In Australien wütet dieses Jahr eine Welle an Frauenmorden. Die neue EU-Richtlinie will geschlechtsspezifische Gewalttätigkeit stärker bestrafen.
Doch dabei tun sich Hindernisse auf. Erfreuliches regt sich in europäischen Gewerkschaften.Zwischen Februar und April 2024 starben in Ballarat, einer Stadt mit gerade mal 100.000 Einwohner:innen in Victoria, 3 Frauen. Anfang Februar kehrte die 51-jährige dreifache Mutter Samantha Murphy von ihrem morgendlichen Jogging nicht mehr zurück. Ihr Leichnam wird immer noch vermisst. 2 Wochen später starb die 42-jährige fünffache Mutter Rebecca Young mutmasslich durch die Hand ihres Partners. Am 5. April fand man die Leiche der 23-jährigen Hannah McGuire in einem in Brand gesetzten Auto im Buschland nahe Ballarat. Ihr Expartner wird des Mordes angeklagt.Die Morde hängen alle nicht miteinander zusammen, doch blickt Australien bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf 12 Frauenmorde seit Jahresbeginn bis zu Murphys Verschwinden und mutmasslicher Ermordung zurück. Am 12. April demonstrierten Hunderte Einwohner:innen Ballarats, gedachten der Mordopfer und forderten ein Ende der Gewalt gegen Frauen. Einen Tag später erstach ein Amokläufer in einem Einkaufszentrum in Bondi Junction, einem Stadtteil Sydneys, 6 Menschen, darunter 5 Frauen. 12 weitere, darunter 8 Frauen einschliesslich eines neun Monate alten weiblichen Säuglings, dessen Mutter dem Anschlag tödlich zum Opfer fiel, wurden darüber hinaus verletzt. Das Überwachungsvideo wurde von der Polizei in New South Wales mit den Worten kommentiert: „ […] der Angreifer konzentrierte sich auf die Frauen und ignorierte die Männer.“Es fanden Mahnwachen statt. Surfer:innen bildeten auf dem Meer vor Bondis Strand mit ihren Brettern eine Herzfigur. Zwei Männer, die den Killer in die Flucht geschlagen hatten, und eine Polizistin, die die Verfolgung des Flüchtenden aufnahm und ihn erschoss, nachdem er sie mit dem Mordmesser bedrohte, wurden vom Premierminister Anthony Albanese (Labour) gelobt.
Doch die tödlichen Attacken gingen weiter: Am 22. April traf es die 28 Jahre alte Molly Ticehurst, am 23. Emma Bates (49), am 26. Erica Hay (30), am 29. Joan Drane (78). Die Senatorin der Grünen, Sarah Hanson, brachte die Stimmung der Trauernden und Verzweifelten im Land auf den Punkt: „Das ist Terror gegen Frauen in ihren Häusern und auf den Strassen. Sie fühlen sich nirgendwo sicher.“
Erschütternde Zahlen
Das Projekt Counting Dead Women Australia verzeichnete vor dem Messerangriff in Bondi Junction bereits 28 getötete Frauen, darunter 27 mutmassliche Opfer von Männern. Zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres waren es 15, 2022 18, 2021 14, 2020 16.
Besonders bedrückend dabei ist das Schicksal, das Frauen der Aborigines, der australischen indigenen Bevölkerung, und Bewohnerinnen der Torres-Strait-Inseln erleiden, einem Archipel aus 274 Inseln in der Meerenge zwischen der Nordspitze Australiens, dem Kap York, und der Südspitze Papua-Neuguineas, das überwiegend zum australischen Bundesstaat Queensland gehört.
Zudem hat Australien offensichtlich ein Problem mit Morden durch (ehemalige) Partner. 2022 – 2023 kamen dort 34 Frauen dadurch um, während es in England und Wales bei doppelt so grosser Bevölkerung 35 waren. Die durchschnittliche Mordrate pro Million Einwohner:innen lag dagegen zum gleichen Zeitpunkt unter der von England und Wales (5,6 zu 6).
Gegenmassnahmen
Labourpremier Albanese erklärte Gewalt gegen Frauen zur „nationalen Krise“ und rief ein Notstandstreffen eines nationalen Kabinetts aus Bundesführung und den Ministerpräsidenten der Einzelstaaten und -territorien ein. Es beschloss umgehend Hilfsmassnahmen für Gewaltopfer in Höhe von 925 Mio. US-Dollar, um Missbrauchsbeziehungen verlassen zu können. Dies sei zwar ein Schritt vorwärts, doch könne er nicht damit zufrieden sein, wenn alle 4 Tage eine Frau in Australien getötet wird, so Albanese.
In der Luft lag fühlbare Wut. So demonstrierten Tausende auf 17 Versammlungen im ganzen Land, forderten weitere Aktionen und äusserten ihre Befürchtung, nichts werde sich wirklich ändern. Karen Bevan, Geschäftsführerin von Full Stop Australia, einer Hilfsorganisation für Opfer sexueller, häuslicher und familiärer Gewalt, wies darauf hin, dass sich nicht zum ersten Mal eine nationale Koalition gegen Gendergewalt gebildet habe. 2015 wurde Rosie Batty zur Australierin des Jahres gewählt. Ihr Ehemann hatte 1 Jahr zuvor ihren 11-jährigen Sohn Luke beim Crickettraining ermordet. Dadurch geriet das Thema in die Schlagzeilen. Sie verwies auf positive gesetzliche und finanzielle Unterstützung seitdem. Zudem habe Labour beim Regierungsantritt 2022 angekündigt, häusliche Gewalt in eine Priorität ersten Ranges zu erheben und entsprechend gehandelt.
Sie verwies darauf, dass es immer noch riesige Themen gebe: eine nationale Wohnungskrise und drastische Unterfinanzierung von Rückzugsräumen, wenig Beihilfen für Frauen, die anwaltlichen Rat suchten, unzureichende Dienstleistungen für indigene Frauen und solche auf dem Land. Expert:innen berichteten auch von schlimmen Gerichtsvollzugsverfahren und ausgesprochen verletzlichen Polizeipraktiken. Somit hätten betroffene Frauen die „Wahl“ zwischen Verbleib in einer gewaltsamen Beziehung und Obdachlosigkeit.
Geschlechtsspezifische Gewalt in der EU: neue Richtlinie
Am 24. April war „Nationaler Vergewaltigungstag“. Seit 2021 kreist ein Video auf der Plattform TikTok, in dem dazu aufgefordert wird, am 24. April junge Frauen und Mädchen zu belästigen, weil dieser Tag ein „Nationaler Vergewaltigungstag“ sei und Übergriffe nicht bestraft würden. Diese extreme Form sexualisierter Gewaltandrohung zeigt, wie salonfähig Gewalt gegen das weibliche Geschlecht wieder geworden ist. Noch mehr zeigt es allerdings, wie unsinnig die landläufige Verharmlosung von Daten- und Werbekraken wie Instagram, Facebook, X, TikTok als „soziale Medien“ ist. Es handelt sich vielmehr um von Grosskonzernen ins Internet ausgelagerte und organisierte Stammtischunkultur niedrigster Güte.
Die letzte europaweite vergleichende Studie über geschlechtsspezifische Gewalt wurde 2014 veröffentlicht. Erst dieses Jahr soll der nächste Vergleich folgen. Einige Länder weisen diese zudem in ihren Statistiken nicht einmal gesondert aus. 2014 hatte die Agentur für Grundrechte der EU festgestellt: Jede 3. Frau erlitt seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexualisierte Gewalt (62 Millionen!). Allein 2022 wurden mehr als 2.300 Frauen von ihrem Partner oder einem Familienmitglied getötet.
Am 8. März 2022 hatte deshalb die EU-Kommission einen Richtlinienentwurf zu deren Bekämpfung vorgelegt, der am 9. Juni 2023 weitgehend angenommen wurde. Damit werden körperliche, psychische, wirtschaftliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen sowohl off- wie online in der gesamten EU unter Strafe gestellt einschliesslich des nicht einvernehmlichen Austauschs von intimen Bildern, Cyberstalking und -belästigung und frauenfeindlicher Hetze. Genitalverstümmelung und Zwangsheirat fallen unter eigenständige Straftaten.
Und Vergewaltigungen?
Hier wollte die EU eine strengere Regelung einführen, bei der nur eine ausdrückliche Einwilligung als Zustimmung gilt: „Nur ja heisst ja!“ Das haben einige Länder, darunter Deutschland, blockiert. Es hätte eine erhebliche Verschärfung des deutschen Rechts bedeutet, das seit 2016 – erst! – nach dem Prinzip „Nein heisst nein“ urteilt, wonach sexuelle Handlungen als Vergewaltigungen gelten, wenn sie gegen den erkennbaren Willen einer Person erfolgen.
Initiative europäischer Gewerkschaften
Daran gab es aus den Reihen europäischer Gewerkschaften zu Recht massive Kritik. Paula Panzeri, Vizepräsidentin des Frauenkomitees des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), sieht in der abgeschwächten Richtlinie Zeichen für fehlenden politischen Willen. Am meisten besorgt zeigte sie sich aber, dass das Thema Gewalt am Arbeitsplatz weitgehend ignoriert wird. Hierzu zählt im Kontext von Telearbeit auch das Zuhause. In Italien gibt es (noch) einen gesetzlichen Mindestanspruch auf bezahlten Urlaub für Gewaltopfer, ergänzt durch Tarifverhandlungsergebnisse und Zusatzrechte.
Davon ist die BRD weit entfernt. Immerhin haben die ver.di-Frauen Musterbetriebs- bzw. -dienstvereinbarungen zum Thema erarbeitet, doch bleibt es in Tarifverhandlungen bisher ausgeklammert. Richtungweisend könnte die Schulung von Vertrauensleuten sein. In Italien hat sich Differenza Donna dem Ziel verschrieben, geschlechtsspezifische Gewalt aufzudecken, zu verhindern und überwinden.
Die Kooperation mit dem Gewerkschaftsdachverband CGIL hat dazu geführt, Strukturen in Unternehmen zu schaffen, die Beschäftigte vor Gewalt schützen. Die Fachkompetenz Differenza Donnas wird auch genutzt, um bei Bedarf zu intervenieren und Vertrauensleute auszubilden. Laut Lara Verbigrazia, Vizepräsidentin des Frauenausschusses für Gender und Gleichstellung des europäischen Gewerkschaftsbundes EGÖD und bei CGIL für Gleichstellungspolitik zuständig, habe ein einjähriges Ausbildungsprogramm für Vertrauensleute dazu geführt, von Betroffenen im Betrieb bereits beim Aufhängen anzüglicher Plakate erste Hinweise zu erhalten.
Fazit
Sowohl die Beispiele aus Australien wie die Zahlen der EU zeigen einen Zusammenhang zwischen weltweiter Vielfachkrise, Rechtsruck, Misogynie und Gewalt gegen Unterdrückte, insbesondere Frauen. Zweitens kann massenhafter Protest auf der Strasse Regierungen zum Handeln zwingen. Drittens muss die Arbeiter:innenklasse selbst aktiv werden und eigene Kontroll- und Ermächtigungsstrukturen schaffen. Nur so kann der Gehalt fortschrittlicher Reformen überwacht und bewahrt werden, nur so kann klarwerden, dass gleiches Gesetz für alle in Gleichheit aller vor dem Gesetz umgewandelt werden muss, sonst bleibt es für die Betroffenen ein Fetzen Papier.
Im 2. Schritt muss Rechtsgleichheit durch soziale Gleichheit ergänzt werden. Nur solche antisexistischen Strukturen innerhalb unserer organisierten Klasse können den Kampf gegen jede Unterdrückung, die sie schwächt und spaltet, in die Nervenzentren Betrieb und Büro tragen und zur Bewusstseinshebung und Aufklärung der breiten Masse beitragen. Dabei geht es insbesondere darum, die Herausbildung von Arbeiterinnen zu aktiven Klassenkämpferinnen zu fördern. Das Beispiel der italienischen Gewerkschaften bildet einen Ansatzpunkt in diese Richtung.
Dazu muss es aber die Schranken rein gewerkschaftlicher und reformistischer Politik überschreiten und auch die Wurzeln der Frauenunterdrückung in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowie der Bindung der Frauen an die private Reproduktions- und Sorgearbeit angreifen.
Zuerst erschienen auf arbeiterinnenmacht.de