Schweizer Ukraine-Konferenz verfehlt zentrale Ziele: Es gab weniger Teilnehmer als geplant, die Schwergewichte des Globalen Südens unterzeichneten die Abschlusserklärung nicht. Die Ukraine gelangt nicht in eine „Position der Stärke“.

Die im Westen mit großem Gestus angekündigte Ukraine-Konferenz in der Schweiz ist in zentralen Punkten gescheitert. Trotz großem Einsatz und der Versendung von mehr als 160 Einladungen ist es lediglich gelungen, 92 Staaten und acht internationale Organisationen zur Teilnahme zu bewegen. Dabei trat allein schon die EU in dreierlei Gestalt (EU-Kommission, Europäischer Rat, Europaparlament) und mit all ihren Mitgliedstaaten auf. Die Abschlusserklärung wiederum wurde lediglich von 78 Staaten unterzeichnet; die Schwergewichte des Globalen Südens – etwa Indien, Brasilien, Südafrika, Saudi-Arabien – verweigerten sich. Dies reicht nicht aus, um das Ziel zu erreichen, das die westlichen Staaten mit der Konferenz („Friedensgipfel“) verfolgten – eine erdrückende Mehrheit für die Forderungen Kiews zu schaffen, um Moskau diplomatisch unter Druck zu setzen sowie die Ukraine auf politischem Weg in eine „Position der Stärke“ für mögliche Friedensgespräche zu bringen. Der Westen hatte im vergangenen Jahr versucht, das mit einer Unterstützung der ukrainischen Militäroffensive auf kriegerischem Weg zu erreichen, war damit aber gescheitert.

„Aus einer Position der Stärke“

Die Schweizer Ukraine-Konferenz schließt an eine Reihe vorbereitender Zusammenkünfte an, die Ende Juni vergangenen Jahres begonnen haben – mit Treffen erst in Kopenhagen [1], dann im saudischen Jiddah [2], im maltesischen Valletta [3] und im Januar in Davos. Auf westliche Initiative gestartet, sollten die Veranstaltungen die damalige militärische Offensive der ukrainischen Streitkräfte begleiten. Mit der Offensive war ursprünglich der Plan verbunden, Russland zumindest einige empfindliche Schläge zuzufügen, auf diese Weise die russische Position zu schwächen und Kiew aus einer Position der Stärke in Verhandlungen mit Moskau über eine baldige Beendigung des Krieges eintreten zu lassen.[4] Diese abschließenden Verhandlungen sollten mit den Treffen in Kopenhagen, Jiddah, Valletta und Davos vorbereitet werden. Der Plan ging nicht auf, weil die Kiewer Offensive scheiterte. Mittlerweile ist Russland militärisch erkennbar in die Offensive gelangt. Eine Niederlage der Ukraine zeichnet sich ab, weshalb westliche Waffen für Angriffe auf russisches Territorium freigegeben wurden und ein Kriegseinsatz westlicher Truppen diskutiert wird.[5] Von der erstrebten militärischen Position der Stärke ist Kiew aktuell weiter entfernt denn je.

Diplomatie als Ersatz

Deshalb entstand der Plan, die Ukraine, wenn schon nicht militärisch, so doch wenigstens politisch in eine Position der Stärke zu bringen. Dazu bot sich die Schweizer Konferenz, als angeblicher Friedensgipfel angepriesen, an. Grundlage der Zusammenkunft sollte die sogenannte Friedensformel des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sein, eine Liste von Forderungen, die unter anderem Russlands Rückzug aus allen seit 2022 besetzten Gebieten und von der Krim vorsieht, außerdem die Zahlung von Reparationen sowie die Auslieferung tatsächlicher oder angeblicher russischer Kriegsverbrecher. Derlei Forderungen hätten lediglich nach einer bedingungslosen Kapitulation Russlands Aussicht auf Erfolg. Das Ziel war es zuerst, auf der Konferenz möglichst viele Staaten – gerade auch solche aus dem Globalen Süden – hinter die Selenskyj’sche „Friedensformel“ zu scharen und damit Moskau diplomatisch zu isolieren bzw. in eine Position der Schwäche zu bringen. Allerdings ging das Konzept nicht auf. Einflussreiche Staaten des Globalen Südens wie Brasilien, Indien, China und Südafrika sagten entweder ihre Teilnahme schon frühzeitig ganz ab oder kündigten an, Fachpersonal, nicht aber – wie vom Westen eigentlich gewünscht – ihre Staats- bzw. Regierungschefs zu entsenden.

„Frieden braucht beide Parteien“

Überhaupt blieb die Zahl der Zusagen lange Zeit überaus gering – bis die Organisatoren begannen, das Ziel der Konferenz deutlich herunterzuschrauben. So hieß es nun nicht mehr, man lege der Veranstaltung die gesamte Selenskyj’sche „Friedensformel“ zugrunde. Kurz vor Konferenzbeginn ließen Schweizer Regierungskreise durchsickern, man wolle sich bloß auf einige ausgewählte Elemente der „Friedensformel“ fokussieren, etwa Bestimmungen zur Sicherung von Agrarlieferungen über das Schwarze Meer und zur nuklearen Sicherheit, eine Übereinkunft über einen Gefangenenaustausch.[6] All dies sind Elemente, die auch in dem von China im Februar 2023 vorgelegten Zwölf-Punkte-Plan „zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise“ enthalten sind; ihre Notwendigkeit ist unstrittig. Hinzu kam, dass es nun auch immer wieder hieß, man wolle in Zukunft von der Praxis Abstand nehmen, Russland zu als „Friedensgipfel“ etikettierten Veranstaltungen nicht einzuladen. „Für einen Frieden braucht es beide Parteien am Tisch“, räumte die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd am 7. Juni in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein. Sie fuhr fort: „In einer möglichen Folgekonferenz könnte dann auch Russland dabei sein.“[7]

Wahlkampf statt Friedensgipfel

Erst die Abkehr von der Selenskyj’schen „Friedensformel“ sowie die Bereitschaft, künftig auch Russland zu Friedensverhandlungen einzuladen, hat die Zahl der Anmeldungen für die Schweizer Ukraine-Konferenz ansteigen lassen. Am Wochenende hieß es, auf dem Treffen seien von 160 eingeladenen Staaten 92 präsent, 57 mit ihren Staats- und Regierungschefs. Bei diesen handelte es sich freilich vorwiegend um Staats- und Regierungschefs aus Europa und aus Ländern, die – wie Japan oder Singapur – dem Westen eng verbunden sind. Der Plan, die Präsidenten Brasiliens, Indiens sowie der Türkei mit einer Einladung zum G7-Gipfel nach Italien zu locken, um ihnen einen unmittelbar darauf folgenden Abstecher in die Schweiz zu erleichtern, ging nicht auf: Alle drei reisten zum G7-Gipfel an, flogen aber direkt aus Apulien heim. Nicht einmal der Präsident der heute in hohem Maße von den USA abhängigen Philippinen, Ferdinand Marcos, nahm an der Ukraine-Konferenz teil, obwohl Selenskyj sich erst kürzlich eigens nach Manila begeben hatte, um ihn zur Anreise zu bewegen.[8] Weil die entscheidenden Staaten des Globalen Südens allenfalls mit Außenministern oder sogar nur mit Ministerialbeamten vertreten waren, zog letztlich auch US-Präsident Joe Biden ein Wahlkampftreffen in Kalifornien der Schweiz-Reise vor.

Kompromisse erforderlich

Auch inhaltlich mussten die westlichen Staaten auf dem sogenannten Friedensgipfel herbe Rückschläge hinnehmen. So traten zwar einige westliche Politiker unverändert als Hardliner auf. Litauens Präsident Gitanas Nausėda etwa erklärte, Russlands Streitkräfte müssten, auch wenn das derzeit „unrealistisch“ erscheine, aus allen ursprünglich ukrainischen Territorien abziehen; Moskau müsse Reparationen zahlen.[9] Saudi-Arabiens Außenminister Prinz Faisal bin Farhan hingegen – Kronprinz Muhammad bin Salman nahm nicht teil – hielt fest, ernsthafte Friedensgespräche machten „schwierige Kompromisse“ unumgänglich. Kritik übte auch der türkische Außenminister Hakan Fidan, der betonte, die Schweizer Konferenz hätte „stärker ergebnisorientiert“ sein können, wenn man Russland eingeladen hätte.[10]

Schwergewichte verweigern sich

Die Abschlusserklärung fokussierte sich zwar auf die drei erwähnten Elemente – Sicherung von Agrarlieferungen über das Schwarze Meer, nukleare Sicherheit, Gefangenenaustausch –, berücksichtigte allerdings nur ukrainische, nicht hingegen russische Interessen und kann deshalb kaum als Grundstein für weitere Verhandlungen dienen. Sie wurde auch nur von 78 Staaten unterzeichnet, darunter 42 aus Europa. Von afrikanischen Staaten etwa kamen nur elf Unterschriften. Vor allem die Schwergewichte aus dem Globalen Süden weigerten sich, die Erklärung zu unterzeichnen, so Indien, Brasilien, Mexiko, Südafrika, Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate; China hatte gar nicht erst an der Konferenz teilgenommen. Das Ziel, die Ukraine in eine Position der Stärke zu bringen, wurde damit klar verfehlt. Ganz im Gegenteil: Es hat sich erneut gezeigt, dass der Westen sogar mit äußerstem Einsatz nicht mehr in der Lage ist, globale Mehrheiten für seine Vorhaben zu mobilisieren.


[1] S. dazu Der Übergang zur Diplomatie (II).
[2] S. dazu Vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch.
[3], [4] S. dazu Die dritte Verhandlungsrunde.
[5] S. dazu Die Erweiterung des Schlachtfelds und „Einstieg in den Dritten Weltkrieg“.
[6] Mehr als 90 Staaten: Ukraine-Friedensgipfel in der Schweiz beginnt. handelsblatt.com 15.06.2024.
[7] „Für Frieden braucht es beide Parteien am Tisch“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.06.2024.
[8] Zelenskyy says Philippines to participate in peace conference. voanews.com 03.06.2024.
[9], [10] Jamey Keaten, Aamer Madhani: World leaders meet in Switzerland to discuss a Ukraine peace roadmap. Russia is notably absent. apnews.com 15.06.2024

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