Das nomadische Jahrhundert. Wie die Klima-Migration unsere Welt verändern wird.
Mit apokalyptischen Szenarien zu drohen, welche die Zukunft der Menschheit in düstersten Farben ausmalen, mahnt zwar demonstrativ das Schließen des Tores vor der Gefahr an, öffnet aber zugleich die Hintertür sperrangelweit zum Fluchtversuch. Im biblischen Kontext mündet die Menschheitsgeschichte in eine globale Vernichtung, doch werden die Auserwählten errettet, um inmitten des Heulens und Zähneknirschens an der Tafel des Herrn zu speisen. Was könnte nachhaltiger ergötzen, als es sich im Angesichte allseitigen Elends und Sterbens gut ergehen zu lassen! So hausiert die endzeitliche Dystopie des Jenseitsversprechens mit einem goldenen Ausweg, der einer Elite offensteht, die den ihr zustehenden Ewigkeitslohn am Ende einfährt. Genährt wird die Hoffnung, es bleibe noch eine beträchtliche Frist, bis es wirklich ernst wird, gepaart mit der Perspektive, ein Entkommen könne selbst inmitten der Katastrophe gelingen, sofern man sich nur auf die richtige Seite schlägt.
Die Apokalypse kann folglich nur eine Perspektive jener Teile der Menschheit sein, die sich in Sicherheit wähnen und bestenfalls um ihre Pfründe sorgen. Für die Verdammten dieser Erde hingegen ist längst und immer schon eingetreten, womit die vier Reiter den Erdkreis heimsuchen. Die Rede ist von dem Schmerz, der den Aufstieg der Menschheit zur alles zerstörenden Spezies, die wie keine andere auch unter ihresgleichen wütet, von Anbeginn geprägt hat. Um diesen Schmerz zu identifizieren und zu konfrontieren, könnte es hilfreich sein, das Tafeln der Auserwählten als Inbegriff höchsten Genusses zu Rate zu ziehen. Ihr erhebendes Glück speist sich aus dem Verhängnis der anderen, womit sich als Quelle und Maßstab jeglichen Wertes der Unwert erschließt, den dieses Vorteilsstreben zu schaffen trachtet. Es geht also nicht um einen bloß ungleichen Zugang zu Ressourcen aller Art, der auf dem Wege einer gerechten Verteilung ins Lot zu bringen wäre. Aufzubrechen ist vielmehr die Verfügungsgewalt einer räuberischen Existenz- und Wirtschaftsweise, welche die Natur ausplündert und menschliche Arbeitskraft ausbeutet.
Was nun die angesichts der hereinbrechenden Klimakatastrophe ausbleibenden oder ungenügenden Kurskorrekturen betrifft, reicht es demnach nicht hin, mangelnde Einsicht, Vernunft oder Entschlossenheit machtrelevanter Handlungskomplexe zu beklagen und anzuprangern. Sie setzen die Ratio ihrer Klasse durch, die globalen Verwerfungen abzuwettern und womöglich als Krisengewinner aus ihnen hervorzugehen. Mehr denn je forcieren sie die Unterjochung und Vernichtung all jener, die sie im Elend gefangen halten, um sich ihrer zu bedienen oder sie als überflüssig zu entsorgen. Dies soll hier am Beispiel der Klima-Migration erläutert werden. Gelingt es nicht, die Erderwärmung zu bremsen, wie sich dies bislang in aller Deutlichkeit abzeichnet, werden Milliarden von Menschen gezwungen sein, ihre lebensfeindliche Heimat zu verlassen und verzweifelt in jene Regionen zu drängen, in denen ein Überleben noch möglich scheint. Dann kehren Krieg und Zerstörung auf breiter Front dorthin zurück, wo sie zumeist ihren Ausgang genommen haben.
Legt man die gegenwärtige Abschottungspolitik der reichen Länder zugrunde, deutet nichts auf eine Wende in diesem Krieg gegen fliehende Menschen hin, der im Gegenteil weiter verschärft wird. Zentrale Strategie der EU ist seit langem, die Flüchtlingsabwehr mittels Geldzahlungen an die Türkei und die Staaten Nordafrikas vorzuverlagern. Dabei werden repressive Regime unterstützt, die grausame und blutige Arbeit der Abschreckung, Gefangennahme, Misshandlung und Zurückdrängung von Flüchtlingen zu übernehmen. Deren weltweite Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren auf schätzungsweise 114 Millionen Vertriebene verdoppelt und übersteigt damit sogar die des Zweiten Weltkriegs.
In Genf kam dieser Tage zum zweiten Mal nach 2019 das Globale Flüchtlingsforum der UN mit Vertretern aus über 100 Ländern zusammen, um finanzielle Unterstützung für jene meist armen Nachbarländer zu mobilisieren, in denen das Gros der Vertriebenen landet. Mehr als zwei Drittel der Aufnahmestaaten gehören nicht dem reichen Norden an, der laut lamentiert, das eigene Boot sei voll. [1] Das Forum geht auf den „globalen Pakt für Flüchtlinge“ zurück, den die UN-Generalversammlung 2018 verabschiedet hat. Dieses Versprechen der Staaten, die Aufnahme von Flüchtlingen weltweit zu verbessern und die Kosten angemessen zu verteilen, scheitert bislang größtenteils an einer dramatischen Unterfinanzierung. Die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze erklärte dennoch vor Ort, Deutschland habe ein Interesse daran, dass die Menschen in der Nähe ihrer Heimat bleiben können und nicht weiter fliehen müssen. Dass Europas Mauern und Stacheldraht immer öfter im Süden selbst errichtet werden, erwähnte Schulze nicht. Und ebenso wenig berichtete sie, dass auch eine mit der russischen Söldnergruppe Wagner in Verbindung stehende libysche Miliz daran beteiligt ist, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer einzufangen und nach Libyen zurückzutransportieren. Bisher war bekannt, dass die von der EU und Italien ausgebildete und ausgestattete libysche Küstenwache dies tut. Auch die dem General Haftar unterstehende und als Foltertruppe bekannte Tareq-bin-Zeyad-Brigade aus Bengasi fängt mit Unterstützung von Frontex Flüchtlingsboote ab, deren Insassen ebenfalls in Libyen eingesperrt und misshandelt werden.
Unterdessen debattierte die französische Nationalversammlung den Entwurf eines Einwanderungsgesetzes, das unter anderem Abschiebungen erleichtern soll. Dies soll auch Menschen, die bei ihrer Ankunft in Frankreich jünger als 13 Jahre alt waren, sowie ausländische Eltern französischer Kinder betreffen. Präsident Emmanuel Macron hatte ursprünglich ein Gesetz angekündigt, das sowohl die Integration von Migranten fördern als auch das Abschieben erleichtern sollte. Ein Bündnis aus rechten Parteien und Grünen wies das Vorhaben allerdings vorerst ab. Einen Tag später warb in Großbritannien Premier Rishi Sunak für Zustimmung zum neuen Asylgesetz. Er forderte die Abgeordneten auf, „das härteste Gesetz gegen illegale Einwanderung zu unterstützen, das es je gab“. Der Gesetzentwurf soll den Plan wiederbeleben, Asylbewerber ins ostafrikanische Ruanda abzuschieben, welchen das Oberste Gericht im November blockiert hatte.
Eine wachsende Zahl europäischer Politiker, darunter auch der Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Joachim Stamp, prüft derzeit Möglichkeiten, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern. Die CDU will eine entsprechende Forderung in ihr neues Grundsatzprogramm aufnehmen. Die EU berät bereits seit 2014 eine Reform des Gemeinsamen Asylsystems, wobei nun unter anderem ein Konzept zu Schnellverfahren in geschlossenen Lagern an den EU-Außengrenzen auf dem Tisch liegt. Die spanische Ratspräsidentschaft schlug vor, auch Minderjährige ab sechs Jahren diesem Verfahren zu unterziehen. Die Grünen lehnten die Schnellverfahren, die Deutschland 2019 ins Spiel gebracht hatte, lange kategorisch ab. Doch im Frühsommer stimmte Deutschland im Rat den Kommissionsvorschlägen zu. [2] Die Front der reichen Länder gegen geflohene Menschen wird repressiv ausgebaut, um diese möglichst weit von der EU fernzuhalten.
Migration – Nicht das Problem, sondern die Lösung?
Gaia Vince hat Physik und Chemie wie auch Ingenieurwissenschaften und Journalistik studiert. Die Umwelt- und Rundfunkjournalistin sowie Sachbuchautorin mit britischer und australischer Staatsbürgerschaft schreibt für BBC Online, The Guardian, New Scientist, Australian Geographic und Science. Sie produziert und präsentiert Dokus für Rundfunk und Fernsehen wie BBC Inside Science und hält Vorträge in aller Welt. Zuvor war sie in den Redaktionen der Wissenschaftsjournale Nature, Nature Climate Change und New Scientist tätig. Mehrere ihrer Arbeiten gewannen internationale Preise.
Vince beschäftigt sich insbesondere mit den Wechselwirkungen zwischen menschengemachten und planetaren Systemen. Klimawandel, Globalisierung, Kommunikationstechnologie und eine rasant wachsende Bevölkerung verändern ihres Erachtens die Welt heute schneller und weitreichender als je zuvor. Im Zuge ihrer weltweiten Forschungen hat sie mehr als 60 Länder besucht, in dreien gelebt und wohnt derzeit in London. Eine zweieinhalb Jahre währende Reise schuf die Grundlage für ihr erstes Buch „Adventures in the Anthropocene: A Journey to the Heart of the Planet“, das 2015 mit dem Royal Society Winton Prize for Science Books ausgezeichnet wurde, den damit erstmals einer Frau erhielt. Sie diskutiert darin jene Epoche, in der menschliche Aktivitäten begannen, einen signifikanten Einfluss auf die Ökosysteme der Erde auszuüben. Ihr zweites Buch „Transcendence: How Humans Evolved Through Fire, Language, Beauty, and Time“ ist 2019 erschienen und beschreibt die gemeinsame Evolution von Biologie, Umwelt und Kultur bei der Entwicklung des Menschen. [3]
In ihrem 2022 erschienenen Buch „Das nomadische Jahrhundert. Wie die Klima-Migration unsere Welt verändern wird“ warnt die Autorin nun angesichts der hereinbrechenden Klimakatastrophe vor einer absolut dystopischen Zukunft für die gesamte Menschheit. Zugleich benennt sie eine ganze Reihe erforderlicher Maßnahmen, die ihres Erachtens geeignet sein könnten, diese dramatische Entwicklung zu bremsen und womöglich sogar umzukehren. Wo und wie Menschen künftig leben werden, hält sie für eine der wichtigsten Fragen im Kontext des Klimawandels, die dennoch weithin ausgeblendet werde. Deshalb sei dieses Buch sowohl ein eindringlicher Aufruf zum Handeln als auch eine fundierte Beschreibung, wie die nunmehr unabwendbare Klima-Migration auf eine Weise geplant und gehandhabt werden könnte, welche die Bewohnbarkeit des Planeten in veränderter Form wiederherstelle.
Wie die Autorin argumentiert, könne diese massenhafte Migration mittels geeigneter politischer Maßnahmen nicht nur zum Wohle der geflohenen Menschen, sondern auch der Bevölkerungen, die sie aufnehmen, bewältigt werden. Grundsätzlich plädiert sie für ein Umdenken, Migration nicht länger als Bedrohung, sondern als eine wesentliche Triebkraft und Verlaufsform menschlicher Evolution und Verbreitung über diesen Planeten aufzufassen. Solche immer wieder einsetzenden Wanderbewegungen hätten die Weiterentwicklung unserer Spezies in der Vergangenheit beflügelt und seien auch künftig ein zentraler Schlüssel zur Entfaltung der Gesellschaft. Während nämlich im globalen Süden der extreme Klimawandel gewaltige Menschenmengen aus ihrer Heimat vertreibe, weil große Regionen unbewohnbar werden, hätten die Volkswirtschaften im klimatisch angenehmeren Norden Mühe, den demografischen Wandel zu bestehen, der mit massivem Arbeitskräftemangel und einer verarmten und überalterten Bevölkerung verbunden sein werde. Migration sei eine wirtschaftliche und keine Sicherheitsfrage, sie fördere den wirtschaftlichen Aufschwung und verringere die Armut.
Mit jedem Grad Klimaerwärmung werden etwa eine Milliarde Menschen aus einer Zone verdrängt, in der seit Jahrtausenden Menschen gelebt haben. Verläuft diese gewaltige Umwälzung ungesteuert und gewaltsam, mündet sie zwangsläufig in eine beispiellose Katastrophe. Es sei daher unverzichtbar, den Prozess der Planung und Vorbereitung auf die Orte und Formen künftigen Zusammenlebens unverzögert in Angriff zu nehmen. Gelingt es, ein Gemeinwesen der gesamten Menschheit zu schmieden, wird diese den Planeten auch weiterhin beherrschen, selbst wenn die Nahrungsmittelproduktion auf eine vergleichsweise kleine Fläche beschränkt sei, so die Autorin. Erforderlich seien neue Methoden der Ernährung, der Treibstoffversorgung und der Aufrechterhaltung der Lebensweisen, während der Ausstoß von Kohlendioxid zurückgefahren und dieses sogar wieder aus der Atmosphäre entfernt werden müsse. Die Menschen würden künftig bei größerer Wohndichte in weniger Städten leben, die teilweise in nördlichen Regionen neu zu errichten seien. Zugleich müssten die mit höherer Bevölkerungsdichte verbundenen Risiken wie Stromausfälle, Abwasserprobleme, Überhitzung, Umweltverschmutzung und Infektionskrankheiten vermindert werden.
Eine ebenso große Herausforderung werde indessen darin bestehen, die tief sitzende Auffassung von Nationalstaaten, Grenzen und entsprechenden Zugehörigkeiten wie auch Abschottungen zu überwinden. Im Zuge dieser großen Migration müssten alle Menschen ein Stück ihrer Stammesidentität aufgeben, um als kollektive Weltbürger eine die ganze Menschheit umfassende Identität anzunehmen. In den künftigen neuen Städten der Polarregion leben zu können, erfordere eine Anpassung an die unterschiedlichsten Gesellschaften.
Gaia Vince stellt „die vier apokalyptischen Reiter des Anthropozäns“, nämlich Brände, Hitze, Trockenheit und Überschwemmungen, in der Gewalt ihres Wütens dar. Sie geht ausführlich auf die „nomadische Seele“ ein, die ihres Erachtens „in uns allen schlummert“ (S. 17). Und schließlich erörtert sie eine Palette von Lösungen, die ihrer Einschätzung nach schon in Reichweite liegen. Dabei plädiert sie nicht zuletzt dafür, offen für alle Optionen zu bleiben, und somit auch vor umstrittenen technologischen Lösungsansätzen nicht zurückzuschrecken, denen sie durchaus zutraut, die Erderwärmung rückgängig zu machen und verlassene Weltregionen künftig wieder bewohnbar zu machen.
Im Kampf gegen den Klimawandel hält sie es für „moralisch nicht vertretbar“, auf rasch wirksame Klimainterventionen zu verzichten, wenn „wir die Möglichkeit hätten, den Planeten zu kühlen“ (S. 304). Wenn sich die Erde nicht so rasch erwärmt und länger kühl bleibt, würde „den ärmsten Menschen“ geholfen, „sich anzupassen und ihre Armut zu lindern“ (S. 303). Es könnte Zeit gewonnen werden, während der die Treibhausgasemissionen weiter gesenkt werden, lautet zusammengefasst der Standpunkt der Autorin.
Bei diesem sogenannten Geoengineering würden beispielsweise die Sonnenstrahlen bereits in der Stratosphäre durch das Versprühen von Sulfatpartikeln ins Weltall reflektiert. Man weiß vom Ausbruch des philippinischen Vulkans Pinatubo 1991, dass dessen schwefelhaltige Asche- und Staubwolke bis in 24 Kilometer Höhe aufgestiegen war und sich dort flächig um die Erde gelegt hatte. In den nächsten ein, zwei Jahren wurde die globale Temperatur um rund ein halbes Grad gedimmt.
Das Verfahren zur Kühlung des Planeten sei noch nicht erprobt worden, räumt die Autorin ein. Deshalb wisse man nicht, ob es „unbeabsichtigte Nebenwirkungen“ gibt, „und wenn ja, ob diese schlimmer wären als die Auswirkungen einer fortgesetzten Erwärmung“ (S. 304). An dieser Stelle vollzieht sie einen logischen Bruch in ihrer Argumentation, indem sie beschwichtigend erklärt, dass die Nebenwirkungen „mit relativ geringer Verzögerung“ gestoppt werden könnten, „indem man das Verfahren abbricht“.
Einmal abgesehen davon, dass ein Abbruch der Sulfatinjektionen einen in der Fachliteratur hinlänglich beschriebenen „termination shock“ auslösen könnte, bei dem die globale Durchschnittstemperatur schlagartig um mehrere Grad zunimmt, kann vom Wortsinn her niemand wissen, ob solche „unbeabsichtigten“ Nebenwirkungen nicht unumkehrbare Folgen haben. Zum Beispiel lassen Studien darauf schließen, dass die Sulfatpartikel die Ozonschicht schädigen und dass sich die Niederschlags-verteilungsmuster großräumig ändern. Vermutlich würde in Südostasien der für den landwirtschaftlichen Anbau und damit die Ernährungssicherheit der Menschen unverzichtbare Monsun geschwächt.
Auch abgemilderte Varianten des solaren Geoengineerings, so sie dann überhaupt den gewünschten Effekt erzielten, werden nicht nebenwirkungsfrei sein. Es ist nur eine Behauptung – vielleicht aus dem Wunschdenken nach einfachen Lösungen angesichts komplexer Herausforderungen entstanden -, dass die globale Erwärmung wie bei einem Backofen nach Belieben an- und ausgeschaltet werden kann, ohne dass dies unkalkulierbare Konsequenzen nach sich zöge.
Solares Geoengineering wäre sicherlich nicht das Gegenmodell zur industriellen Entwicklung, die durch fossile Energieträger insbesondere ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert vehement befeuert wurde, sondern deren Fortsetzung. Mit der Stratosphäre würde eine weitere planetare Region in den Strudel zerstörerischer menschlicher Machenschaften einbezogen, die bisher zwar keinesfalls unberührt geblieben ist, aber vermutlich noch nie eine so massive Intervention erleben musste, wie sie dann zu erwarten wäre.
Sollte jemals eine Einigung erzielt werden, die Klimakatastrophe auf diese Weise zu bekämpfen, kann man sicher sein, dass in der vorherrschenden Ordnung miteinander konkurrierender Nationen nicht jene die schwerwiegendsten Nebenwirkungen freiwillig auf sich ziehen, die heute über den größten militärischen, wirtschaftlichen und politischen Einfluss verfügen. Vielmehr würden es wieder einmal die marginalisierten Nationen sein, die am stärksten darunter zu leiden hätten, dass sich andere durch das Verbrennen fossiler Energieträger eine Vorteilsposition zu Lasten ihrer Lebens- und Überlebensvoraussetzungen verschafft haben. Solares Geoengineering käme wohl kaum „den ärmsten Menschen“ zugute, wie Vince behauptet, sondern würde die Armut perpetuieren.
In ihrer Danksagung erwähnt die Autorin unter anderem David Keith, Jesse Reynolds und Ken Caldeira (S. 323). Dabei dürfte es sich um jene namensgleichen Klimaforscher handeln, die bekannt für ihre positive Einstellung gegenüber solaren Geoengineering sind und, jeder auf seine Weise, sich seit vielen Jahren als Wegbereiter dieser umstrittenen Technologie hervorzutun bemühen.
Gaia Vince, die als eine der profiliertesten Wissenschaftsjournalistinnen ihres Themenbereichs gilt und auch für dieses Buch aufwendig recherchiert hat, führt ihre Leserschaft aus den Schrecken der Apokalypse auf einen hoffnungsgetragenen Lösungspfad. Sie steckt weder den Kopf in den Sand noch streicht sie die Segel, doch drängt sich im Zuge der Lektüre die Frage auf, wie substantiell ihre Rettungsvorschläge einzuschätzen sind. Denn wo es darum geht, wer die letztendliche Entscheidung trifft, was umgesetzt wird, verweist sie vage auf „ein globales Regierungsorgan, das dringend geschaffen und mit Machtbefugnissen ausgestattet werden sollte“ (S. 308). Wie dieses höchste Verfügungsgremium konstituiert und ermächtigt werden könnte, ohne zwangsläufig ein Werkzeug der ohnehin dominierenden Staaten und einflussreichsten ökonomischen Komplexe zu sein, beantwortet die Autorin nicht.
„Wir müssen die Kontrolle über unsere Zukunft übernehmen, und das bedeutet: Wir müssen einen Plan entwerfen, um das Wohlergehen aller Menschen, ob reich oder arm, auf allen Kontinenten zu schützen. (…) Mit internationaler Kooperation und Regulierung könnten wir die Erde zu einem lebenswerten Ort machen.“ (S 317) Dieses vereinnahmende und konsensbeschwörende „Wir“ als unablässig wiederkehrende Wegbegleitung bei der Lektüre des Buches entwirft ein Bild der Menschheit ohne erbitterte Staatenkriege, Herrschaftsverhältnisse und fundamentale gesellschaftliche Widersprüche, ohne kapitalgetriebene Verwertungsregime und daraus resultierende Wachstumszwänge. Dies und manches mehr wäre zumindest zu diskutieren, um tatsächlich zu entschlüsseln, warum die Klimakatastrophe ihren Lauf nimmt, während angemessene Bremsmanöver ausbleiben.