Viele Länder Lateinamerikas verfügen über natürliche Ressourcen von globalem Interesse. Die biologische Vielfalt in der Region Lateinamerika ist jedoch akut bedroht. Damit die Regierungen des globalen Südens den Verlust der biologischen Vielfalt stoppen können, müssen sie sich vom internationalen politischen und finanziellen System lösen, das derzeit den Extraktivismus in ihren Ländern begünstigt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die die Rolle des internationalen Finanz- und Währungssektors beim Verlust der biologischen Vielfalt im globalen Süden anhand von fünf Ländern untersucht: Argentinien, Kolumbien, Demokratische Republik Kongo, Jamaika und Papua-Neuguinea. Die Studie, die von Expert*innen des Climate Justice Centre (CCJ) der University of British Columbia, des Climate and Community Project (CCP) und des Third World Network (TWN) durchgeführt wurde, zeigt, dass der Verlust der biologischen Vielfalt eng mit dem Abbau von Rohstoffen verbunden ist, die Regierungen in Entwicklungsländern jedoch trotzdem weiterhin Rohstoffprojekte genehmigen und ausweiten. So ziehen sie ausländische Investitionen an, die der Wirtschaft zugutekommen. „Wir wollten analysieren, warum die Regierungen des Südens ihre Biodiversitätsziele immer wieder verfehlen“, erklärt Patrick Bigger, Forschungsleiter des CCP, gegenüber SciDev.Net. „Wir haben uns nicht auf die Ausweitung des Bergbaus und der industriellen Landwirtschaft konzentriert, sondern die direkten Triebkräfte untersucht, die die Bedingungen für die Genehmigung und Ausweitung dieser extraktiven und umweltschädlichen Aktivitäten schaffen, darunter das internationale Währungssystem, die globale Schuldenstruktur und transnationale Steuervorschriften“, fügte er hinzu.
Finanzielle Stabilität versus ökologische Stabilität
Bigger wies darauf hin, dass die Regierungen dieser Länder gezwungen sind, steuerliche und monetäre Bedingungen zu akzeptieren, weil die derzeitige Struktur und die Regeln der Weltwirtschaft ihre Möglichkeiten einschränken, souveräne politische Prioritäten zu setzen, z.B. in den Bereichen Naturschutz, aber auch Klimaschutz, Gesundheit und Bildung. Obwohl die untersuchten Länder sehr unterschiedliche Realitäten aufwiesen, stehe in allen Ländern die finanzielle Stabilität in direktem Konflikt mit der ökologischen Stabilität, so die Autor*innen. „Kolumbien (…) hat sich verpflichtet, von fossilen Brennstoffen wegzukommen, sieht sich aber strukturellen Zwängen gegenüber, insbesondere aufgrund von Handels- und Investitionsabkommen“, erklärte Jessica Dempsey von der University of British Columbia in Kanada und Hauptautorin der Studie gegenüber SciDev.Net.
Fernando Peirano, argentinischer Wirtschaftswissenschaftler mit den Schwerpunkten Innovation und produktive Entwicklung, betont, in Ländern wie Argentinien sei es offensichtlich, dass die Globalisierung die Beziehung zwischen Finanzströmen und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen verstärkt habe, sehr zum Vorteil der großen multinationalen Unternehmen. Zudem würden die Nationalstaaten geschwächt und die Arbeit der multilateralen Institutionen bei der Ausarbeitung globaler Regeln für globale Probleme zunehmend ineffizient. In diesem Zusammenhang sei Argentinien „ein Gläubigerland im Umweltbereich, wenn wir die Bilanz seiner Beiträge und seiner CO2-Bindung betrachten, aber auch einer der größten Schuldner, was seine Verpflichtungen gegenüber den Finanzmärkten und Kreditagenturen betrifft“.
In einem Webinar, in dem der Bericht vorgestellt wurde, brachte die argentinische Umweltexpertin Ana Di Pangracio von der Fundación Ambiente y Recursos Naturales als Beispiel Expansion der Sojaindustrie in Argentinien: Diese wurde in den letzten Jahrzehnten von mehreren Regierungen unterstützt, das Modell der wirtschaftlichen Entwicklung war jedoch nicht in der Lage, die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise abzufedern. „Dieses Modell verschärft die Zerstörung der Biodiversität und sozioökologische Konflikte und führt zu mehr Armut und Abhängigkeit“, so Di Pangracios Fazit.
Welche Möglichkeiten haben die Entwicklungsländer?
Welche Möglichkeiten haben die Entwicklungsländer, etwas daran zu ändern? Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass transformative Ergebnisse eine Änderung der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Strukturen erfordern, die den Bergbau profitabel machen und für viele Staaten notwendig sind, um ihre wirtschaftliche Stabilität zu erhalten. In diesem Sinne hofft Jessica Dempsey, dass auf der nächsten Vertragsstaatenkonferenz der Biodiversitätskonvention (COP16) im Oktober in Kolumbien „die Regierungen Beschlüsse fassen, die die Rolle von Schulden und Steuergerechtigkeit beim Verlust der biologischen Vielfalt thematisieren“.
Marc Dourojeanni, peruanischer Spezialist für Tropenwälder und Schutzgebietsmanagement, nennt neben den negativen Auswirkungen der internationalen Wirtschaftspolitik noch Ungleichheit und Armut, die Korruption begünstigen und der Ineffizienz von Politiken, Gesetzen und Programmen zum Schutz der Biodiversität in den Anden- und Amazonasländern Vorschub leisten. Als Beispiel nannte er Peru, „wo mehr als 85 Prozent der jährlichen Abholzung von ressourcenschwachen Bauern und Bäuerinnen verursacht werden, die in die Wälder eindringen und Parzellen von wenigen Hektar anlegen; die Zerstörung der hydrogeologischen Ressourcen ist das Werk illegaler Bergbauunternehmen, die die Armut der Menschen ausnutzen und Hunderttausende Mittellose informell in ihren Minen beschäftigen. Das gleiche passiert in der Hochseefischerei.“ Die Politik der großen Finanzinstitutionen müsse sich neu ausrichten und die Überwindung von Informalität und Armut in Angriff nehmen, und zwar in dieser Reihenfolge.
Peirano, der die argentinische Agentur zur Förderung von Forschung, technologischer Entwicklung und Innovation leitet, ist überzeugt, dass die Entwicklungschancen in der Schaffung eines Produktionsmodells liegen, dessen industrielle Aktivitäten auf der Nutzung natürlicher Ressourcen beruhen: „Um sicherzustellen, dass die Politik wieder eine führende Rolle einnimmt und ein zukunftsorientiertes, nachhaltiges Entwicklungsmodell schafft, ist es wichtig, dass die Bevölkerung aktiv und gut informiert ist. Ein solches Modell könnte besonders attraktiv sein, wenn es auf der Zusammenarbeit mit anderen lateinamerikanischen Ländern basiert und nicht nur vom Markt bestimmt wird. Die Zutaten sind vorhanden, aber wird die Entscheidung rechtzeitig fallen?”
Übersetzung: Deborah Schmiedel