Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Maristella Svampa

Kritische Ansätze gegenüber der hegemonialen Vorstellung von Entwicklung gibt es in Lateinamerika seit den frühen Diskussionen über die Grenzen des Wachstums des Club of Rome. Die Kritik reicht von Debatten über nachhaltige Entwicklung bis hin zur zeitgenössischen Kritik an der Erweiterung der Waren­ und Handelsgrenzen. Ich möchte drei Schlüsselmomente im lateinamerikanischen Denken hervorheben: die Kritik an der Konsumgesellschaft (1970er bis 80er Jahre), die Post­Development­Kritik (1990er bis 2000er Jahre) und kritische Perspektiven zum Extraktivismus (Anfang 2000 bis heute).

Die erste Phase wird am besten durch den brasilianischen Wirtschaftswissenschaftler Celso Furtado veranschaulicht, der sich von den klassischen Perspektiven der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC – Economic Commission for Latin America and the Caribbean) distanzierte und erklärte, dass eine der indirekten Schlussfolgerungen des Grenzen­ Arguments sei, dass der vom Kapitalismus geförderte Lebensstil nur für Industrieländer und elitäre Minderheiten in unterentwickelten Ländern umsetzbar sein würde. Jeder Versuch, die konsumorientierte Lebensweise zu verallgemeinern, würde zum Zusammenbruch des Systems führen. In diesem Sinne vertrat die in Argentinien ansässige interdisziplinäre Gruppe Fundación Bariloche unter der Leitung von Amilcar Herrera die Auffassung, dass hinter dem Bericht die für die hegemonialen Entwicklungsdiskurse charakteristische neo­malthusianische Logik stehe. Im Jahr 1975 entwarf diese Gruppe ein alternatives Modell mit dem Titel Catástrofe o Nueva Sociedad? Modelo Mundial Latinoamericano (Katastrophe oder neue Gesellschaft? Ein lateinamerikanisches Weltmodell), das davon ausging, dass die Umweltzerstörung und die Verwüstung der natürlichen Ressourcen nicht auf das Bevölkerungswachstum, sondern auf den hohen Verbrauch in den reichen Ländern zurückzuführen seien, was de facto eine Trennung zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern zur Folge habe. Die logische Folge dieser Sichtweise war, dass die privilegierten Bevölkerungen des Planeten ihre exzessiven Konsummuster und ihre wirtschaftlichen Wachstumsraten verringern müssten, um den Druck auf die natürlichen Ressourcen und die Umwelt zu reduzieren. Auch wenn diese Kritiken der vorherrschenden Logik des Produktivismus, der grenzenloses Wirtschaftswachstum als Wert an sich ansieht, nicht entkamen, so hatten sie doch den Vorteil, die herrschende Lehre zu hinterfragen.

Andere Konzepte der 1980er Jahre betonten in ähnlicher Weise die Kritik am Konsum. Dazu gehörten die vom chilenischen Wirtschaftswissenschaftler Manfred Max Neef entwickelten Konzepte der Entwicklung nach menschlichem Maß und die Theorie der menschlichen Bedürfnisse. Eine weitere scharfe Kulturkritik an der postindustriellen Gesellschaft, die ihre instrumentelle Rationalität und ihren krassen Materialismus hervorhebt, kam mit Ivan Illichs äußerst einflussreichem Begriff der Konvivialität. Dabei ging es in dieser ersten Phase der Entwicklungskritik darum, Konsum­ und Kulturmuster zugunsten des Gemeinwohls und egalitärer Gesellschaften zu überdenken, die auf einem sparsameren Lebensstil und langlebigeren Produktionssystemen basieren.

Das zweite Moment, das mit der Post­Entwicklungsperspektive verbunden war, konzentrierte sich auf Entwicklung als Machtdiskurs. Hier ist der Beitrag von Gustavo Estevá in dem von Wolfgang Sachs (1992) koordinierten Development Dictionary hervorzuheben, der eine radikale Kritik an der kolonialen Struktur des Konzepts Entwicklung als Erfindung der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Mächte in der Nachkriegszeit (1949) formulierte.

Ein weiterer bemerkenswerter Beitrag innerhalb dieser Denkrichtung war Arturo Escobars Dekonstruktion des modernen Entwicklungskonzepts als Herrschaftsinstrument, in dem er dessen wichtigste Funktionsmechanismen aufzeigte: die Unterscheidung zwischen Entwicklung und Unterentwicklung, die Professionalisierung von Entwicklungs­Problemen und der Aufstieg von Entwicklungs­Expert*innen sowie die Institutionalisierung von Entwicklung durch ein Netzwerk nationaler, regionaler und internationaler Organisationen. Escobar hob die Art und Weise hervor, in der Entwicklung unterschiedliche lokale Erfahrungen und Kenntnisse unsichtbar macht. Außerdem schlug er bereits Mitte der 1990er Jahre vor, nicht mehr über alternative Entwicklung nachzudenken, sondern über Alternativen zur Entwicklung.

Eine dritte und aktuelle Phase begann in den frühen 2000er Jahren mit der Kritik am bestehenden Neo­Extraktivismus und dem Beginn des Rohstoff­Konsenses. Diese Phase löste eine Kritik an der der Entwicklung zugrunde liegenden produktivistischen Logik und an der Ausweitung extraktiver Megaprojekte aus (Großbergbau, Erdölförderung, neuer Agrarkapitalismus mit seiner Kombination aus gentechnisch veränderten Organismen und Agrochemikalien, Großstaudämme, Mega­Immobilienprojekte u.a.). Diese neuen Formen des Extraktivismus sind gekennzeichnet durch die intensive Inbesitznahme von Territorien, Landraub und die zerstörerische Aneignung von Natur für den Export. Während sich der Extraktivismus auf den Raubbau und den groß angelegten Export von Primärgütern[1].

Die lateinamerikanische Kritik an Entwicklung

aus Lateinamerika in die Kern- und Schwellenländer bezieht, deutet der Begriff Rohstoffkonsens darauf hin, dass es – ähnlich wie beim Washingtoner Konsens – eine von Jahr zu Jahr deutlicher zutage tretende Übereinkunft über den unumkehrbaren oder unwiderstehlichen Charakter des derzeitigen extraktivistischen Modells gibt. Diese Zwangsläufigkeit schließt die Möglichkeit aus, Alternativen zu den derzeitigen Entwicklungsmodellen in Betracht zu ziehen. Abgesehen von vermeintlichen komparativen Vorteilen, wie hohen internationalen Preisen, haben diese Trends die historische Rolle der Region als Rohstofflieferant verstärkt. Sie haben auch die Asymmetrien zwischen dem globalen Wirtschaftszentrum und seiner Peripherie verschärft, was sich in der Tendenz zur Reprimarisierung[2] der nationalen Volkswirtschaften und der ungleichen Verteilung der sozio­ökologischen Konflikte zeigt.

Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen analytischen Phasen ist in der jetzigen Phase eine explizite Neudefinition der Umweltfrage zu beobachten, diesmal in Bezug auf Territorien, Politik und Zivilisation. Diese ‚Ökologisierung der Kämpfe‘, wie Enrique Leff sagen würde, spiegelt sich in verschiedenen öko­sozial­territorialen Bewegungen wider, die sich gegen transnationale Unternehmen des Privatsektors und den Staat richten. Diese Bewegungen haben ihre diskursiven Positionen erweitert und radikalisiert, indem sie andere Themen wie die Kritik an monokulturellen Entwicklungsmodellen aufgenommen haben. Diese Politik offenbart eine Krise der instrumentellen und anthropozentrischen Sicht auf die Natur mit ihrer dualistischen und hierarchischen Ontologie.

Vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlich­politischen Landschaft sind wir Zeugen der Konsolidierung einer radikalen neuen Umweltrationalität und einer Postentwicklungsvision. Horizontale Konzepte wie Buen Vivir oder Gemeinwohl, Bienes Communes oder Gemeingüter, Ethik der Fürsorge, Ernährungssouveränität, Autonomie, Rechte der Natur und relationale Ontologien sind Schlüsselelemente dieser jüngsten dialektischen Wende im kritischen Denken Lateinamerikas. Diese Wende fasst die Beiträge früherer Perioden zusammen, integriert die Kritik an Konsummodellen sowie vorherrschenden kulturellen Mustern und formuliert die Post­ Entwicklungsperspektive neu.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] natürliche Ressourcen, die direkt aus der Natur stammen und noch nicht weiterverarbeitet wurden (Anm. d. Übers.)

[2] Wirtschaftliche Orientierung zur Gewinnung und zum Export von Gütern des Primären Sektors, rohstoff- und ressourcenbasierte Wachstumsstrategie (Anm. d. Übers.)

Weitere Quellen

Escobar, Arturo (2014), Sentipensar con la tierra: Nuevas lecturas sobre desarrollo, territorio y diferencia. Medellín, Colombia: Ediciones Unaula, https://mundoroto.files.wordpress.com/2015/03/sentipensar­con­la­tierra.pdf (Publikation ist unter https://www.ceapedi.com.ar/imagenes/biblioteca/libreria/388.pdf abrufbar)

Esteva, Gustavo (1992), Development. In: Wolfgang Sachs (ed.), The Development Dictionary: A Guide to Know- ledge as Power. London and New York: Zed Books. (deutsch: Wolfgang Sachs (Hg): Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik. Reinbek: Rowohlt Verlag1993 (vgl. https://dewiki.de/Lexikon/Wolfgang_Sachs (abgerufen am 19.05.2023)

Grupo Permanente de Trabajosobre Alternativas al Desarrollo, https://www.rosalux.org.ec/grupo (abgerufen am 19.05.2023)

Gudynas, Eduardo (2015), Extractivismos: Ecología, economía y política de un modo de entender el desarrollo y la Naturaleza. Cochabamba: Cedib/Claes.

Illich, Ivan (1973), Tools for Conviviality. London: Boyars. (deutsch: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek: Rowohlt Verlag, 1975)

Svampa, Maristella (2016), Debates Latinoamericanos. Indianismo, Desarrollo, Dependencia y Populismo. Buenos Aires: Edhasa. (Als PDF­Datei unter folgenden Link verfügbar https://www.cedib.org/wp-content/uploads/2016/08/Debates-latinoamericanos_introduccion_Svampa.pdf – abgerufen am 19.05.2023)


Maristella Svampa ist eine argentinische Soziologin, Schriftstellerin und Forscherin im argentinischen Nationa- len Rat für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET). Sie ist Professorin an der Universidad Nacional de La Plata, Argentinien, und Autorin mehrerer Bücher über politische Soziologie und soziale Bewegungen sowie mehrerer belletristischer Bücher. Sie ist Mitglied der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung eingerichteten Ständigen Gruppe für Alternativen zur Entwicklung.

Der Originalartikel kann hier besucht werden