Umwelt im Krieg: Internationales Recht
Von Helga Merkelbach
Der Krieg in Gaza wird in Medien vorwiegend mit Blick auf Todesopfer und Zerstörung (ökonomischer Schaden) betrachtet. Politiker:innen schlagen sich auf die eine oder andere Seite und lenken ihren Fokus entweder auf die Sicherheit Israels und die Rettung der verbliebenen Geiseln oder setzen auf die Freiheit Palästinas und beklagen den Tod von inzwischen über 1 % der Bevölkerung. Selbst bei intensiver Recherche stößt man auf nur wenige Untersuchungen, die die Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt in Gaza und in der Region, auf das Klima im Nahostraum und darüber hinaus haben könnte. Kurz gesagt: auf ein Ökosystem, dessen Zerstörung in erster Linie das Überleben der Menschen in Gaza direkt betrifft, in zweiter Linie aber auch das von Israelis und anderer Nachbar:innen nicht unberührt lässt und letztlich mit CO2 Emissionen sowie anderen per Wind fortgetragenen Schadstoffpartikeln der Erde und allen Erdenbürger:innen zusetzt.
UNEP stellte einer Untersuchung von Kriegsfolgen für die ukrainische Umwelt voran, dass Krieg von Natur aus zerstörerisch wirkt. Dazu gibt es internationales Recht, das Exzesse von Umweltzerstörung zu unterbinden versucht. Zum Beispiel sind im Zusatzprotokoll der Genfer Konvention von 1949 die Artikel 35.3 und 55.1 nachzulesen: Staaten verpflichten sich, keine Kriege zu führen, die weit verbreitete, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen.
Seit dem Vietnamkrieg existiert der Begriff „Ökozid“, doch wartet er noch auf internationale Anerkennung als Kriegsverbrechen.
Und was hülfe es zerstörter Natur, wenn Täter bestraft würden? In Vietnam hat sich das Ökosystem trotz Wiederaufforstung nach über einem halben Jahrhundert noch nicht erholt. Auf den Schlachtfeldern vom Stellungskrieg 1914-18 wachsen bis heute nur noch drei Pflanzenarten.
Umwelt in Gaza vor dem 7. Oktober 2023
Gazas Ökosystem war schon vor dem 7. Oktober 2023 mindestens überstrapaziert und im Teilbereich Wasser schon zerstört.
Der Gazastreifen ist mit 365 km² und 2,1 Mio. Einwohner:innen vergleichbar mit der Größe des Bundeslandes Bremen, das allerdings nur gut 700.000 Einwohner:innen hat. 81 % der Gazaner:innen haben seit 1947/48 Flüchtlingsstatus und werden über die UN Flüchtlingsorganisation UNRWA versorgt (Schulen, Gesundheitseinrichtungen).
Der Mittelmeerraum, eigentlich die Wiege der Zivilisation wo die Neolithische Revolution stattfand, also der Übergang von Jagen und Sammeln zu Sesshaftwerden und Anbau von Getreide und Zucht von Tieren, dieser Raum erwärmt sich heute zwanzig Mal schneller als der Rest der Welt. Das betrifft etwa 550 Millionen Menschen. Die globalen Temperaturen sind seit vorindustrieller Zeit um 1,1° gestiegen, in Israel und Palästina hingegen um 1,5°. Bis zum Ende des Jahrhunderts wird mit einem Anstieg von 4°C gerechnet. Bis 2050 wird weiter 20 % weniger Regen fallen als jetzt, es wird längere und häufigere Dürrezeiten geben. Das bedeutet zunehmend entleerte Aquifer, ausgelaugte Böden und wenn nichts zur Abfallentsorgung getan wird, werden Grundwasser und Boden kontaminiert. Ob diese besondere Situation des Nahen Ostens schon mit den vergangenen Kriegen zusammenhängt, müsste untersucht werden. Während des Golfkrieges (1991) brannten über 700 Erdölquellen, 240 Milliarden Liter Öl, mit einer Rauchwolke von 1000 km mal 400 km gelangten giftige Partikel in die Atmosphäre, wurden fortgetragen und /oder ließen sich auf Pflanzen Tieren, Boden, Menschen für ungewisse Zeit in unbekannter Distanz vom Kriegsort nieder. Seit dem Golfkrieg kommen Dürren in Israel und Palästina in dichteren Zeitabständen und halten länger an als in Jahrzehnten zuvor.
Boden
Trotz der grundsätzlichen klimatischen Voraussetzungen und der sich schon verschlechternden Bedingungen ist in Gaza bis 2005 bewiesen worden, dass Landwirtschaft möglich ist und eine große Zahl Menschen ernähren kann. Israelische Siedler:innen produzierten auf Wiesen, Feldern und in Gewächshäusern Milchprodukte für Israel und sogar Obst, Gemüse und Blumen für Export. Mit Abzug der Siedler:innen wurden fast alle Produktionsanlagen und Gewächshäuser demontiert. 2006 setzte, nach den von Israel nicht anerkannten Wahlen der Hamas als Regierung in Gaza, die israelische Blockade ein. Ein- und Ausfuhr unterlagen israelischen Überprüfungen und gingen massiv zurück.
Palästinensische Bauern produzierten v.a. im Norden fast ausschließlich für die Selbstversorgung von Gaza. Israelisches Militär wiederum besprühte Bäume mit Pestiziden oder planierte sie weg, behinderte Bauern am Zugang zu ihren Feldern. Begründet wurde das damit, dass gewalttätige Palästinenser:innen sich, gedeckt vom Bewuchs, an die Grenze im Norden und Osten schlichen, um von dort in guter Reichweite Raketen auf israelische Orte abzufeuern.
Die fünf Kriege (2008/9, 2012, 2014, 2021, 2022) taten ein Übriges, kombiniert mit Blockade, die Wiederaufbau erschwerte, um den Boden für Landwirtschaft zu zerstören, mit Explosiva zu gefährden und zu kontaminieren. Zu Mauer und Sicherheitszaun um ganz Gaza herum (fertiggestellt im Dezember 2021) gehört auch eine Pufferzone, also ein leerer Streifen und Felder, die die Bauern nicht regelmäßig bearbeiten dürfen.
Wasser
Die vorläufigen Regelungen der Osloer Verträge (1994/95) sahen vor, dass Israel eine bestimmte Menge Wasser an die Palästinenser:innen liefern sollte. Da die Verhandlungen nie wie vorgesehen fortgesetzt wurden und die Menge daher nicht der zunehmenden Einwohner:innenzahl angepasst wurde, ist Gaza mit Wasser unterversorgt. Wiederum haben die fünf bisherigen Kriege auch Wasserinfrastruktur zerstört, die nur teilweise nach den Kriegen überhaupt wieder hergestellt wurde.
Grundwasser aus dem Küstenaquifer wurde über die Gebühr ausgeschöpft. Dürren trugen dazu bei, dass es nicht wieder voll aufgefüllt wurde. Kriegsmaterial, Abwasser und Müll verseuchten das Grundwasser. Seit der Blockade gelangt zu wenig Baumaterial für Entsorgungseinrichtungen nach Gaza, die die Verschmutzung und Kontaminierung des Wassers hätten einschränken oder unterbinden können.
Obendrein wurde die Sicherheitsanlage um Gaza herum höchstwahrscheinlich auch als Mauer bis zu ca. 40 m tief in den Boden hineingerammt, um die Hamas am Tunnelbau und unterirdischen Zugang nach Israel zu hindern. D.h. die Mauer geht durch die Grundwasserschicht und behindert den Wasserfluss des Aquifers von Ost (Israel) nach West (Gaza). Bei heftigem Regen im Winter waren Bilder zu sehen, wie sich Wasser oberirdisch an der Betonmauer aufstaute.
All diese Umstände führten dazu, dass schon vor dem 7. Oktober 2023 ca. 96 % des Trinkwassers in Gaza kontaminiert war, weit über die Vorgaben der Weltgesundheitsbehörde hinaus. Gazaner:innen verhalfen sich mit Tausenden von Filteranlagen in Haushaltsgrößen zu gereinigtem gesundem Wasser.
Doch durch den Anstieg des Meerwasserspiegels und das Absinken des Grundwasserspiegels dringt unwiderruflich Meerwasser ein und versalzt Wasser und Boden.
Im Juni 2023 wurde eine Meerwasserentsalzungsanlage im Süden von Gaza erweitert, EU und UNICEF waren an der Finanzierung beteiligt.
Abfallentsorgung und das marine Ökosystem des Mittelmeers
Müll und Abwasser waren ebenso schon vor dem 7.10.2023 ein großes Problem. Internationale Hilfe hatte es schwer sich gegenüber Israel durchzusetzen und Material für Kläranlagen nach Gaza einzuführen. Israel befürchtete dual use, also möglicher Verwendung von Bauteilen für militärische Zwecke der Hamas. Kriege bedeuteten weitere Rückschläge für Müll- und Abwasserentsorgung. Also wurde Abfall ins Mittelmeer entsorgt.
Fischer durften schon lange nicht mehr die 20 nautischen Meilen nutzen, die im Gaza-Jericho-Abkommen von 1994 vereinbart worden waren. Israel befürchtete, Fischer könnten der Hamas mit ihren Booten Waffen zustellen, daher legte es die Sicherheitszone auf drei nautische Meilen fest. Von 10.000 registrierten Fischern im Jahr 2000 gingen 3.500 im Jahr 2023 noch ihrer Arbeit nach. Doch sie fischten zunehmend im wahrsten Sinn des Wortes im Trüben.
Wie stark das Meer vermüllte, lässt sich daran ablesen, dass die nahe an der Grenze gelegene israelische Meerwasserentsalzungsanlage in Ashkelon so manches Mal ihren Betrieb einstellen musste, weil Müll aus Gaza ihre Siebe versiffte. Israel kann mittlerweile 80 % seiner Bevölkerung mit Trinkwasser aus Meerwasserentsalzungs-anlagen versorgen. Allerdings wird kaum auf Bedenken von Umweltschützer:innen gehört, die befürchten, dass auf lange Sicht das Ökosystem des Meeres beeinträchtigt wird, weil sich nach Wasserentnahme alle Mineralien, auch Salze, in höherer Konzentration im Meer befinden als die marine Welt erträgt.
Über die Bereiche Grundwasser, Boden, Luft und Meer kann man also schon vor dem jetzigen Krieg behaupten, dass die Luft mäßig / periodisch (von Kriegen) betroffen war. Der Boden ist nur noch eingeschränkt für Landwirtschaft nutzbar. Das Grundwasser ist zu fast 100 % nicht mehr trinkbar. Das marine System ist angeschlagen.
Auswirkungen des derzeitigen Gaza-Krieges auf Umwelt und Klima
Im Vergleich zu den vorigen Gaza-Kriegen (und auch im Vergleich zu anderen Kriegen wie 1. und 2. Weltkrieg, Vietnam- oder Golfkrieg) ist der jetzige Gaza-Krieg exzeptionell in Quantität und Qualität der Kriegsführung, sowie Intensität auf kleinem und stark besiedeltem Raum. Wissenschaft und UNEP sind sich schon jetzt einig, dass Gaza in kürzester Zeit „unlivable“ geworden ist, d.h. hier nichts und niemand mehr leben kann, keine Pflanzen, keine Tiere in Biodiversität, keine Menschen (egal ob sie israelische oder palästinensische Nationalität haben).
Boden
Allein in den ersten sechs Wochen warf Israel 29.000 Bomben ab. Zum Vergleich: Die USA verwendeten im Verlauf eines Jahres 29.199 Bomben im Irak. Das ukrainische Verteidigungsministerium verzeichnete einen Anstieg auf rund 3.500 Bombenabwürfe in den ersten drei Monaten 2024. In Gaza werden hauptsächlich Bomben von bis zu 1.000 kg verwendet, die tief in den Boden eindringen und dort Beton (von Tunnelanlagen) in größerer Reichweite zerschlagen sollen. Im Vietnamkrieg verwendeten die USA 250 kg Bomben, die Krater mit neun Meter Durchmesser in die Erde graben. Das Ökosystem in Vietnam konnte allen Bemühungen zum Trotz nach fünfzig Jahren an den Kraterstellen noch nicht wiederhergestellt werden. – In Gaza reißen die Bomben Krater von zwölf Meter Durchmesser in die Erde. Satellitenbilder zeigen im Norden und der Mitte Gazas dicht beieinander liegende Krater.
Weit über die Hälfte (Schätzungen sind ungenau, möglicherweise sind es zwei Drittel) der Wohneinheiten sind zerstört, Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen, Produktionsstätten – mit ihnen alle kleinen Wasserfilter, aber ebenso die Meerwasserentsalzungsanlage und Entsorgungseinrichtungen. Sowieso beschränkte Israel die Energiezufuhr, Wasserlieferungen, zerstörte Pumpen und Entsorgungseinrichtungen. Das macht die humanitäre Situation so katastrophal. Die Zerstörung der Gebäude setzt gefährliche Substanzen frei, z.B. Baumaterialien wie Asbest oder Schwermetalle, Leichengift, nicht explodierte Munition, die den Boden kontaminieren und die Produktion von gesunden Nahrungsmitteln für viele Jahrzehnte ausschließen wird. Selbst Wohnen kann dort in Zukunft die Gesundheit gefährden.
Das israelische Militär hat im Norden und Osten von Gaza inzwischen die Pufferzone verbreitert und dafür landwirtschaftliche Nutzfläche freigeräumt, um eine schnelle Zufahrtsstraße für die Armee /für Nachschub zu schaffen. Die fruchtbare Schicht des Bodens ist oder wird dadurch auf Dauer abgetragen, hier soll aus militärischem Interesse nichts mehr wachsen.
Wasser
Boden und Wasser sind gleichermaßen von Kontaminierung durch militärisches Material betroffen. Wasser war sowieso nur nach Filtern genießbar. Nun sind Filteranlagen zerstört oder es fehlt an Treibstoff, um sie zu benutzen. Wie leer das Aquifer ist, lässt sich daran erkennen, dass die Menschen in Flüchtlingslagern im Winter 2023/24 Regenwasser auffingen, das von den Zelten herunterlief.
Zusätzlich hatte Israel schon damit begonnen, die Hamas Tunnel mit Meerwasser zu fluten, nahm aber davon wieder Abstand. Möglicherweise weil mit der Flutung der Tragfähigkeit künftiger Gebäude auf Dauer Schaden zugefügt würde. – Bislang hat die israelische Regierung keine Pläne vorgelegt, was sie nach einem Sieg über die Hamas mit Gaza anfangen wollen. Vielleicht ist ihr bei der Test-Flutung klar geworden, dass selbst eine Annexion des Gazastreifens nach Kriegsende sie vor Probleme stellt, die noch kein Krieg auf der Welt nach einem Sieg je bereitet hat.
Abwasser, Müll und marines Ökosystem
Der größte Teil der Bevölkerung war kurze Zeit nach Kriegsbeginn obdachlos. Die große Mehrheit begab sich auf die Flucht. Bald wurde gemeldet, dass sich Hunderte von Menschen eine Toilette in Notunterkünften teilen. Da Israel kaum Treibstoff an den Grenzübergängen durchließ, versagten bald Pumpen und damit die Abfall- und Abwasserentsorgung. Schon Anfang November 2023 tauchten Zahlen über den Umfang von ungeklärtem Abwasser und Müll auf, die an Land anfallen oder einfach ins Meer gelassen werden. UNEP spricht von mindestens 100.000 m³ pro Tag. Das führt zu hoher Konzentration von Chlorophyll und organischen Schwebstoffen in den Küstengewässern sowie zu Magen-Darm-Parasiten.
Solche Mengen werden auf Dauer gewiss nicht von der Mauer im Mittelmeer zwischen Gaza und Israel abgehalten. Israel plant eine Erweiterung der Meerwasserentsalzungsanlage in Ashkelon, um dort doppelt so viel Wasser wie jetzt zu produzieren. Also dürfen die Siebe nicht verstopfen. Israel hofft auch wieder auf Tourist:innen nach dem Krieg – ob die Strände nördlich von Gaza müllfrei sein werden und das Wasser zum Baden geeignet sein wird, ist nicht klar. Sichtbar ist allerdings, dass an der Küste vor Gaza das Ökosystem in diesen Monaten den Todesstoß versetzt bekommt.
Die UN hatte vor noch nicht allzu langer Zeit begonnen, das Wadi Gaza als Naturreservat und Erholungsgebiet herzurichten; jetzt ist es gekippt, das Ökosystem zerstört.
Im Mai verkündete die israelische Regierung, dass in Eilat mehr Öltanker anlanden sollen, vermutlich um mehr Treibstoff für Militärfahrzeuge und Flugzeuge einzuführen. Das wird das marine Ökosystem im Roten Meer angreifen, ein Schnorchel- und Tauchparadies für Tourist:innen, die dort bislang die Korallenwelt bewundern konnten.
Luft
Das größte Schweigen wird zurzeit über die Umweltschäden per Luft bewahrt. Während Kontaminierung von Boden und Wasser durch die Mauer um Gaza noch nicht oder weniger auf Boden und Wasser nördlich und östlich des Gazastreifens, also auf Israel übergreift, kann Rauch und mit ihm alle freigesetzten gefährlichen Partikel sich über die Mauer hinwegbewegen und sich in Israel und anderswo fern und nah auf Boden, Pflanzen, Tier und Mensch niederlassen. Noch sind die Evakuierten aus Südisrael nicht zurückgekehrt. Nationale und internationale Freiwillige haben in der Kibbuzlandwirtschaft ausgeholfen, die Ernte einzufahren – aber ist das Gemüse oder die Milch von dort noch schadstofffrei genießbar? Das ist anscheinend noch nicht geprüft oder bekannt gemacht worden.
Allenfalls ließe sich analog aus Analysen zum Ukrainekrieg schließen, dass es untersucht werden müsste. Eine Studie vom Leibnizinstitut in Leipzig in Kooperation mit einer Universität in Shanghai weist nach, dass nach zwei russischen Großangriffen auf die Ukraine zu Beginn des Krieges im Februar 2022 der Luftqualitätsindex (AQI), also der Anteil von gesundheitsgefährdenden Schadstoffen, nicht nur in unmittelbarer Umgebung des Angriffs im Durchschnitt um zehn Prozent erhöht war. Die schädlichen Partikel sind sehr leicht, also können sie hoch in die Luft steigen und davongetragen werden und ebenso leicht wieder absinken und sich auf Boden, Pflanzen, Tieren niederlassen, bzw. beim Menschen auf die Haut oder in die Augen oder in die Nase gelangen. In Städten Westeuropas lag ein paar Tage nach den beiden untersuchten Angriffen der AQI gefährlich über den Werten, die die Weltgesundheitsbehörde WHO für gesund erachtet. – Von Tschernobyl ist uns vertraut, dass für Schadstoffe ein paar Tausend Kilometer keine Hürde darstellen.
Zu den Schadstoffen gehören Asbest, Schwermetalle, radioaktive Substanzen und viele andere. Immer neue Bomben pulverisieren die Bauelemente stets neu, mischen sie auf, verteilen sie um, neue chemische Verbindungen entstehen. Über alle Monate des Krieges hat man keine Daten erheben können, daher sind keine sicheren Aussagen über die Zusammensetzung von Partikeln möglich. Nur 9/11 wurde als einzelnes Ereignis von Beginn an dokumentiert. Daraus und aus Untersuchungen nach anderen Kriegen kann man über Langzeitwirkung auf menschliche Gesundheit Analogieschlüsse für Gaza ziehen. Bei Frauen, insbesondere schwangeren und stillenden Frauen kommt es zu sensibleren Reaktionen und sie können Empfindlichkeiten, Allergien, Krankheiten auf ihre Babys übertragen. Babys können mit Missbildungen zur Welt kommen. Genveränderungen sind nicht auszuschließen. Von Hiroshima, Nagasaki und aus dem Vietnamkrieg weiß man, dass es über Generationen hinweg vererbte Krankheitsbilder geben kann.
Auf Pflanzen wirken die Schadstoffe wie Pestizide. Es wird davon ausgegangen, dass in Gaza sowohl Kulturpflanzen als auch die natürliche Pflanzendecke ausradiert sind. Was die Tierwelt anbelangt, ist zu vermuten, dass Biodiversität und einheimische wilde Tiere nicht mehr existieren, aber z.B. Ratten sich vermehren.
Die palästinensischen Menschen in Gaza leben tagtäglich im Rauch von Explosionen und Feuern, ebenso die israelischen Soldat:innen im Bodeneinsatz. Schadstoffe kennen keine nationalen Grenzen, also bedroht der massive Kriegseinsatz in Gaza ebenso die Gesundheit von Israelis und anderen Menschen in der Region.
Eine Gruppe von Wissenschaftler:innen hat Anfang 2024 eine vorsichtige Einschätzung zu CO2-Emissionen für die ersten 60 Tage, dann Mitte 2024 eine aktualisierte Einschätzung für die ersten 120 Tage herausgegeben. Sie unterscheiden unmittelbare Emissionen der ersten beiden Kriegsmonate, mittelfristige Emissionen von sicherheitsrelevanten Strukturen (Tunnel, Mauer) und langfristige Kohlenstoffkosten beim Wiederaufbau.
Mit dem Ruf nach Kriegsende wird die Hoffnung verbunden, den Menschen schnellstmöglich wieder ein normales Leben zu ermöglichen. Kaum jemand macht sich klar, dass jede weitere Zerstörung auch nach dem Krieg mit dem Wiederaufbau CO2 Emissionen und damit fortschreitende Klimaerwärmung bringt. 156 000 bis 200 000 Gebäude wären wiederaufzubauen, was zwischen 46,8 Millionen und 60 Millionen Tonnen CO2 Emissionen kostet.
Für die ersten 120 Tage von Oktober 2023 bis Februar 2024 werden allein 45 000 abgeworfene Bomben gezählt, zwischen 150 und 1000 kg schwer, 100 000 Artillerie-Geschosse (800 Tonnen Stahl und Explosiva). Die am häufigsten verwendete Bombe der israelischen Armee ist die MK-82, die 90 kg TNT und 140 kg Metall und andere Stoffe enthält. Bei Annahme dieser Durchschnittsgröße von Bomben lassen sich daraus zwischen 70 165 und 86 000 Tonnen CO2 Emissionen erreichen. Schließt man alle zum aktuellen Krieg dazu gehörenden Aktivitäten (Transport- und Aufklärungsflüge, Panzer und andere Militärfahrzeuge, Strom, Treibstoff, Energieverbrauch der humanitären Hilfslieferungen) dann belaufen sich die CO2 Emissionen auf zwischen 420 265 und 652 552 Tonnen. Z.B. werden dabei 244 Cargo-Flüge von den USA nach Israel mit 10 000 Tonnen Lieferungen mit durchschnittlich 159 107 Tonnen CO2 angesetzt. Die USA lieferten zu Beginn des Krieges 5000 MK-85 Bomben, also 1000 kg schwere Bomben. Für 9 500 Qassam-Raketen der Hamas ergeben sich zwischen 713 und 1 140 Tonnen CO2.
Auch die Einrichtung militärischer Sicherheitsvorkehrungen vor dem Krieg sind auf Kosten des Klimas gegangen: 500 km Hamas Tunnel, mit 10-20 cm dicken Wänden, 2 m hoch, 1 m breit, kosteten zwischen 174 600 und 478 800 Tonnen CO2. Israels „Iron Wall“, 65 km lang, 6 m hoch, wenn sie nur 3 m in den Boden hinein reicht, 274 232 bis 312 387 Tonnen CO2.
Im Vergleich zu diesen kriegsbedingten Zahlen: Deutschland gibt für das Jahr 2023 674 000 000 Tonnen CO2 an.
Schlussbemerkung
Gemessen am Gebot internationalen Rechts die Umwelt zu schonen, darf wohl festgestellt werden, dass dem keineswegs genügt wird, auch schon vorher unter Besatzung und Blockade nicht.
Ob, was derzeit geschieht die Bezeichnung „Ökozid“ verdient, wäre zu diskutieren.
Ich erlaube mir die Beurteilung, dass die israelische Regierung ihr Ziel, die Hamas auszulöschen, um die Existenz des Staates Israels und Sicherheit der israelischen Menschen zu gewährleiten, nach über einem halben Jahr noch nicht erreicht hat. Sehr wohl hat sie aber der palästinensischen Zivilbevölkerung unermesslichen Schaden zugefügt. Sie hat den Lebensraum für Überlebende dieses Krieges zerstört. Sie hat Boden, Wasser, Atmosphäre und Meer dauerhaften, kaum in absehbarer Zeit wiedergutzumachenden Schaden zugefügt. Die Zerstörung macht vor den Grenzen nicht Halt, auch israelische Bürger:innen und das Ökosystem in israelischen Grenzen bekommen die Folgen zu spüren; auch die Umwelt und die Menschen in den anderen angrenzenden Staaten werden darunter zu leiden haben. Zu guter Letzt hat sie per CO2 Emissionen die Klimaerwärmung zu einem Zeitpunkt vorangetrieben, an dem es eigentlich gälte die Erde mit allen verfügbaren Mitteln zu retten.
Mittlerweile ist bekannt, dass Militär für 5,5 % aller CO2 Emissionen der Welt verantwortlich ist, ohne aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen. Der Anteil ziviler Luftfahrt macht vergleichsweise 2 % aus. Die Pariser Beschlüsse enthalten keine Verpflichtung, dass Staaten der UN ihre militärischen Emissionen benennen müssen; freiwillig tun es nur vier Länder und es ist nicht garantiert, ob sie vollständige Auskunft geben. Um die Erwärmung der Welt zu stoppen, müssten diese Angaben verpflichtend sein, um daraus wiederum abzuleiten, dass an die Stelle von Kriegen andere Konfliktlösungen treten müssen und dringend abgerüstet werden muss.
UNEP ist von der palästinensischen Regierung gebeten worden, die Umweltfolgen des Gaza-Krieges zu untersuchen. UNEP kommt, auch wenn die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, für Gaza zur gleichen Schlussfolgerung wie zuvor bei einer vorläufigen Studie in der Ukraine:
Sofortige Beendigung aller Kriegshandlungen!
Quellen:
Die Forderung „Ceasefire Now!“ wegen der Umwelt- und Klimagefährdung wird in einem Kontext vom Thinktank zu Klimapolitik eingebettet: https://www.climateandcommunity.org/ceasefire-now
UNEP (United Nations Environment Programme)
UNEP Darstellung zur Ukraine, 14.10.2022: https://www.unep.org/resources/report/environmental-impact-conflict-ukraine-preliminary-review
UNEP zur Situation von Umwelt in den besetzten palästinensischen Gebieten 2020 https://www.unep.org/resources/report/state-environment-and-outlook-report-occupied-palestinian-territory-2020
UNEP, erste Eindrücke zu Gaza, 6.3.2024 https://www.euronews.com/green/2024/03/06/the-un-is-investigating-the-environmental-impact-of-the-war-in-gaza-heres-what-it-says-so-
Medien, die sich auf UN beziehen
29.03.2024 https://www.theguardian.com/environment/2024/mar/29/gaza-israel-palestinian-war-ecocide-environmental-destruction-pollution-rome-statute-war-crimes-aoe
5.12.2023 https://www.aljazeera.com/news/2023/12/5/is-israels-war-on-gaza-also-hurting-the-climate
Forensic Architecture, Auswertung von Satellitenbildern zur Bodenzerstörung / Landwirtschaft 29.03.2024 https://forensic-architecture.org/investigation/ecocide-in-gaza
Dr Saeed Bagheri zu internationalem Recht https://verfassungsblog.de/israel-war-gaza-ecocide-environment/
Wissenschaftliche Berechnungen zu CO2-Emissionen (die ersten 60 Tage des Krieges) https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4684768
Aktualisierte Daten (die ersten 120 Tage) https://www.qmul.ac.uk/busman/media/sbm/documents/Gaza_Carbon_Emissions.pdf
Auf Wikipedia erscheinen stetig aktuelle und auskunftsträchtige Hinweise auf Ressourcen: https://en.wikipedia.org/wiki/Environmental_damage_caused_by_the_Israel%E2%80%93Hamas_war