Es gibt nicht nur Hass in Nahost, sondern auch gelebte Solidarität zwischen Juden und Palästinensern. Unser Autor erzählt von zwei Beispielen aus Israel.
von Jules El Khatib für die Berliner Zeitung
In Deutschland wird im Kontext des Krieges in Gaza immer wieder suggeriert, dass das Verhältnis von Juden und Palästinensern von Hass geprägt sei. In der Realität gibt es jedoch auch Tausende Beispiele jüdisch-palästinensischer Solidarität und gemeinsamen Einstehens für Menschenrechte und Frieden. Dieser Text erzählt von zwei Beispielen aus Israel, die Mut machen sollen.
Anfang Juni fand in Jerusalem der interreligiöse Marsch von jüdischen, muslimischen, christlichen und drusischen Organisationen statt, beteiligt waren Israelis und Palästinenser. Organisiert von den Rabbis for Human Rights schloss sich ein breites Bündnis von religiösen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammen, um in Jerusalem, der heiligen Stadt dreier Weltreligionen, ein Zeichen zu setzen gegen Krieg und Gewalt.
Die Protestierenden forderten ein Ende der Bombardierung Gazas und der Gewalt im Westjordanland, die Freilassung der Geiseln und eine friedliche Lösung für alle Menschen vor Ort. Ihr Protest, der sowohl durch palästinensische wie durch israelische Viertel führte, fand bewusst zwei Tage vor dem sogenannten Flaggenmarsch statt. Dabei handelt es sich um eine Demonstration der radikalen Rechten und der Siedlerbewegung, die die Einnahme Ostjerusalems feiern. Diese Demonstration ging auch in diesem Jahr mit Angriffen auf Palästinenser und Journalisten einher.
Die Botschaft des interreligiösen Marsches war dabei so einfach wie klar und verdeutlichte den Unterschied zu den Siedlern und ihren Verbündeten in Israels Regierung: „Angesichts des Hasses reagieren wir mit Liebe. Angesichts der Gewalt reagieren wir mit Frieden. Angesichts der Macht reagieren wir mit Hoffnung.“
Rabbis for Human Rights, die Initiatoren des Protests, sind normalerweise im Westjordanland aktiv, wo sie insbesondere palästinensische Bauern und Bäuerinnen vor Angriffen von Siedlern schützen. Der Siedlergewalt, die von Jahr zu Jahr schlimmer wird und Palästinenser vertreibt, stellen sich die Rabbis gemeinsam mit palästinensischen Aktivistinnen und Aktivisten entgegen und riskieren dabei ein ums andere Mal, selbst verletzt zu werden.
„Als Rabbiner für Menschenrechte verbinden wir unsere jüdischen Werte mit Menschenrechtsfragen. Unser Fokus liegt auf der israelischen Besatzung und – so wie in diesem Fall – den Rechten der palästinensischen Bauern“, sagt Avi Dabush, der Direktor von Rabbis for Human Rights. Mit ihrem Einsatz haben sie sich insbesondere in der derzeitigen israelischen Regierung viele Feinde gemacht. Trotzdem halten sie an ihrer Arbeit fest, denn sie wissen, dass sie anders als die angegriffenen Palästinenser vom israelischen Militär zumindest in Ruhe gelassen werden und auch die Siedler oft Schwierigkeiten haben, Angriffe auf Rabbiner zu rechtfertigen.
Dann gibt es noch Standing Together – Omdim Beyachad (hebräisch), Naqif Ma’an (arabisch). Die Organisation wurde vor knapp neun Jahren gegründet und ist heute die wohl größte jüdisch-palästinensische Bewegung in Israel. In den vergangenen Jahren hat sie sich an verschiedenen Stellen für Solidarität und gegen die Ausgrenzung der palästinensischen Minderheit in Israel sowie gegen den Siedlungsbau und die Vertreibungspolitik im Westjordanland ausgesprochen.
Verständnis für das Leid der anderen
Doch seit den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober und der darauffolgenden israelischen Bombardierungen Gazas hat die Gruppe ihren Schwerpunkt noch stärker als zuvor auf das Schaffen von Räumen des Verständnisses für gegenseitiges Leid, den Einsatz gegen den immens angewachsenen antipalästinensischen Rassismus in Israel und den Protest gegen den Krieg gelegt. Die Organisatoren positionieren sich dabei klar gegen jede Form der Gewalt, gegen die Angriffe der Hamas wie auch die Bombardierungen Israels. Grundlage der Arbeit ist der Einsatz für Humanismus, Menschenrechte und Frieden, und die Bedingung für die Beteiligung eines jeden ist die klare Ablehnung von antipalästinensischem Rassismus und Antisemitismus.
In den vergangenen Wochen, angetrieben von der Hungerkatastrophe in Gaza und den Blockaden von Lebensmitteltransporten durch israelische Siedler, organisierte Standing Together gemeinsam mit anderen Organisationen den Schutz von Lebensmittellieferungen bis zum Grenzübergang nach Gaza. Eigentlich ist das israelische Militär offiziell für den Schutz der Lieferungen vor Übergriffen zuständig. Doch es kommt seinem Auftrag oft nicht nach. Schlimmer noch, das Militär verriet die Routen der Lkw an gewaltbereite Siedler. Standing Together und ihre Verbündeten verhinderten zwei Wochen lang Angriffe auf Lkw. Die Angreifer gaben irgendwann auf. Die rechtsradikalen Gruppen und die Siedler verkündeten frustriert, dass sie die Lkw nicht länger blockieren oder attackieren würden.
Die Geschichten der jüdisch-palästinensischen Solidarität sind vielfältig, und jeden Tag kommen neue hinzu. Die Proteste in Deutschland und weltweit gegen den Gazakrieg sind Orte, an denen diese Geschichten weitergeschrieben werden, denn häufig sind es Jüdinnen und Juden, die ganz vorne stehen, wenn es um den Einsatz gegen die Bombardierungen Gazas geht. Dazu kommen Taten von Menschen wie des Palästinensers Ismail Khatib, dessen Sohn von israelischen Soldaten erschossen wurde und der entschied, Herz, Lunge, Leber und Niere seines Sohnes jüdischen Kindern zu spenden, um deren Leben zu retten; oder der Einsatz von Maoz und Magen Inon, deren Eltern am 7. Oktober von den Hamas-Terroristen getötet wurden und die heute jeden Tag aktiv sind, um sich gegen das Leid in Gaza zu stellen.
Die Geschichte jüdisch-palästinensischer Solidarität ist vielseitig, sie ist geprägt von Leid und Krieg und dem mutigen Einsatz dagegen, den Erfahrungen von Diskriminierung und dem gemeinsamen Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Die Geschichten der Solidarität hören wir in Deutschland viel zu selten. Es wäre gut, wenn wir auch hier die Worte von Uri Weltmann, Mitglied im Vorstand von Standing Together, beherzigen würden: „Ein Großteil der öffentlichen Diskussion auf der ganzen Welt – auch in Deutschland – neigt dazu, eindimensional zu sein und alle Palästinenser in den besetzten Gebieten als Hamas und alle jüdischen Israelis als Netanjahu darzustellen. Aber unsere Gesellschaften sind nuancierter als das.“
Das ist ein Beitrag von Jules El Khatib, der im Rahmen der Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.
Jules El Khatib ist deutscher und israelischer Staatsbürger mit deutschen und palästinensischen Wurzeln, er arbeitet als Hochschuldozent und ist aktiv für Menschenrechte und Frieden.