Aus dem Globalen Süden kommen Forderungen nach einer Alternative zur parteiischen Schweizer Ukraine-Konferenz. Russland ist zu Verhandlungen bereit. Plädoyers für De-facto-Kriegseintritt werden auch in Deutschland laut.
Die von Deutschland unterstützte Ukraine-Konferenz Mitte Juni in der Schweiz gerät zunehmend unter Druck. Einerseits bleiben die erhofften Teilnahmezusagen von Staaten des Globalen Südens und von Spitzenpolitikern wie US-Präsident Joe Biden aus. Andererseits legen Vorstöße aus dem Globalen Süden den parteilichen PR-Charakter des Schweizer Events offen und bieten Alternativen zu ihm an. So schlagen Brasilien und China eine „internationale Friedenskonferenz“ vor, auf der – anders als auf der Schweizer Zusammenkunft – nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland vertreten sein soll. Außerdem dürfe dort nicht bloß die „Friedensformel“ des ukrainischen Präsidenten Gesprächsgrundlage sein, die faktisch auf Moskaus bedingungslose Kapitulation hinausläuft; es sollten vielmehr „alle Friedenspläne“ diskutiert werden. Nicht zuletzt liegt schon seit mehr als einem Jahr ein chinesischer Plan zur „politischen Beilegung der Ukraine-Krise“ vor. Während Moskau bestätigt, zu Verhandlungen jederzeit bereit zu sein, weisen Deutschland und die anderen westlichen Staaten Gespräche weiterhin zurück – und diskutieren Schritte, die auf einen eigenen Kriegseintritt hinauslaufen.
Ohne Biden, ohne Xi
Die Schweiz ist in Kooperation mit weiteren westlichen Staaten bemüht, der für den 15. und 16. Juni geplanten Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock bei Luzern ein größtmögliches politisches Gewicht zu verleihen. Die Konferenz ist im unmittelbaren zeitlichen Kontext mit dem G7-Gipfel anberaumt worden, der vom 13. bis zum 15. Juni im italienischen Fasano stattfinden wird; Ziel war es insbesondere, die Anwesenheit von US-Präsident Joe Biden zu ermöglichen. Jetzt heißt es allerdings, Biden werde wohl nicht teilnehmen. Offiziell werden als Grund wichtige Wahlkampftermine in Kalifornien genannt. Faktisch aber deutet alles darauf hin, dass die Ursache in der nach aktuellem Stand recht schwachen Beteiligung nichtwestlicher Staaten liegt. Von den Ländern, denen größere politische Bedeutung bei der Vermittlung eines Waffenstillstands beigemessen wird, haben China und Südafrika bereits abgesagt; Brasilien will allenfalls einen weniger prominenten Vertreter entsenden. Aus Bern heißt es, inzwischen hätten rund 70 Staaten zugesagt, „die meisten“ von ihnen „auf Ebene Staats- oder Regierungschef“.[1] Bei der Hälfte handle es sich um nichteuropäische Staaten. Aus Afrika werden Kap Verde und Malawi vertreten sein; weitere Teilnehmer sind bisher nicht bestätigt.
Ein PR-Event
Dass die Anzahl der Zusagen nichtwestlicher Staaten trotz intensiver Bemühungen Berns und weiterer Hauptstädte, darunter Berlin, bisher relativ niedrig ist, liegt insbesondere daran, dass die Zusammenkunft auf der Grundlage der sogenannten Friedensformel des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj konzipiert wurde; diese sieht faktisch eine bedingungslose Kapitulation Russlands, den Abzug der russischen Streitkräfte aus allen seit 2014 eroberten Gebieten inklusive der Krim und eine Bezahlung der Reparatur sämtlicher Kriegsschäden aus der russischen Staatskasse vor.[2] Da eine russische Zustimmung zu diesen Forderungen in der Praxis ausgeschlossen ist, ist Moskau zu der Konferenz gar nicht erst eingeladen worden. Ernsthafte Verhandlungen sind demnach nicht zu erwarten. Beobachter sprachen bereits zu Monatsbeginn offen von einem bloßen „PR-Event“.[3] Dies scheint aktuell ein Dokument zu bestätigen, das offenkundig an Moskau durchgestochen worden ist und bei dem es sich laut Angaben der russischen Regierung um den Entwurf für eine Abschlusserklärung handelt. Die Erklärung umfasse, so heißt es, neun der zehn Elemente von Selenskyjs „Friedensformel“.[4] Das Schweizer Außenministerium streitet dies nicht ab, teilt aber mit, es sei noch ungewiss, ob man sich überhaupt auf ein Abschlussdokument einigen können werde.
Von beiden Seiten anerkannt
Dabei gerät Bern inzwischen diplomatisch in die Defensive. In der vergangenen Woche haben Brasilien und China eine Erklärung vorgelegt, die einen alternativen Weg zur baldigen Beendigung des Krieges skizziert. Das Dokument ist von Chinas Außenminister Wang Yi und vom außenpolitischen Chefberater des brasilianischen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva, Ex-Außenminister Celso Amorim, in Beijing unterzeichnet worden. Es schlägt vor, dass sämtliche Staaten auf eine Deeskalation der Kämpfe und die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Moskau und Kiew dringen; Ziel solle eine „internationale Friedenskonferenz“ sein, die von Russland und der Ukraine gleichermaßen anerkannt werde, auf der beide Seiten gleichermaßen vertreten seien und auf der „alle Friedenspläne“ diskutiert werden könnten.[5] Einen Zwölf-Punkte-Plan „zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise“, der den Krieg beenden und eine weitestmögliche Rückkehr zu den Grundsätzen der UN-Charta vorbereiten soll, hat bereits vor mehr als einem Jahr Beijing vorgelegt (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Bislang lehnen Kiew und der Westen ihn prinzipiell ab.
Zu Verhandlungen bereit
Zugleich hat Moskau in den vergangenen Tagen einmal mehr erklärt, es sei jederzeit zu Verhandlungen mit Kiew bereit. Dies ist laut Berichten westlicher Medien und Agenturen nicht neu. Bereits Ende 2023 bestätigte die New York Times unter Berufung auf zahlreiche Quellen insbesondere in Moskau, Präsident Wladimir Putin habe immer wieder angeboten, die Kämpfe zu stoppen und ohne weiteres zu Friedensgesprächen überzugehen.[7] Im Februar beschrieb das Blatt erneute russische Angebote und hielt fest, diese scheiterten an den Vereinigten Staaten.[8] Ende vergangener Woche legte die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf diverse Quellen in Putins Umfeld nach; ihnen zufolge ist Moskau jederzeit zur Einstellung der Kampfhandlungen und einem Übergang zu Gesprächen bereit. Grundlage könne die Übereinkunft sein, die bereits im Frühjahr 2022 vor dem Abschluss gestanden habe, dann jedoch insbesondere auf Betreiben des Westens von der Ukraine abgelehnt worden sei [9], heißt es. Putin hat das kürzlich bekräftigt, allerdings auch erklärt, Moskau sei – anders als noch 2022 – nicht mehr bereit, die von ihm eroberten Gebiete zurückzugeben.[10]
Gescheitert
Unterdessen verschlechtert sich die militärische Lage der Ukraine zusehends. Während im Westen Warnungen vor einer neuen russischen Offensive die Runde machen, ist der Berliner Versuch, neue Flugabwehrsysteme für Kiew zu beschaffen, faktisch gescheitert; weder die Schweiz noch Japan sind bereit, bestellte oder bereits in ihrem Besitz befindliche Patriot-Batterien direkt oder indirekt an die Ukraine weiterzugeben.[11] Während Bern offenkundig seine Neutralität nicht vollständig aufgeben will, stünde Tokio im Fall einer kriegerischen Eskalation des Konflikts zwischen den USA und China bei einer Reduzierung seiner Patriot-Bestände zugunsten der Ukraine ohne ausreichende eigene Verteidigung da.
Der Weg in den Krieg
Ersatzweise dringen auch deutsche Politiker darauf, mit der Ausweitung des Einsatzradius‘ deutscher Waffen oder gar mit den eigenen Streitkräften direkt in den Krieg einzugreifen. So fordert der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, die Ukraine solle deutsche Waffen künftig für Angriffe auf russisches Territorium nutzen dürfen.[12] Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter wiederum dringt darauf, westliche Staaten – darunter wohl auch Deutschland – sollten die „eigene Luftabwehr“ auf einen „Korridor von 70 bis 100 Kilometern“ im Westen der Ukraine ausdehnen.[13] Sowohl mit der Bereitstellung von Waffen für Angriffe auf Ziele in Russland als auch mit Operationen deutscher Soldaten gegen russische Ziele – so etwa russische Raketen – träte die Bundesrepublik aktiv in den Krieg gegen Russland ein. Treffen Äußerungen der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas zu, dann haben einige westliche Staaten dies bereits getan: Es gebe Länder, deren Soldaten bereits ukrainische Militärs auf ukrainischem Territorium ausbildeten, also direkt im Kriegsgebiet operierten, teilte Kallas kürzlich mit.[14] Dies löse freilich nicht automatisch die Beistandsklausel nach Artikel fünf des Nordatlantikvertrags aus; die erwähnten, aber nicht namentlich genannten Staaten handelten noch auf eigenes Risiko. Das wäre dann womöglich auch bei einer Kriegsbeteiligung der Bundeswehr der Fall.
[1] Mehrere Staatschefs kündigen Teilnahme an Ukraine-Konferenz an. srf.ch 26.05.2024.
[2] S. dazu Das Schweizer PR-Event für die Ukraine.
[3] Alexandra Brzozowski: Why Switzerland’s Ukraine peace summit might struggle with no-show concerns. euractiv.com 05.05.2024.
[4] Kreml leakt schon Schlusserklärung des Ukraine-Gipfels. nau.ch 26.05.2024.
[5] Brazil and China present joint proposal for peace negotiations with the participation of Russia and Ukraine. gov.br 23.05.2024.
[6] S. dazu „Auf der Seite der Diplomatie“ (III).
[7] Anton Troianovski, Adam Entous, Julian E. Barnes: Putin Quietly Signals He Is Open to a Cease-Fire in Ukraine. nytimes.com 23.12.2023.
[8] Michael Crowley: U.S. Rejects Putin’s Latest Call for Ukraine Negotiations. nytimes.com 09.02.2024.
[9] S. dazu Kein Wille zum Waffenstillstand.
[10] Guy Faulconbridge, Andrew Osborn: Exclusive: Putin wants Ukraine ceasefire on current frontlines. reuters.com 24.05.2024.
[11] Matthias Wyssuwa: Raketen in Richtung Europa. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.05.2024.
[12], [13] „Weitere Manifestation russischen Wahnsinns”. Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.05.2024.
[14] Ben Hall, Henry Foy: Nato training soldiers in Ukraine does not escalate war, says Estonian PM. ft.com 20.05.2024.