Berlin erlaubt Kiew Angriffe mit deutschen Waffen auf russisches Territorium. Die Ukraine hat jüngst Teile des russischen Frühwarnsystems gegen Atomangriffe attackiert; auf solche Attacken behält Moskau sich nukleare Reaktionen vor.
(Eigener Bericht) – Russland kündigt eine Antwort auf die Erlaubnis für die Ukraine an, russisches Territorium mit westlichen – auch mit deutschen – Waffen beschießen zu dürfen. Man werde „asymmetrisch, aber empfindlich“ reagieren, teilte Ende vergangener Woche der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Duma mit. Zuvor hatte die Bundesregierung es den ukrainischen Streitkräften ausdrücklich gestattet, Stellungen auf russischem Hoheitsgebiet, von denen aus Russland die Region Charkiw attackiert, mit Waffen anzugreifen, die Deutschland geliefert hat; dazu zählen etwa die Panzerhaubitze 2000 oder auch der Mehrfachraketenwerfer MARS II. Für westliche Marschflugkörper mit einer Reichweite von mehreren hundert Kilometern gilt die Genehmigung Berichten zufolge noch nicht; allerdings hat die französische Regierung angekündigt, dies ändern zu wollen. Die ukrainischen Streitkräfte haben erst kürzlich zwei Radaranlagen weit entfernt auf russischem Territorium angegriffen, die Teil des russischen Frühwarnsystems gegen Atomangriffe sind. Ein Angriff auf solche Anlagen kann nach einem russischen Präsidialdekret eine nukleare Reaktion der russischen Streitkräfte auslösen.
Beschuss mit deutschen Waffen
Die Bundesregierung gestattet der Ukraine ab sofort den Einsatz deutscher Waffen für Angriffe auf russisches Territorium. Das hat ein Sprecher der Bundesregierung am Freitag bestätigt. Demnach bezieht sich die Erlaubnis auf ukrainische Versuche, sich gegen Angriffe zu wehren, die Russland „insbesondere im Raum Charkiw von Stellungen aus dem unmittelbar angrenzenden russischen Grenzgebiet heraus“ vorbereitet und führt; „dazu“ darf die Ukraine in Zukunft auch deutsche Waffen nutzen.[1] Der Beschuss von Zielen auf russischem Territorium jenseits der Stellungen, von denen aus die Ukraine attackiert wird, fällt nicht unter diese Formulierung. Allerdings bietet die Erlaubnis, Stellungen angreifen zu dürfen, an denen russische Angriffe vorbereitet werden, großen Interpretationsspielraum. Hinzu kommt die Ungewissheit, ob die Erlaubnis die einzige ist, die Berlin erteilt hat. Erst vor wenigen Tagen bestätigte Verteidigungsminister Boris Pistorius, Vereinbarungen zur Nutzung deutscher Waffen seien prinzipiell „nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“: Er halte nichts davon „klarzulegen, was wir dulden oder nicht dulden“.[2] Für die nun offiziell erlaubten Angriffe wären etwa die Panzerhaubitze 2000 und der Mehrfachraketenwerfer MARS II geeignet. Die Panzerhaubitze hat eine Reichweite von 30 bis 40 Kilometern und kann diese mit spezieller Munition auf bis zu 70 Kilometer steigern.
Raketen und Marschflugkörper
Das MARS II-System verfügt über eine Reichweite von gut 100 Kilometern und kann sie sogar auf bis zu 300 Kilometer steigern; dafür benötigt es allerdings die US-amerikanischen ATACMS-Raketen. Washington hat der Ukraine am vergangenen Freitag gleichfalls die Nutzung seiner Waffen für Angriffe auf Ziele in Russland erlaubt, dies aber – wie Berlin – offiziell auf Angriffe auf diejenigen russischen Stellungen eingeschränkt, von denen aus die Region Charkiw beschossen wird oder werden soll. US-Regierungsmitarbeiter wurden am Freitag zudem mit der Aussage zitiert, die Genehmigung schließe ATACMS- oder andere weitreichende US-Raketen explizit nicht ein.[3] Demnach stünden diese nach offiziellem Stand für Attacken auf russisches Hoheitsgebiet mit dem deutschen MARS II-System nicht zur Verfügung. Noch mit Einschränkungen versehen ist laut einem Bericht des Londoner Guardian auch der Einsatz britischer Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow, die zwar bereits – wie auch die französischen SCALP-Marschflugkörper – gegen russische Ziele auf der Krim eingesetzt wurden; Kiew beansprucht die Krim weiter als sein Territorium. Eine umfassende Genehmigung für Angriffe mit dem Storm Shadow auf Territorium, das bereits vor 2014 zu Russland gehörte, hat die britische Regierung der Ukraine demnach nicht – respektive noch nicht – erteilt.[4]
Weit auf russisches Territorium
Allerdings deutet sich auch bei Raketen bzw. Marschflugkörpern mit einer Reichweite von mehreren hundert Kilometern ein Kurswechsel an. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich schon am Dienstag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz dafür ausgesprochen, den Beschuss alten russischen Territoriums auch mit solchen Waffen freizugeben.[5] Macron wollte das lediglich auf Stellungen beschränkt wissen, von denen aus die Ukraine beschossen worden sei. Um solche Angriffe zu ermöglichen, will Paris nun Militärausbilder in die Ukraine entsenden, die dort die Programmierung der Ziele begleiten sollen – offiziell, um das „Risiko von Fehlschlägen“ zu reduzieren.[6] Faktisch aber geht es mutmaßlich darum, die Abschüsse der SCALP-Marschflugkörper zu kontrollieren. Dass Großbritannien genauso vorgeht und inoffiziell längst Soldaten in die Ukraine geschickt hat, deren Aufgabe es ist, den Abschuss von Storm Shadow-Marschflugkörpern strikt unter Kontrolle zu halten, ist aus der von russischen Geheimdiensten mitgeschnittenen und geleakten Videokonferenz vierer deutscher Luftwaffenoffiziere vom 19. Februar bekannt, in der Luftwaffen-Generalinspekteur Ingo Gerhartz berichtete, „die Engländer“ hätten ein „paar Leute vor Ort“. Es ging um Militärs, die mit dem Abschuss von Marschflugkörpern durch ukrainische Truppen befasst waren.[7]
Angriff in Zentralasien
Welche Eskalationsgefahr in der Freigabe westlicher Marschflugkörper für den Beschuss russischen Territoriums steckt, zeigen zwei ukrainische Angriffe auf russische Radaranlagen am 23. und am 26. Mai. Bei den Radaranlagen handelt es sich um sogenannte Over The Horizon (OTH) – Ultra High Frequency (UHF) Radare, die genutzt werden, um anfliegende ballistische Raketen bereits in großer Entfernung von horizontal bis zu 6.000 und vertikal bis zu 8.000 Kilometern zu entdecken.[8] Eine der zwei Anlagen befindet sich in Armawir in der südwestrussischen Region Krasnodar, die zweite bei Orsk an der Grenze zu Kasachstan. Kiew behauptet, Moskau nutze beide Anlagen, um Operationen der ukrainischen Streitkräfte aufzuklären. Experten halten dies im Fall der Anlage bei Orsk für eindeutig falsch: Diese werde verwendet, um mögliche Angriffe aus dem Mittleren Osten oder aus Richtung China aufzuspüren, berichtet etwa die Washington Post.[9] Mit Blick auf die Anlage in Armawir sind sich Spezialisten weithin einig, dass sie nicht taugt, Angriffe mit Drohnen zu entdecken. Bezüglich Angriffen mit ATACMS-Raketen gehen die Meinungen auseinander. Allerdings habe Russland dafür eigentlich „andere Radarsysteme“ zur Verfügung, stellt Markus Reisner fest, ein Offizier des österreichischen Bundesheeres, der mit seinen detaillierten Analysen zum Kriegsgeschehen in der Ukraine bekannt geworden ist.[10]
Russlands Frühwarnsystem
Die offenkundig vorgeschobene Kiewer Behauptung, man habe mit dem Angriff auf die beiden Radaranlagen lediglich russische Operationen im Ukraine-Krieg verhindern wollen, wiegt deshalb besonders schwer, weil es sich bei den Anlagen um Teile des russischen Frühwarnsystems gegen Angriffe mit Nuklearwaffen handelt. Werden sie beschädigt und in ihrer Funktion eingeschränkt, dann könnte Russland auf einen etwaigen Atomangriff unter Umständen nicht rechtzeitig reagieren. Das ist der Grund dafür, dass es in einem Moskauer Präsidialerlass vom 2. Juni 2020 ausdrücklich heißt, eine „feindliche Einwirkung auf wesentliche staatliche oder militärische Einrichtungen der Russischen Föderation, deren Ausschaltung die Antwortmaßnahmen der Nuklearstreitkräfte vereiteln würde“, könne eine Reaktion mit russischen Atomwaffen auslösen.[11] „Der Angriff auf Armawir“, stellte Reisner in der vergangenen Woche fest, könne diese „Bedingungen erfüllen“.[12]
Das eigentliche Ziel
Der Angriff auf die Radaranlagen hat zu Spekulationen Anlass gegeben, ob er mit Wissen Washingtons geschah und die russischen Reaktionen austesten sollte oder ob Kiew dabei im Alleingang gehandelt hat. Für letzteren Fall besagen die Spekulationen, womöglich spiele Kiew mit dem Gedanken, einen russischen Militärschlag zu provozieren, auf den die NATO antworten müsse; in einer Situation wie der gegenwärtigen, in der die Ukraine vor einer militärischen Niederlage stehe, könne sich das als ein letztes Mittel erweisen, um das Ruder noch herumzureißen. Belastbare Belege für die Spekulationen liegen nicht vor. Ähnliche Erwägungen waren allerdings bereits im April laut geworden, als das Kernkraftwerk Saporischschja, das von Russland kontrolliert wird, mit Drohnen attackiert wurde. Moskau wirft Kiew vor, für den Angriff verantwortlich zu sein; Kiew streitet dies ab, wenngleich nicht ersichtlich ist, wieso Russland ein von ihm kontrolliertes Kernkraftwerk gezielt mit Drohnen angreifen sollte. Tatsache ist, dass für den Fall einer absichtsvoll hervorgerufenen nuklearen Verseuchung der Ukraine durch Russland über ein Eingreifen der NATO in den Krieg diskutiert worden ist.[13]
Asymmetrische Antworten
Unabhängig von all diesen Erwägungen kündigt Moskau für Angriffe auf altes russisches Territorium mit westlichen Waffen scharfe Reaktionen an. So wurde bereits am Freitag der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Staatsduma, Andrej Kartapolow, mit der Aussage zitiert: „Wir werden antworten. Asymmetrisch, aber empfindlich.“[14] Laut bisher noch nicht bestätigten Berichten sind am Wochenende bei ukrainischen Angriffen auf die russische Stadt Belgorod erstmals westliche Waffen zum Einsatz gekommen. Trifft dies zu, dann ist in absehbarer Zeit mit der angekündigten asymmetrischen Antwort Moskaus zu rechnen.
Soldaten ins Kriegsgebiet
Zusätzlich verschärft wird die Lage dadurch, dass Frankreich ankündigt, in Kürze eigene Soldaten offiziell in das ukrainische Kriegsgebiet zu entsenden; sie sollen dort militärische Aufgaben übernehmen. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.
[1] Zum Einsatz gelieferter Waffen an die Ukraine. bundesregierung.de 31.05.2024.
[2] Peter Carstens, Eckart Lohse: Zurückschießen erlaubt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.06.2024.
[3] Lara Jakes: The Weapons That Ukraine Might Use to Shoot Into Russia. nytimes.com 31.05.2024.
[4] Katharine Viner, Luke Harding, Shaun Walker, Nick Hopkins: Volodymyr Zelenskiy: Russian troops are laughing at and ‘hunting’ Ukrainians. theguardian.com 31.05.2024.
[5] Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron zum 24. Deutsch-Französischen Ministerrat am 28. Mai 2024 in Meseberg.
[6] Thomas Gutschker, Friedrich Schmidt, Michaela Wiegel, Matthias Wyssuwa: Der Westen löst die Fesseln. Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.05.2024.
[7] S. dazu Das Kriegskriterium.
[8] Drei Fragen zum Angriff auf das russische Atomraketen-Frühwarnsystem: Oberst Reisner antwortet. bundesheer.at 26.05.2024.
[9] Ellen Nakashima, Isabelle Khurshudyan: U.S. concerned about Ukraine strikes on Russian nuclear radar stations. washingtonpost.com 29.05.2024.
[10] Drei Fragen zum Angriff auf das russische Atomraketen-Frühwarnsystem: Oberst Reisner antwortet. bundesheer.at 26.05.2024.
[11] Erfolge, die Biden Sorgen bereiten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.06.2024.
[12] Drei Fragen zum Angriff auf das russische Atomraketen-Frühwarnsystem: Oberst Reisner antwortet. bundesheer.at 26.05.2024.
[13] British Lawmaker: Nuclear Accident Could Draw NATO Allies into War. voanews.com 20.08.2022.
[14] Russland droht mit „asymmetrischer“ Reaktion. n-tv.de 31.05.2024.