Interview mit der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die besetzten Gebiete Palästinas Francesca Albanese
Ende Mai fand in Nürnberg die Dritte Internationale Konferenz des „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ (BIP) statt. Thema: „Koloniale Gewalt und der Weg zur Gerechtigkeit“. Vor mehr als 200 Teilnehmern sprachen Referenten aus Israel, Palästina, USA, England und Deutschland. Anwesend war auch Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina und die besetzten Gebiete. Die promovierte Völkerrechtlerin referierte über das Thema „Was kann die UNO für die Menschen in Israel/Palästina tun“.
Als UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den Palästinensergebieten stehen Sie mitten im Scheinwerferlicht einer weltpolitischen Krisenlage, in der man sehr oft zwischen Lüge und Wahrheit nur schwer unterscheiden kann. Es gibt im Deutschen ein Sprichwort, das ungefähr so lautet: „Je größer die Lüge, desto unsichtbarer wird sie.“ Kennen Sie dieses System in Ihrer politischen Arbeit?
Albanese: Oh ja, das kenne ich. Kenne ich gut. Für die Arbeit im politischen Feld ist es das, was ich „Truman-Show“ nenne, und was im gleichnamigen Hollywood-Film exemplarisch vorgeführt wird: die Inszenierung tatsächlichen Lebens als Reality-Show. Anders gesagt: die Konstruktion einer parallelen Realität. Konkret etwa im Verhältnis Deutschland-Israel. Ich will da nur in aller Bescheidenheit anmerken, dass in Deutschland, genauer in der deutschen Politik, ein Narrativ über Israel besteht, das mit der Realität dort und in den palästinensischen Gebieten nichts zu tun hat. In Deutschland wird dauernd die Holocaust-Karte gezogen, dauernd wird eine Geisteshaltung beschworen, die dieses deutsche Schuldbewusstsein stimuliert. Und deshalb halte ich gerade in Deutschland diese Auseinandersetzung für sehr wichtig, und deshalb komme ich auch zu dieser Konferenz des „Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“.
Ein nicht unwichtiger Teil dieser Stimulierung wird auch von den Medien im Lande getragen…
Albanese: ….der Journalismus hat bisher versagt, die akademische Welt verstummt oder verhindert ein Engagement, die Zivilgesellschaft ist zum Teil merkwürdig gefangen, nur die Jungen mucken auf. Es war für mich ein Schock mitzubekommen, wie die deutsche Polizei grob und brutal mit Protestierenden umging, die Solidarität mit Palästina forderten. Solidarität mit Menschen aus Palästina heißt doch nicht automatisch Feindschaft gegenüber israelischen Menschen. Es ist hier schon so, dass man den Kopf in den Sand steckt und die Realität nicht sehen will. Und ich sehe diese katastrophale, mörderische Realität jeden Tag, ob in Gaza oder in der Westbank. Wir müssen gegen die herrschende Ignoranz kämpfen, gerade auch in Deutschland.
Irgendwie hat es den Anschein, dass gerade in Deutschland wieder diese Lebenslügen aufbrechen, die vorgeben, die böse Vergangenheit doch bewältigt zu haben und damit auf der guten Seite zu stehen….
Albanese:…Sie sagen Lebenslügen, ich meine Traumata. Wenn ich die These wagen darf: Gerade viele Deutsche haben offenbar das Trauma nicht genug bearbeitet, was sie im „Dritten Reich“ angerichtet haben, die Vernichtung der Juden; und auf der anderen Seite gibt es eine Lebenslüge, wie Sie das nennen, der jüdisch-israelischen Mehrheit, die einfach nicht wahrhaben will, was sie seit Jahrzehnten den Palästinensern antut, von Massakern bei der Staatsgründung über dauerhafte ethnische Säuberungen und Vertreibung bis hin zu steigender Gewalt in der Westbank durch einen brutalen Siedlerkolonialismus und dem derzeitigen massenhaften Mord an Frauen und Kindern in Gaza. Ich bezeichne das, und übrigens nicht nur ich, als Völkermord. Südafrika und andere Staaten haben ja in diese Richtung reagiert. Für mich als Juristin, spezialisiert auf Völkerrecht, die ich dieses ganze Elend vor Augen habe, ist völlig klar: Sollte der jüdischen Mehrheit in Israel je einmal aufgehen, was da wirklich passiert ist, wie die Existenzgrundlage und die Kultur der Palästinenser systematisch zerstört und vernichtet wird, hat das am Ende verheerende psychologische Folgen in dieser Gesellschaft.
Wie beeinflussen denn diese Lebenslügen Ihre Arbeit als Sonderberichterstatterin bei der UN?
Albanese: Diese Lebenslügen haben vor allem in den westlichen Staaten aber auch in Israel zu einer enormen Heuchelei geführt, gegen die ich täglich kämpfen muss. Und mein Part in dieser „Truman Show“, um darauf zurück zu kommen, ist eben, diese Choreografie der Heuchelei zu demaskieren oder zu stören…
In Teilen der deutschen Presse aber auch international werden Sie deshalb auch als „BDS-Ikone“, Antisemitin oder gar als Hamas-Unterstützerin geschmäht, besonders von der deutschen Springer-Presse. Trifft Sie das, wie gehen Sie damit um?
Albanese: Das ist natürlich schmerzhaft aber auch einigermaßen lächerlich. Gerade für mich, die ich mit den Büchern von Primo Levi groß geworden bin. Wie soll ich etwa Hamas-Unterstützerin sein, wenn diese terroristische Gruppe jene Palästinenser unterdrückt, benutzt und ausbeutet, deren Interessen ich zu vertreten habe, für deren Menschenrechte und Menschenwürde ich einzutreten habe? Die Palästinenser waren die ersten Opfer dieser diktatorischen Hamas-Politik. Diese Verleumdungen, dieser Schmutz mir gegenüber, das sind alles Kampagnen, die vor allem der israelischen Regierung dienen und von deren politischen und medialen Freunden losgetreten werden. Das ist alles Einschüchterung.
Israel ist offensichtlich weder durch UN-Resolutionen noch durch Anordnungen des Internationalen Gerichtshofes (ICJ) zu bewegen, von seiner Gewaltpolitik abzurücken. Im Gegenteil: die Tötungen gehen weiter. Das Völkerrecht wird permanent verletzt, eigentlich wird das Völkerrecht in dieser konkreten Auseinandersetzung seit Jahrzehnten von Israel permanent außer Kraft gesetzt. Dagegen gibt es überall auf der Welt Demonstrationen.
Albanese: Die vielen jungen Demonstranten überall auf der Welt waren und sind ganz konkret in ihren Forderungen nach Anwendung des Internationalen Rechts. Sie sind aber auch dann zumeist mit dieser Heuchelei konfrontiert, die Israel einfach machen lässt, was es will. Der israelische Ex-Diplomat Daniel Levy hat einmal gesagt: „Wir müssen die generelle Straflosigkeit, die Israel bei all seinen Aktivitäten zugestanden wird, im Auge haben – und den daraus wachsenden Extremismus innerhalb und außerhalb der israelischen Gesellschaft.“ Wir müssen in der Implementierung des Internationalen Rechts beharrlich sein – und zwar zugunsten von Israelis und Palästinensern. Und wir müssen nicht nur die jüdische Geschichte zu verstehen versuchen, sondern auch die Geschichte der Palästinenser mit all ihrer Unterdrückung, Rechtlosigkeit, mit zwölf bewaffneten Auseinandersetzungen seit 1948. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass ein Verständnis beider Parteien für einander entsteht.
Das ist leichter gesagt als getan. Die Traumata beider Seiten, sind so groß, dass man doch den Eindruck haben kann: dieser Konflikt ist letztlich unlösbar.
Albanese: Ja es scheint so, aber diese Traumata werden durch die aktuellen Ereignisse – das schreckliche Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und die darauf folgende genozidale Reaktion des israelischen Militärs – noch befeuert. Das alles muss aufhören, sofort. Eine israelische Kollegin sagte mir vor kurzem bei einer Reise durch das Land: Der Holocaust ist passiert, wir sind verfolgt und umgebracht worden, das ist historisch anerkannt; und wir müssen diese Erinnerung hochhalten; jetzt können wir neu anfangen, können reflektieren wie wir gelitten haben. Nur könnten die Palästinenser das eben nicht, denn ihre Geschichte sei im Westen kein Thema, sie seien nicht in der Lage, ihre Geschichte zu historisieren. Sie erleben das heute als Fortsetzung der „Nakba“ 1948, die ethnische Säuberung Palästinas, und sie stehen da, mit nichts in der Hand.
Viele Israelis sehen das Thema Nakba, die Vertreibung von 800 000 Palästinensern aus ihren Dörfern, völlig anders: die seien freiwillig gegangen, auf Anordnung ihrer Führer, oder: das Land sei eh von Gott den Juden versprochen etc. Da prallen unterschiedliche Geschichtsschreibungen aufeinander.
Albanese: Man sollte sich ehrlich machen. Der radikale Zionist Wladimir Jabotinsky oder auch Staatsgründer David Ben-Gurion haben immer wieder von „Kolonisierung“ Palästinas gesprochen. Von Jabotinsky ist folgendes Zitat überliefert: „Habt ihr je einmal indigene Menschen gesehen, die nicht revoltiert haben, wenn man ihnen ihr Land weggenommen hat?“ Wir haben es hier also mit Siedler-Kolonialismus zu tun, ein Begriff, der sowohl von der zionistischen Nomenklatura als auch ihren Verbündeten, etwa auch Deutschland, strikt abgelehnt wird.
Glauben Sie denn, dass über diese historisch definierten Klippen eine Verständigung in naher Zukunft möglich sein wird? Dass etwa die Israelis ihre eindeutig dominante – und vor allem militärisch begründete – Stellung aufgeben werden?
Albanese: Da kann ich nur hoffen. Es gibt ein Buch der vom Europäischen Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichneten israelischen Sprachwissenschaftlerin Nurit Peled-Elhanan mit dem Titel „Palästina in israelischen Schulbüchern. Ideologie und Propaganda in der Erziehung“. In dieser luziden und akribischen Studie beschreibt die Autorin in aller Drastik, wie in Israel die Schüler indoktriniert, gegenüber Palästinensern positioniert, rassistische Theoreme verbreitet werden und so eine „jüdische Identität“ geformt wird. Eine erschreckende Analyse, da kann einem schon jede Hoffnung für eine friedliche Zukunft dort abhanden kommen. Mit dieser Indoktrination gehen die jungen Leute dann zum Militärdienst, vielleicht in die besetzten Gebiete, und da muss man sich nicht wundern, welche Grausamkeiten dort geschehen.
Die meisten israelischen Medien, vor allem das Fernsehen, berichten sehr tendenziös über den Krieg. Man hört, dass viele Leute gar nicht wissen oder wissen wollen, was da im aktuellen Krieg vor sich geht. Wie können die Israelis aus dieser verfahrenen Situation befreit werden?
Albanese: Ja, es gibt eine spezifische Blindheit in der israelischen Gesellschaft. Aber meine Antwort auf ihre Frage ist ziemlich einfach: Die internationale Gemeinschaft muss nur genügend Druck auf Israel ausüben, um die Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs auch glaubwürdig zu vertreten und durchzusetzen. Und konkret bedeutet das auch, Sanktionen gegen Israel zu verhängen, um dieses Land auf die Ebene des Internationalen Rechts zu bringen. Und natürlich muss man verhandeln.
Wie Sanktionen etwa gegen Russland wirken, weiß man jetzt. Sie sind offenbar ziemlich erfolglos.
Albanese: Israel ist ein anderer Fall. Das Land ist stark abhängig vom Westen mit all seinen Erfindungen im technologischen, sicherheitsrelevanten und KI-Bereich. Bei einer Einigkeit im Westen würde das bestimmt Wirkung zeigen.
Frau Albanese, wir danken für das Gespräch.