Geleakte Protokolle des Robert-Koch-Instituts decken auf: Die Experten wurden übergangen. Aber sie schwiegen und machten mit.

Martina Frei für die Online-Zeitung INFOsperber

Noch warten die jetzt veröffentlichten rund 4000 Seiten Protokolle des Covid-19-Krisenstabs auf eine detaillierte Auswertung. «Wir brauchen jetzt viele Köpfe, um das durchzuarbeiten», sagte der Journalist Bastian Barucker am 23. Juli an einer eiligst einberufenen Medienkonferenz in Berlin.

Eine frühere Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter am Robert-Koch-Institut (RKI) liess der Journalistin Aya Velázquez sämtliche Protokolle des «COVID-19-Krisenstabs des Robert-Koch-Instituts» und weiteres Material zukommen. Velázquez veröffentlichte alle Dateien zum Herunterladen im Internet. Bisher war erst ein Teil der Protokolle – mit vielen Schwärzungen – bekannt (Infosperber berichtete). Das RKI kritisierte die jetzige Veröffentlichung ohne jegliche Schwärzungen mit Verweis auf Geschäftsgeheimnisse von Pharmaherstellern und den Persönlichkeitsschutz Dritter.

Professor Stefan Homburg, Aya Velázquez und Bastian Barucker (v.l.n.r.) an der Medienkonferenz in Berlin. Grosse Medien fehlten im Publikum. © Bastian Barucker / Youtube.com

Wissenschaftler als Erfüllungsgehilfen

Was Velázquez, Barucker und der pensionierte Finanzprofessor Stefan Homburg in den rund 4000 ungeschwärzten Seiten bisher ausgruben, wirft ein schlechtes Licht auf die Wahrhaftigkeit von Wissenschaftlern und Politikern.

Während der Pandemie rechtfertigten Regierungen ihre Massnahmen mit dem Hinweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Das Motto lautete «Follow the Science», folge der Wissenschaft. Doch wie die Protokolle jetzt nahelegen, folgten die Wissenschaftler stattdessen häufig den Anordnungen der Politik. Die Experten am RKI, das dem deutschen Gesundheitsministerium untersteht, äusserten zwar immer wieder Bedenken. Doch streckenweise machten sie sich – wider besseres Wissen – zu gehorsamen Erfüllungsgehilfen.

Noch im März 2024 hatte der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach gegenüber der «Süddeutschen Zeitung» gesagt, es brauche keine politische Aufarbeitung der Corona-Pandemie, sondern nur eine wissenschaftliche. Die folgenden Beispiele widerlegen ihn.

Acht Beispiele

1. Aus den RKI-Protokollen geht hervor, dass den Fachleuten dort klar war, dass Personen nur etwa zwei bis acht Wochen nach der Impfung vor einer Coronavirus-Infektion geschützt sind, und dass sie danach – ohne oder nur mit leichten Symptomen – «durchaus hohe Viruskonzentrationen im Nasen-/Rachenraum aufweisen und kontagiös [also ansteckend – Anm. d. Red.] sind».

Trotzdem erhielten Geimpfte von den Behörden anfangs ein Covid-Zertifikat für zwölf Monate ausgestellt, später wurde es auf neun Monate verkürzt. Dieses Zertifikat berechtigte zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Europaweit nahmen die Behörden damit in Kauf, dass sich Geimpfte in falscher Sicherheit wiegten und sich für nicht ansteckend hielten, obschon sie das Virus übertragen konnten wie Ungeimpfte.

2. Der damalige deutsche Gesundheitsminister – und mit ihm viele Medien – sprach von der «Pandemie der Ungeimpften». Im RKI-Protokoll vom 5. November 2021 steht dazu:

«Aus fachlicher Sicht nicht korrekt […] Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.»

RKI-Protokoll

Prominente und grosse Medien nannten Menschen, die sich nicht impfen liessen, in der Folge «Arschlöcher» («Tages-Anzeiger» vom 8.12.2021), «Pandemietreiber», «Blinddarm», «Tyrannen», «Sozialparasit» und anderes mehr. «Der Spiegel» forderte schon im Dezember 2020**: «Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.»

Lothar Wieler, der damalige Leiter des RKI, hätte öffentlich erklären können, dass es sich um keine «Pandemie der Ungeimpften» handelte. Doch er schwieg.

Im Gegensatz zum Virologen Christian Drosten.

Im November 2021 erklärte Drosten in der «Zeit»: «Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften […] Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen – auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger.»

3. Aber auch Drosten (der nicht zum RKI-Krisenstab gehörte) kuschte, wenn er es für opportun hielt. Das RKI-Protokoll hielt am 29. Juli 2020 fest, Drosten habe einen vertraulichen Textentwurf mit Empfehlungen zur Teststrategie verfasst, aber

«zwischenzeitlich entschieden, das Papier nicht zu publizieren, da ungezielte Testung im Text als nicht sinnvoll betrachtet wird und dies dem Regierungshandeln widerspricht».

RKI-Protokoll

Drosten habe damit seiner fachlichen Ansicht zuwider gehandelt, sagte die Journalistin Aya Velázquez an der Pressekonferenz. Die dadurch entstandene Steuergeldverschwendung durch ungezieltes Testen bezifferte sie «im Bereich von mindestens 10 Milliarden Euro». Ein Reporter von der «Welt» bat Drosten um eine Stellungnahme dazu – vergebens. In der «Süddeutschen Zeitung» vom 26.7.2024 ** bestritt Christian Drosten, dass er den Textentwurf zurückgehalten habe. Möglicherweise sei da im RKI etwas falsch aufgefasst oder berichtet worden, sein Text sei Tage später in der «Zeit» veröffentlicht worden.

4. RKI-Leiter Wieler schwieg öffentlich auch, als es um die Schulschliessungen ging. Ende Februar 2020 kehrte ein RKI-Mitarbeiter aus China zurück, wo er sich ein Bild der Lage machen konnte. Im Protokoll steht:

«Kinder 2 Prozent der Fälle in grosser Studie, Kinderkrankenhaus bestätigt alle ohne Komplikationen; […] Schulen, Kitas stehen nicht im Vordergrund, Kinder keine wichtigen Glieder in Transmissionsketten; Rolle der Kinder eher untypisch untergeordnet (anders als Influenza), mehr Studien müssen erfolgen.»

RKI-Protokoll

Am 11. und 12. März 2020 hielt der RKI-Expertenrat

«Schulschliessungen nur in besonders betroffenen Gebieten für sinnvoll».

RKI-Protokoll

Ebenfalls am 12. März hob der Virologe Christian Drosten im «NDR»-Podcast den Nutzen von Schulschliessungen hervor – mit Verweis auf eine Studie zur Influenza (Grippe). Hatte Drosten tags zuvor noch verkündet «Das bringt nicht so viel», machte er nun eine Kehrtwende um 180 Grad. «Der Virologe Drosten schien nun für Schulschliessungen zu sein» und er habe den Ministern und der deutschen Kanzlerin empfohlen «schnell zu handeln», fand «Der Spiegel» heraus.*

Am 13. März 2020 vermerkt das RKI-Protokoll:

«Herr Spahn [der damalige Gesundheitsminister – Anm. d. Red.] hat angeordnet, dass eine Passage zu Schulschliessungen in die Kriterien für die Risikoeinschätzung von Grossveranstaltungen eingefügt wird.»

RKI-Protokoll

Am 16. März 2020 mussten alle Schulen in Deutschland schliessen. «Deutschland hatte mit die längsten Schulschliessungen in ganz Europa», sagte Bastian Barucker, der die RKI-Protokolle mit dem Fokus auf die Kinder sichtete. Im April 2020 sei dann in einem RKI-Protokoll mit Verweis auf eine Übersichtsarbeit zu lesen gewesen:

«Schulschliessungen haben vermutlich keinen grossen Einfluss auf die Kontrolle der Epidemie gehabt.»

RKI-Protokoll

Auch im Herbst 2021 sei das RKI dabei geblieben, dass von jüngeren Kindern nur sehr selten Infektionsketten ausgingen.

Politisches Kalkül statt epidemiologischer Beurteilung

Selbst die «Süddeutsche Zeitung», die während der Corona-Pandemie eine regierungsfreundliche Haltung einnahm, berichtete jüngst über «Patzer in der Pandemie». So habe die deutsche Regierung im Sommer 2020 eine Reisewarnung für die Türkei aus rein politischen Gründen aufgehoben. Die Türkei hatte darum gebeten – und für die deutsche Regierung war es offenbar wichtiger, diese Bitte zu erfüllen, als auf den Rat ihrer RKI-Berater zu hören, die sich wegen der Infektionslage sorgten.

5. Auch am Beispiel der Kinderimpfung zeigt sich, wie die Politik eingriff und ihre wissenschaftlichen Experten überging. Auszug aus dem RKI-Protokoll:

«Pädiatrische Fachverbände stehen der Impfung von Kindern zurückhaltend gegenüber. Politik bereitet bereits Impfaktionen vor, damit die entsprechenden Jahrgänge zum Ferienende geimpft sind. […] In vielen Regionen der Welt fehlen Impfstoffe, hier werden Gruppen ohne/mit sehr geringem Risiko geimpft.»

RKI-Protokoll

Zur Erinnerung: In der Schweiz wollte die Eidgenössische Kommission für Impffragen EKIF die Covid-Impfung Jugendlicher im Sommer 2021 nicht empfehlen. Doch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bestand darauf, dass die EKIF eine Empfehlung für Heranwachsende aussprach (Infosperber berichtete).

6. Die Experten am RKI stellten am 8. Januar 2021 fest:

«Es sind keine Ausbrüche bekannt, die von Reinfizierten ausgehen, diese scheinen nicht den gleichen Beitrag zur Gesamtausbreitung zu haben wie Erstinfizierte.»

RKI-Protokoll

Und weiter: Es gebe keine Belege, dass einmal Genesene wesentlich zur Virusübertragung beitragen würden:

«Quarantänepflichtausnahme kann für diese bestehen bleiben. Das gleiche für Geimpfte zu behaupten ist nicht möglich, diese sollten weiterhin keinen Sonderstatus erhalten.»

RKI-Protokoll

Trotzdem entschied die Politik, dass Genesene das Covid-Zertifikat nur für eine Dauer von sechs Monaten erhielten.

Dabei sei bereits im Februar 2021 klar gewesen, sagte der österreichische Wissenschaftler Stefan Pilz im Interview mit Infosperber, dass «Genesene gegenüber den Geimpften einen ähnlichen Schutz haben. Auch war bereits damals eindeutig gezeigt worden, dass die Immunität nach einer Sars-CoV-2-Infektion länger als sechs Monate anhält.»

Zur Erinnerung: Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit behauptete noch Ende Juni 2021: «Es gibt keine Hinweise für eine längere Schutzdauer als sechs Monate bei genesenen Personen.» Die nationale Covid-19-Science-Taskforce pflichtete dem BAG damals bei und unterstützte den Entscheid, Genesene gegenüber Geimpften beim Covid-Zertifikat zu benachteiligen.

7. Aya Velázquez, Stefan Homburg und Bastian Barucker fanden weitere Beispiele in den RKI-Protokollen, wie Politiker die beratenden Wissenschaftler rechts überholten. Im Oktober 2021 etwa habe der deutsche Gesundheitsminister «die doppelte Impfung von Genesenen nahegelegt. Hierzu liegen unserem Fachgebiet und der WHO noch keine Daten vor», habe im Protokoll gestanden.

«Die Forderungen nach der Booster-Impfung – zumindest das kann man gut beweisen in den Protokollen – kamen zunächst von Pfizer und der Politik und nicht aus der Wissenschaft», sagte Velázquez und zitierte aus dem Protokoll vom 30. Juli 2021: Die Boosterimpfung werde «vor allem von Politik und Pfizer gefordert. Bisher nicht ausreichend Daten vorhanden.»

Die freie Journalistin Aya Velázquez an der von ihr einberufenen Medienkonferenz am 23. Juli 2024. © Bastian Barucker / Youtube.com

8. «Die schlimmste Stelle in diesen Protokollen» nannte Professor Stefan Homburg eine vom 19. März 2021:

«Jetzt 12 Fälle mit Sinusvenenthrombose: alle 12 Frauen nach Impfung mit Astra Zeneca, alle < 55 Jahre, auffälliges Cluster.»

RKI-Protokoll

Norwegen habe die Impfung mit dem Impfstoff von Astra Zeneca ausgesetzt. Es gebe «viele Fälle mit arteriellen Thrombosen in anderen Ländern». Die Meldestellen für Impfnebenwirkungen in Deutschland «kommen nicht gut hinterher», beim Paul-Ehrlich-Institut seien «am Montag 1600 Meldungen» eingegangen, was möglicherweise aber an der erhöhten Aufmerksamkeit liege. Die Europäische Arzneimittelbehörde habe entschieden, der Impfstoff sei sicher, einige Länder Europas hätten anders entschieden.**

Zwei Wochen später gehe aus dem RKI-Protokoll hervor, dass die Wahrscheinlichkeit einer Sinusvenenthrombose auch bei Männern erhöht sei, und zwar 20-mal so hoch wie sonst, berichtete Homburg. Die Experten wussten also um das erhöhte Risiko, auch bei Männern.

Die Bevölkerung wurde skeptisch gegenüber dem Astra Zeneca-Impfstoff – und die Politiker krempelten die Ärmel hoch: Am 1. April 2020 schrieb das «Deutsche Ärzteblatt»: «Bundespräsident Steinmeier mit Astra Zeneca geimpft.» Eine Woche danach titelte «Der Spiegel»: «Karl Lauterbach hat sich mit Astra Zeneca impfen lassen.» Mitte April schrieb das «Deutsche Ärzteblatt»: «Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Scholz mit Astra Zeneca geimpft.» Und Mitte Mai in der «Ärztezeitung»: «Gesundheitsminister Jens Spahn hat sich am Freitag gegen Corona impfen lassen – wie er sagt, ganz bewusst mit Astra Zeneca.»

«Man hat die Leute ins Messer laufen lassen», findet Homburg. Die naheliegende Erklärung: Politiker hätten riesige Mengen Impfstoff bestellt, die Bevölkerung zögerte angesichts der möglichen Nebenwirkungen jedoch, sich damit impfen zu lassen. Mit der Werbeaktion sollten die Befürchtungen zerstreut werden.

«Ministerieller Weisung muss nachgekommen werden»

Nicht immer fügte sich das RKI jedoch sang- und klanglos den Anordnungen der Minister. Im Protokoll vom 21. Mai 2021 etwa wurde die Frage aufgeworfen: «Kann das RKI (das sich als Public Health-Institut der WHO nahe fühlt) eine kontroverse Meinung haben (zur Regierung, die hier eventuell eine Einzelmeinung vertritt)? Es werden intensive Diskussionen innerhalb des Instituts geführt zur Freigabe der Impfstoff-Patente.»

Deutschland wie auch Bill Gates, der dem RKI 2019 und 2021 insgesamt rund 750’000 US-Dollar spendete, stemmten sich bekanntermassen erfolgreich gegen die Patenfreigabe.

Im September 2021 liess das RKI gar juristisch prüfen, ob es an die Weisungen des Gesundheitsministers gebunden sei. Das Fazit:

«Aktuelle Einschätzung: Ministerieller Weisung muss seitens des RKI nachgekommen werden.»

RKI-Protokoll

Video der Pressekonferenz vom 23. Juli 2024

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*Drosten distanzierte sich im Juni 2024 vom Vorwurf, er habe im Frühling 2020 zu flächendeckenden Schulschliessungen geraten, und sagte der «Welt»: Das «war reine Politik, in die ich nicht involviert war». Allerdings wies «Der Spiegel» auf eine erstaunliche Begebenheit hin: Als nach vierwöchigen Schulschliessungen in Deutschland Forderungen laut wurden, die Schulen wieder zu öffnen und eine wichtige Konferenz der Minister anstand, «machte Drosten etwas, das er selbst eine ‹Blitzaktion› nannte, eine ‹grobe, schnell gemachte Studie›, die er «innerhalb von ein paar Stunden geschrieben» habe. «Er fasste darin die Ergebnisse mit dem Satz zusammen: Kinder könnten genauso infektiös wie Erwachsene sein», berichtete «Der Spiegel». Die Botschaft Drostens sei von der Charité falsch kommuniziert worden. Die Schulen blieben danach in Deutschland weiterhin geschlossen. Auch in einem Gerichtsgutachten plädierte Drosten für die schützende Wirkung von Schulschliessungen. Sein Gutachten wurde von mehreren Experten und einer medizinischen Fachgesellschaft als unzureichend und mangelhaft kritisiert Infosperber berichtete).
**nachträglich ergänzt