Leben und Sterben sowjetrussischer Kinder 1943-1945 in Stuttgart. Nur ein Buch.

„Für Russenkinder? In diesen Zeiten?” hörten die Herausgeber angeblich aus dem Stuttgarter Rathaus. Nach seiner jahrelangen Recherche – u.a. in jüngster Zeit zu überlebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen, die bei der Stadt Stuttgart beschäftigt waren – konnte Dr. med. Karl Horst Marqart dieser Tage im Württ. Kunstverein sein Buch über das Schicksal sowjetrussischer Zwangsarbeiterkinder in Stuttgart 1943 – 1945 vorstellen. „Im Lager geboren und gestorben” zeigt noch einmal auf den Zynismus, die Grausamkeit und Menschenfeindlichkeit in Stuttgart – bei der Stadt, in den Fabriken, in den Lagern: Tod durch Hunger, durch Erschöpfung, Tod durch unterlassene Hilfeleistung durch Ärzte: Kinder in Zwangsarbeit. Das Stuttgarter Beispiel ist sicherlich auch Spiegelbild für tausende andere Kommunen im Deutschen Reich, in denen Zwangsarbeiter malochen mußten. Vielleicht ermutigt es ja eine neue Generation von HistorikerInnen, dem Beispiel zu folgen.

Aber nicht nur Verschleppung und Zwangsarbeit bleiben nach 1945 ungesühnt, es gab meist auch keinerlei Strafverfolgung, ja nicht einmal den Versuch, keine wie auch immer geartete „Wiedergutmachung“ oder Entschädigung für Verschleppung und Versklavung ganzer Familien aus der damaligen Sowjetunion. Großherzig hatte der Stuttgarter Gemeinderat 2019 zwar beklagt, dass die „Zwangsarbeiter*innen im bisherigen Gesamtbild der NS-Geschichte Stuttgarts schlecht wegkämen und die Opfer „wenig Beachtung” gefunden hätten. Der Stadtrat hatte deshalb ein Forschungs-Projekt auf den Weg gebracht, an dem „ehrenamtlich Forschende” wie Marquart beteiligt waren. Es musste also auch in diesem Fall einmal mehr die Zivilgesellschaft herhalten. Denn die Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit vorzuenthalten – das ging gar nicht.

Doch Stuttgart hat ja erfreulicherweise die AnStifter, eine zivilgesellschaftliche Initiative, die seit 25 Jahren auch das Feld der Geschichte beackert. Auf solchen Wegen erschienen, in der Regel privat und spendenfinanziert – zahlreiche Publikationen, darunter die Chronik der Stadt Stuttgart 1933 -1945, Schriften zur Vertreibung der Juden, zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Literatur der alten und neuen Emigration: Lebenserinnerungen aus dem Widerstand.

„Im Lager geboren und gestorben” wird kein Bestseller, heute, wo in allen Lagern und in aller Öffentlichkeit geboren und gestorben wird, sind die „Russenkinder” kein Thema – aber das Buch als Denk-mal ist aufgerichtet wie ein großer Stolperstein. Die Stadt und die Archive hoffen auf Freiexemplare, der AnStifter-Verlag steht unter subalterner Beobachtung. Denn es kann ja nicht sein, dass nicht nur der Autor ohne Honorar bleibt, sondern auch ein Verleger vom Drauflegen lebt und auf jedwede Bezahlung verzichtet.

Marquart – einst Arzt beim Gesundheitsamt in Stuttgart – ermittelte in seiner Freizeit und auf eigene Kosten, musste manchen Stein aus dem Weg räumen und wurde ermahnt – 80 Jahre nach der Nazizeit! – den Datenschutz nicht außer Acht zu lassen.

Bei der Buchvorstellung gab’s trotz Fußball und anderem Trallalla ein volles Haus. Es war eine beeindruckende, tief traurig und nachdenklich stimmende Lesung von Dorothea Baltzer aus Zeugnissen der Überlebenden und einem musikalischen Gruß auf dem Akkordeon über Grenzen und Gräber hinweg.

Ganz hinten in den Querungen des Kunstvereins, im Abseits, weinten zwei Frauen. Sie kamen aus Russland: Der Wind, der Wind, das himmlische Kind hatte sie herein geweht.

Siegfried Langloff EDP

K.H. Marquart, Im Lager geborenK.H. Marquart, Im Lager geboren
260 Seiten, 100 Fotos und Abbildungen,

ISBN 978-3-944137-93-3, Verlag Peter Grohmann Nachfolger, Stuttgart 2024, 24,80 Euro