Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Kirk Huffman

In Gesprächen mit pazifischen Dorfvorstehern ist oft zu hören:

„Ausländer pflegten uns zu sagen, wir bräuchten ‚Veränderung‘; dann sagten sie uns, wir bräuchten ‚Fortschritt‘, und jetzt sagen sie uns, wir bräuchten ‚Entwicklung‘. Das bedeutet in der Regel, dass sie hinter etwas her sind, das uns gehört – entweder sind es unsere Wälder oder unser Land oder das, was sich unter unserem Land befindet, oder unsere Seelen oder unsere Sprache oder unsere Kultur, oder unser Gefühl der Zufriedenheit mit unserer Lebensweise …“. (Huffman 2008: 15)

Die besagten ausländischen Vertreter*innen können von der Weltbank, der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB), ausländischen Regierungen, Holzfäller­ oder Bergbauunternehmen oder NGOs sein. Einige neuere Pfingstkirchen vertreten die gleichen entwicklungspolitischen Ansichten unter ihren Gläubigen. Das alles ist Teil einer neuen Welt des ‚ewigen Wachstums‘, in der der wahre Gott die Geldanhäufung ist. So viele Projekte im pazifischen Raum haben entweder nicht die versprochenen Ergebnisse gebracht oder sind so gründlich gescheitert, dass das Wort Entwicklung heute oft scherzhaft für etwas steht, das schief läuft.

Der Großteil der zerstörerischen Entwicklung konzentriert sich auf die größeren Inseln Melanesiens im westlichen Pazifik. In Polynesien, also im mittleren und östlichen Pazifik, und in Mikronesien im Norden sind die Inseln kleiner und verfügen über weniger Ressourcen. Bemerkenswerte Ausnahmen sind Nauru und Banaba, die durch Phosphatabbau fast zerstört wurden. In Melanesien, das die Inseln Neuguinea, die Salomonen, Vanuatu, Neukaledonien und die Grenznation Fidschi umfasst, schreitet die schreckliche Entwicklung unaufhaltsam voran. Westpapua wird abgeholzt, um Land für Palmölplantagen und die weltweit größte Kupfer­ und Goldmine im Tagebau zu gewinnen. In der Zwischenzeit sind die Einheimischen in Melanesien zahlenmäßig den armen javanischen Familien unterlegen, die im Rahmen eines von der indonesischen Regierung geförderten Transmigrationsprogramms auf die Inseln gebracht worden sind. Dieses ursprünglich von der Weltbank finanzierte Entwicklungsmodell hat zu schweren Repressionen gegen die indigene Bevölkerung Westpapuas durch das indonesische Militär und paramilitärische Kräfte geführt.

Im benachbarten Papua-Neuguinea (PNG) bringt das riesige Flüssiggasprojekt von Exxon Mobil die indigene Bevölkerung gegen sich auf, und es kommt zu einer Reihe von Skandalen um Sonderlizenzen für landwirtschaftliche Betriebe. Im jüngsten Kapitel dieser Geschichte stehen sich Landbesitzer von der Insel Neubritannien und der malaysische Abholzungsriese Rimbunan Hijau gegenüber. Die Regierung von PNG stellt sich auf die Seite des Unternehmens, dem auch eine lokale Zeitung und ein Transportbetrieb sowie ein großer neuer Hotelkomplex in der Hauptstadt Port Moresby gehören.

Ein weiteres Worst­-Case­-Szenario ist die Insel Bougainville, die von 1989 an fast ein Jahrzehnt lang von PNG­Militäroperationen heimgesucht wurde, nachdem die Inselbewohner die Panguna­Kupfermine von Rio Tinto geschlossen hatten. Jubilee Australia (2014: 11) schätzt die Zahl der Todesopfer unter den Inselbewohnern während dieser Konfliktperiode auf 10.000 bis

15.000. Australien setzt sich hinter den Kulissen immer noch für die Wiedereröffnung der Mine ein und zahlt hohe Beratungshonorare an Wissenschaftler*innen, um die inzwischen autonome Regierung von Bougainville zur Zustimmung zu bewegen. Lokalen Presseberichten zufolge wehren sich Frauen vehement gegen diese Bemühungen. Die tragische Situation auf Bougainville inspirierte 2009 den Film Avatar, und der Film Mr. Pip aus dem Jahr 2013 basiert auf diesen Ereignissen.

Abholzung und einige Bergbauaktivitäten verursachen auf den Salomonen anhaltende Probleme. Die weiter südlich und östlich gelegene Republik Vanuatu verfügt nur über wenige Bodenschätze und hat in den 1980er und 1990er Jahren zwei große asiatische Holzfällerunternehmen auf der Insel Mala Kula geschlossen, nachdem diese sich mit der lokalen Bevölkerung angelegt hatten. Allerdings wurde Vanuatu seit den frühen 2000er Jahren zur Beute ausländischer Spekulanten, die den neuen ‚Strata Title Act‘[2] missbrauchten, indem sie indigenes Land pachteten, aufteilten und an Ausländer*innen verkauften. Diese Bedrohung rüttelte die indigene Ni­Vanuatu­Bevölkerung wach, und 2006 fand ein nationaler Landgipfel statt. Ralph Regenvanu, ehemaliger Direktor des Vanuatu Cultural Centre, gründete daraufhin seine Partei für Land und Gerechtigkeit (GJP – Land and Justice Party). Im Jahr 2014 führte er als Minister für Landesangelegenheiten (Minister for Lands) strengere Gesetze ein, um indigene Besitztümer vor der Veräußerung durch kommerzielle Interessen zu schützen. Infolgedessen stellt die von Investor­ und Immobilienmakler*innen unterstützte Oppositionspartei regelmäßig Misstrauensanträge gegen die Regierung.

Das in der jüngeren Geschichte unter dem Namen Neue Hebriden bekannte Vanuatu hat die einzigartige Erfahrung gemacht, von zwei Kolonialmächten gleichzeitig regiert zu werden – Großbritannien und Frankreich. Daher sind seit der Unabhängigkeit im Jahr 1980 viele Ni­Vanuatu in weiser Voraussicht misstrauisch gegenüber äußeren Einflüssen. Ihre traditionelle Lebensweise, die im Pidgin­Englisch als Kastom bekannt ist, wird von Wirtschaftswissenschaftler*innen als ‚entwicklungshemmend‘ angesehen. Kluge Melanesier*innen neigen allerdings eher dazu, Kastom als Schutz vor schlechter Entwicklung und der damit einhergehenden Krankheit – Sik blong Mane oder Geldsucht – zu sehen. Im Jahr 2005 begann das Vanuatu Cultural Centre mit der Förderung des traditionellen melanesischen Lebens­ und Wirtschaftsstils, und 2007 erklärte die Regierung eine Yiablong Kastom Ekonomi.

Regenvanu hat die traditionelle Wirtschaft als die Quelle der Widerstandsfähigkeit Melanesiens bezeichnet. Seine Rede auf der Konferenz des Lowy Instituts in Brisbane 2009 zum Thema „Die pazifischen Inseln und die Welt: Die globale Wirtschaftskrise“ war zweifellos das wichtigste Referat, das auf dieser Veranstaltung gehalten wurde. Schon damals ignorierten die Ökonom*innen der Weltbank und die regionalen Politiker*innen seine Weisheit. Der Wunsch der Ni­Vanuatu, Kastom Economi zu fördern und Bodenrechte, Landwirtschaft und Selbstversorgung zu schützen, ist ein viel nachhaltigerer Weg als künstliche Wachstumsmodelle wie Bauvorhaben, übermäßiges Vertrauen in den Tourismus oder der ‚Lebensstil australischer Babyboomer*innen im Ruhestand‘.

Australien ist Teil Ozeaniens, tut sich aber oft schwer, dies zu begreifen. Das Land hat ebenfalls Probleme mit seinen eigenen First Peoples, die bisher keine verfassungsrechtliche Anerkennung haben und deren „Native Title Law“ ständig durch Entwicklungsvorhaben bedroht wird. Die australischen First People haben außerdem weltweit die höchste Inhaftierungsrate unter indigenen Bevölkerung. Von 1863 bis zum Ende des Jahrhunderts waren die Zuckerplantagen in Queensland auf importierte Arbeitskräfte von den pazifischen Inseln angewiesen, die als Kanaken bezeichnet wurden. Pazifische Gastarbeiter*innen arbeiten auch heute noch saisonal auf australischen Farmen, aber die Inselbewohner*innen stehen dem ‚großen Bruderland‘ mit gemischten Gefühlen gegenüber. Diese würden sich verbessern, würde das Land das 2008 erlassene gesetzliche Verbot des Kava­-Konsums aufheben[3] und die Rhetorik zur wirtschaftlichen Entwicklung zugunsten von kulturell und klimatisch bewussteren politischen Visionen abschwächen. Gelingt dies nicht, stehen China und Indonesien mit Entwicklungsmodellen in den Startlöchern, die für die pazifische Lebensweise nur den Untergang bedeuten können.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] Kastom ist ein Pidgin­Wort (Bislama/Tok Pisin), das sich auf die traditionelle Kultur einschließlich Religion, Wirtschaft, Kunst und Magie in Melanesien bezieht. […] Das Wort leitet sich von der australisch­englischen Aussprache von „custom“ (Brauch) ab, umfasst aber auch andere Bedeutungen: Konvention (Norm), Gewohnheit (Recht) oder Gewohnheitsrecht, Norm (Soziologie) und Tradition. […] Kastom wird meist nicht schriftlich festgehalten, sondern nur durch Lehren und Geschichten überliefert. (s. wikipedia, Januar 2023) (Anm. d. Übers.)

[2] Regelt die Eigentumsverhältnisse, Rechte und Pflichten der Eigentümer von Einheiten in mehrstöckigen Gebäuden, wie Wohnhochhäusern, Apartmentkomplexen, Bürogebäuden und Einkaufszentren. (Anm. d. Übers.)

[3] Einige australische Bundesstaaten haben inzwischen begonnen, den Verkauf und Konsum von Kava (Rauschpfeffer) v.a. zum persönlichen Gebrauch zu legalisieren oder die Beschränkungen zu lockern. (Anm. d. Übers.)

Weitere Quellen

Ginzburg, Oren (2006), There you go! London: Survival International, www.survivalinternational.org/thereyougo (abgerufen am 19.05.2023)

Huffman, Kirk (2005), Traditional Money Banks in Vanuatu. Port Vila: Vanuatu National Cultural Council/UNESCO. (2010), ‚Review and Reflections on Tim Anderson and Gary

Lee (eds) „In Defence of Melanesian Customary Land“, Pacific Currents. 1(2) and 2(1), http://intersections.anu.edu.au/pacificurrents/huffman_review.htm (abger. 19.5.2023) Jubilee Australia (2014), Voices of Bougainville Report, Sydney.

Regenvanu, Ralph (2010), ‚The Traditional Economy as Source of Resilience in Vanuatu‘ in Tim Anderson and Gary Lee (eds), In Defence of Melanesian Customary Land. Sydney: AID/WATCH.

Robie, David (2014), Don‘t Spoil My Beautiful Face: Media, Mayhem & Human Rights in the Pacific. Auckland: Little Island Press.


Kirk Huffman ist Anthropologe/Ethnologe in Sydney und blickt auf 18 Jahre Felderfahrung in Vanuatu, auf den Salomonen, im Maghreb, in Teilen der Sahara, in Nordkolumbien und im westlichen Mittelmeerraum zurück. Er ist Ehrenkurator des Nationalmuseums, Vanuatu Cultural Centre.

Der Originalartikel kann hier besucht werden