man aus der Eskalationsspirale ausbrechen und zum ursprünglichen, umfassend definierten Sicherheitsbegriff zurückkehren könnte? Und falls ja, was wäre dafür nötig und welche realpolitischen Schritte müssten unternommen werden?

Es ist schrecklich, was in Bezug auf die Ausweitung der US- und NATO-Streitkräfte in Polen und Rumänien passiert. Der größte US-Militärstützpunkt in Europa befindet sich jetzt nicht mehr in Deutschland, wo er sich jahrzehntelang befand, sondern jetzt in Polen. Die Ausweitung des US-Militarismus in Europa schreitet also rasant voran. Und die Zahl der militärischen Kriegsübungen, Bodenübungen, nimmt zu. Die größten Verteidigungsübungen alle zwei Jahre finden in Europa statt. Die Zahl der US-Militärs und NATO- Militärs, die direkt an der Grenze der Russischen Föderation üben, bereitet Präsident Putin auf jeden Fall Sorgen, wie es uns allen Sorgen bereiten sollte. Denn wenn die NATO ihre Kriegspraxis genau an dieser Grenze durchführt, dann ist das einzig Logische, was die Russische Föderation tun kann, sich vor einer möglichen Invasion zu schützen, auch wenn die NATO und die USA sagen würden: „Oh, wir reden doch nicht von einer Invasion, wir üben nur.“ Aber wem hörst Du zu? Aber wenn die Russische Föderation dann Schritte unternimmt, um sich zu schützen, dann heißt es: „Oh, die Russen bereiten sich darauf vor, alle anderen zu überfallen.“ Und das wird von den baltischen Staaten genutzt, um zu sagen: „Wir sind die ersten, die überfallen werden, und deshalb müssen wir unser Militär verstärken und der NATO erlauben, in unseren Ländern alle möglichen Kriegsspiele durchzuführen.“ Damit wurde das gesamte Konzept von vor 40 Jahren über den Haufen geworfen. Es ist kein kalter Krieg mehr, es ist ein heißer Krieg, der weitergeht. Es ist eine heiße Situation, die durch einen Fehleinschätzungsfehler sehr leicht in einen ausgewachsenen Militärkrieg münden könnte.

Schrecklich! Und absurd, wegen NATO-Artikel 5.
Diese groß angelegte Aufrüstung, die Militarisierung der Gesellschaft und auch der erforderliche „Mentalitätswechsel“ einschließlich der Rekrutierung Jugendlicher basiert auf der immer wiederkehrenden Behauptung, Putin habe (Zitat) „klar gesagt“, dass sie nach der Ukraine weitere europäische Länder angreifen würden. Wäre die Forderung nach einem endgültigen Beweis dieser Behauptung ein erster Schritt zur Deeskalation (wir versuchen das derzeit im Bundestag, haben aber weniger Hoffnung) oder wie können wir Deiner Meinung nach mit Fakten durchdringen? Ich möchte hinzufügen: Es gibt noch andere unbewiesene Vorwürfe oder sogar Geheimhaltung, wie zum Beispiel zum Nord-Stream-Angriff. Dies war ein Angriff auf unsere Nationale Sicherheit, aber unsere Regierung dreht den Spieß um und sagt, dass Informationen darüber unsere Nationale Sicherheit beeinträchtigen. Unterdessen haben die Nato-Mitglieder Dänemark und Schweden die Ermittlungen eingestellt. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass „Freundschaft“ in außenpolitischen Beziehungen oder sogar in der NATO relativ ist, nicht wahr?

Nun, es gibt sicherlich eine Menge Propaganda, die jedes der Länder verbreitet. Und diese ganze Behauptung, die Russische Föderation sei bereit, bis zum Atlantik in Europa einzumarschieren, ist Unsinn. Ich meine, das ist reine Propaganda. Es ist so gefährlich für die internationalen Beziehungen, was einige Regierungen, darunter auch die Vereinigten Staaten, verbreiten. Ich meine, dieser schreckliche Vorfall, die Explosion der Nord Stream-Pipelines, wurde nicht offiziell untersucht und über die Ergebnisse der Untersuchung wurde nicht öffentlich berichtet. Und die schriftlichen und mündlichen Vermutungen, die Regierungen haben, dass es nicht so war – ich schätze, es heißt, dass es Russland war, das seine eigenen Pipelines in die Luft gesprengt hat. Wie lächerlich ist das? Und wer hat von der Explosion profitiert? Es war sicherlich Russland, das damit Geld verdiente. Wer es in die Luft gesprengt hat, wollte sicherstellen, dass die Russische Föderation damit kein Geld verdient. Und eines ihrer wichtigsten Mittel für Finanztransaktionen, der Verkauf von Gas und Öl an europäische Länder, wird zu einer der wichtigsten Sanktionen gegen Russland. Und den Betrieb dieser Pipeline zuzulassen, war aus Sicht der USA – vor allem der Vereinigten Staaten – ein Verstoß gegen die Sanktionen. Was nun andere Länder betrifft, die von der Versorgung mit billigerem Erdgas und Erdöl profitierten, würden wir uns fragen: Warum sollten sie ihre Quelle für billigeren Treibstoff in die Luft jagen wollen? Es gibt also keine Anzeichen dafür, dass Russland die Sache in die Luft gejagt hat – ich meine für uns als Amateurdetektive. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Doch jetzt wurden, wie Du erwähnt hast, die Ermittlungen eingestellt, obwohl ich sagen würde, dass sie genau wissen, was passiert ist. Sie machen es einfach nicht öffentlich, wer es tatsächlich getan hat.

Du setzt Dich jetzt seit über 20 Jahren für den Frieden ein. Kannst Du uns etwas über Deine alltägliche Friedensarbeit erzählen? Spürst Du eine Veränderung seit der Eskalation in der Ukraine und vielleicht auch nach der Eskalation im Nahen Osten und welche Stimmen erreichen Dich, was sind deren Kernanliegen? Und gerade jetzt im Zusammenhang mit dem Friedensgipfel: Wie sieht Dein bisheriges Resümee aus und wie blickst Du in die Zukunft?

Nun ja, ich bin seit meinem Rücktritt im Jahr 2003, also seit 21 Jahren, Teil der Friedensbewegung. Ich bin wegen des Irak-Krieges zurückgetreten. Es gab eine große Mobilisierung gegen den Irak-Krieg und in gewissem Maße auch gegen den anhaltenden Krieg in Afghanistan. Und dann gab es so etwas wie einen Tiefpunkt. Aber die Entscheidung der Russischen Föderation, in Teile der Ukraine einzumarschieren, erklärend, dass die Ukraine die rote Linie überschritten habe, die sie in den Verhandlungen über den Beitritt zur NATO und die Behandlung russischsprachiger Menschen in der Donbass-Region hatten. Ich meine, all das sind sicherlich Bereiche, die Anlass zur Sorge geben, aber das rechtfertigt überhaupt nicht meine Meinung, die russische Entscheidung, den Krieg gegen das ukrainische Öl zu führen. Und für uns in den USA gibt es sicherlich eine große Anzahl von US-Bürgern, die sagen: „Natürlich muss sich die Ukraine verteidigen, die USA müssen der Ukraine zu Hilfe kommen.“ Und wir versuchen, diesem Narrativ entgegenzuwirken, indem wir – ich meine, ich stimme zu, sie haben das Recht, sich gegen jede Invasion zu verteidigen – aber versuchen, die Probleme des NATO-Beitritts, einer besseren Behandlung der Menschen im Donbass zu lösen, Sachen wie diese. Dies mit nichtmilitärischen Mitteln zu tun ist der richtige Weg, worum es eigentlich in den Minsk-I- und Minsk-II-Abkommen ging. Diese wurden in großem Umfang von den USA und Großbritannien torpediert. Die Mobilisierung im Ukraine-Krieg hatte also eine gewisse Wirkung, auch wenn sie, würde ich sagen, eine entscheidende Wirkung auf die Friedensbewegung in den Vereinigten Staaten hatte. Denn viele Leute in der Friedensbewegung sagen: „Ja, die Ukraine muss sich verteidigen und ja, es sollte Verhandlungen geben. Andere sagen: „Lasst uns jetzt gleich mit den Verhandlungen beginnen.“

Und zum Thema des Völkermords in Gaza: Das hat wahrscheinlich dazu geführt, dass mehr Menschen daran arbeiten, einen Waffenstillstand und eine Lösung der Probleme zu erreichen. Und trotz der großen Zahl von Menschen weltweit, die gesagt haben: „Es muss einen Waffenstillstand geben, es muss Verhandlungen geben“, unterstützt die US-Regierung weiterhin die zionistische israelische Kriegsregierung und ihren Völkermord an den Menschen in Gaza.

Und seit November sind wir jeden Tag im US-Kongress. Wir hatten Hunderte von Menschen im US- Kongress. Jeden Tag waren zwischen 10, 20 und 50 Leute da, die in 15, 20, 30 Büros sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat gingen, um die Kongressabgeordneten zu bitten, einen Waffenstillstand zu unterzeichnen und nicht für weitere Waffen zu stimmen nach Israel. Und doch haben wir bisher nur 80, Kongressabgeordnete, die einen Waffenstillstand gefordert haben – von 535. Der Kongress setzt also auf Unterstützung für Israel, weil die meisten Kongressabgeordneten Zahlungen von zionistischen Organisationen wie AIPAC erhalten, der American Israel Public Affairs Community. Und sie wissen, dass sie während der Wahlen leiden werden, weil Millionen von Dollar in den Wahlkampf gesteckt werden, um sie aus dem Kongress zu werfen. Es ist also so schwierig, wenn man mit eigenen Augen sieht, dass ein Völkermord stattfindet, und man kann seine eigene Regierung, unsere US- Regierung, nicht dazu bringen, die Finanzierung Israels einzustellen und dem Staat Israel zu drohen, zu sagen: „Wenn Ihr das nicht stoppt, werden wir auf Abstand gehen, wir werden Sanktionen gegen Euch verhängen, wir werden alles tun, was wir tun können, damit ihr aufhört, Palästinenser zu töten, sowohl in Gaza als auch im Westjordanland. Und stoppt die Siedlungen, die weiterhin auf palästinensischem Land anwachsen.“

Während wir also die großen Mobilisierungen durchführen, hat Joe Biden schließlich gesagt: „Ja, es muss einen Waffenstillstand geben und ja, es muss Verhandlungen geben.“ Aber es dauerte sieben Monate, bis er das Wort Waffenstillstand aussprach. Und in diesem Zeitraum wurden über 20.000 Palästinenser getötet. Und außerdem wissen wir, dass Zehntausende immer noch unter den Trümmern liegen, zu denen niemand gelangen kann.

Es ist so grausam! Und wie Du sagtest, es geht nur ums Geld, nicht um Leben. – Nein, es geht ums Geld. –

Grausam! Dann… – vielleicht etwas Positives, meine letzte Frage: Du (wie wir alle) sagst: NEIN zur NATO, JA zum FRIEDEN! Wenn Du einen Moment träumen dürftest: Wie würde eine Welt ohne NATO aussehen?

Nun, eine Welt ohne NATO würde so aussehen, als hätten alle Länder, die die NATO gründen, bessere Gesundheitssysteme, bessere Bildungssysteme und bessere Leistungen für ihre Bürger. Denn Geld, das jetzt für Militärwaffen ausgegeben wird, würde jetzt dafür ausgegeben, das Leben ihrer Bürger zu verbessern. Ich denke, es wäre eine sehr positive Welt, wenn wir das Geld, das in die NATO fließt, für wirklich lebenswichtige Dinge für die Menschen verwenden könnten. Das würde die Welt viel sicherer und lebenswerter machen. Und Mutter Erde würde sich dadurch viel besser fühlen. Denn ich denke, Mutter Erde sagt uns jetzt immer und immer wieder, dass sie all diese Kriege und alle Umweltauswirkungen von Kriegen nicht dulden wird. Und sie wird Maßnahmen gegen uns ergreifen und den Klimawandel, die diesen Planeten für uns Menschen unerträglich machen – und uns loswerden wollen, wenn wir nicht in der Lage sind, uns um sie, Mutter Erde, zu kümmern.

Ja, genau, wie schön! Vielen Dank für das Interview und die Zeit, die Du Dir genommen hast.

Es ist mir eine Freude, bei Dir zu sein, vielen Dank.

Das Interview führte Tanja Stopper, technisch unterstützt von Kristine Karch. Erstveröffentlichung bei: friedenunddiplomatie.de

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