Kürzlich unterhielt ich mich mit dem Vater von zwei kleinen Kindern, zwei und vier Jahre alt. Sie hatten zusammen auf einem Campingplatz am Meer Urlaub gemacht. Seine beiden Kleinen hatten 14 Tage lang mit kroatischen Kindern gespielt, ohne von der anderen Sprache auch nur ein Wort zu verstehen. Viele Eltern machen diese erstaunliche Erfahrung. Kinder können harmonieren, ohne sich zu verstehen; Erwachsene können sich verstehen, ohne miteinander zu harmonieren.

Wenn wir der kindlichen Spielweise schon so fern sind, so können wir doch zuschauen, dem Spiel der Kids beiwohnen, manchmal vielleicht sogar selbst zu Spielenden werden und für zehn Minuten oder sogar länger auf die Zeit vergessen und Glücksmomente erleben.

Ein Milliarden-Geschäft

Aber muss ich auf das kindliche Spiel hinweisen? Ist nicht unsere westliche Lebensweise Freude, Friede, Eierkuchen? Spielen wir nicht von klein auf immer mehr und immer öfter? Apple und Google verdienen allein mit den zur Verfügung gestellten Spiele-Apps jedes Jahr Milliarden. Den Playstation-Store gibt es nicht nur in Deutschland oder den USA, sondern auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Indien und China. Die Sony Interactive Entertainment LLC machte im Betriebsjahr 2021/22 einen Umsatz von 16 Milliarden Euro bzw. 2,74 Billionen Yen. Spiele also, wohin man blickt. Wer sich in einem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Café oder Bistro umschaut, der wird sich von Spielerinnen umgeben sehen.

Der Markt boomt; boomt er für uns? Oder verhält es sich umgekehrt? Nehmen wir mal an, ich wäre Marketingmanager für Computerspiele bei Sony; und nehmen wir an, ich wollte Eltern davon überzeugen, ihre Kinder möglichst viel und möglichst lang spielen zu lassen – wäre da nicht Friedrich Schiller mein überzeugendster Gewährsmann? Einst schrieb der poetische Revoluzzer diesen Satz: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Könnte dieser Satz nicht jede Playstation zieren?

Spielen: für ein Leben in Würde

Es lohnt sich, darüber nachzudenken und auch darüber, warum dem nicht so ist. Schiller sah das Spielen – nicht das einzelne Spiel – als die vielleicht einzige Möglichkeit des Menschen, seine besten Möglichkeiten zu entfalten, spielerisch Grenzen auszutesten, zu überschreiten oder neu zu definieren, sich auf den Weg zum ganzen Menschen zu machen. Kürzlich stupste ich meine dreijährige Enkelin Rosa auf einer Spielplatzschaukel an und sie schwang sich mit großem Vergnügen in den Sonnenschein hinein und zurück. Ein dominanter, älterer Kindergartenfreund rief ihr von der Rutsche aus zu: „Komm rüber zu mir, Rosa, hier regnet’s, im Spiel!“ Aber Rosa hatte noch viel zu viel Spaß am Schaukeln und rief zurück: „Jetzt nicht, bei mir regnet’s aaauch!“ Flugs war sie auf die Spielebene übergewechselt und hatte eine für sie passende Antwort gefunden. Schillers Idee des Spielens erlaubt, mit Parallel- und Gegenwirklichkeiten zu experimentieren. Der spielende Mensch, der homo ludens, sprengt die Ketten der ihn fesselnden Welt. Spielen wird zur Voraussetzung der Selbstbefreiung und eines Lebens in Würde.

Vergessen, was wir brauchen

Moderne Computerspiele wirken suchterzeugend, indem sie die Spieler zu immer neuen „Levels“ verlocken – zugegeben, es gibt Ausnahmen; die Spielerin soll immer besser werden, soll immer routinierter ihre Figuren bedienen, immer schwierigere Aufgaben lösen. Und ein zweiter Komparativ kommt hinzu: Nicht nur besser im Vergleich zu früheren eigenen Leistungen sollen wir (und wollen wir schließlich) werden, sondern auch im Vergleich zu den Mitspielerinnen.

Moderne Computerspiele sind Entertainment 2.0. Sie erlauben innerhalb ihres Regelwerks allen Spielenden, bestimmte Rollen und Eigenschaften zu übernehmen oder sogar selbst zu erfinden; das fühlt sich an, als könnten wir mit dem Spiel selbst kommunizieren. Das ist etwa so, als dürften wir die Zutaten zu unserer Lieblingsschokolade selbst zusammenstellen, ein bisschen mehr Vanille, ein bisschen weniger Kakao und vielleicht mehr Mandelsplitter und eine doppelte Prise Chili. Kaufen müssten wir nur noch die Mischmaschine und die Zutaten. Also fühlen wir uns als Schokoladenesser frei. Je mehr wir unseren Spaß beim Mischen der Schokolade haben, desto weniger kommen wir auf die Idee, dass wir die Schokolade gar nicht brauchen.

Nur kein Loser sein

Halten wir also fest: Meist spornen Computerspiele zu immer mehr Leistung an. Und sie fesseln die Spielenden an eine Fantasywelt, die mit ihrer eigenen Fantasiewelt wenig bis nichts zu tun hat. Kindlichem Spiel sind solche Vorgaben fremd.

Moderne Computerspiele befreien den Spielenden nicht von den Zwängen der Welt, indem sie ihn in die eigene Fantasie entführen; sie verlocken ihn in eine Welt knallharter Regeln, denen sich beugen muss, wer mitspielen will. Andernfalls kommt keiner über Level 1 hinaus, wird zum „Loser“ und schlimmstenfalls aus der Community ausgeschlossen.

Warum gibt es keine spielsüchtigen Kinder, obwohl Kinder doch nichts lieber tun als zu spielen und dies tatsächlich auch tun, sobald ihre sonstigen Grundbedürfnisse inklusive Kuscheln gestillt sind? Im Juni 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Computerspielsucht offiziell als psychische Erkrankung anerkannt. Rund zweieinhalb Stunden täglich verbringen deutsche Jugendliche laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen und der Krankenkasse DAK mit Computerspielen. Dass Mädchen dies deutlich seltener tun, spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle.

Was die Grauen Herren schon immer wollten

Eine Rolle spielt vielmehr, was Jugendliche in dieser Zeit nicht tun: Sie üben kein Sozialverhalten ein, sie lesen nicht, denken nicht frei nach über sich und ihre Position in der Welt, sie sind nicht künstlerisch tätig, entwickeln keine eigenständige Persönlichkeit und erweitern nicht ihren Horizont, sie kommunizieren nicht kreativ, müssen nicht empathisch sein, erfahren keine Stille und die darin emporsteigenden Gedanken. Und je länger sie das alles nicht tun und sich mit Ersatzverhalten auf der Games-Ebene beschäftigen, desto weniger werden sie all das auch können, und zwar in exponentiellem Maß. Sie laufen Gefahr, zu Wunschprodukten der Grauen Herren zu werden, zu unreifen, kaum reflektierenden, unkritischen Funktionsträgern, denn sie haben auf eine subtile Art und Weise gelernt, die Spielregeln der Games mit ihren eigenen zu verwechseln; aber vielleicht ja nicht nur diese, sondern auch die Spielregeln der Ingroup, der Schule, der Firma, der Partei, der Gesellschaft, des Wirtschaftssystems.

Nicht zum homo ludens, dem frei spielenden, ganz werdenden Menschen entwickeln sie sich, vielmehr geraten sie zum homo faber, zum fabrizierenden, technischen, gehorsamen Menschen, dessen Entwicklungsrichtung hauptsächlich darin besteht, als Rädchen und Gleitmittel der Mega-Maschine immer besser zu funktionieren – und dies auch noch als Freiheit zu empfinden.