Es ist kaum ein Jahr her: Als im Januar 2023 Brasiliens Luiz Inácio Lula da Silva zum dritten Mal als Präsident des größten Landes Südamerikas vereidigt worden war, hatten es die politischen Protagonisten der Bundespolitik plötzlich ganz eilig, ihm ihre Aufwartung zu machen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kam schon zur Vereidigung und brachte einen großzügigen Spendenscheck für den Regenwald mit. Wenige Wochen später folgten Bundeskanzler Olaf Scholz, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Wirtschaftsminister Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir folgten in kurzen Abständen.
Man muss schon sehr lange zurück in den Erinnerungen suchen, um sich an einen ähnlichen deutschen Politikauftrieb in Brasília zu erinnern. 2015 war das, damals unter der Kanzlerin Angela Merkel vereinbarten die Regierungen regelmäßige Regierungskonsultationen. Damals empfing Präsidentin Dilma Rousseff die deutsche Delegation. Danach flachte das Interesse ab: Rousseff wurde des Amtes enthoben, bei Interimspräsident Michel Temer wartete man lieber ab und als Jair Bolsonaro Präsident wurde, wollte man sich mit ihm lieber nicht zeigen. Merkel flog nach Argentinien und Mexiko und überließ den Antrittsbesuch ihrem Außenminister Heiko Maas.
Noch länger als die bilateralen Verhältnisse zwischen diesen beiden wirtschaftlichen Großmächten ruhte nur eine Sache: Das Freihandelsabkommen zwischen dem Staatenbund Mercosur und der Europäischen Union. Seit sage und schreibe 1999 versuchen Diplomaten, ein Vertragswerk zu schmieden, das einen der größten Freihandelsräume der Welt schaffen könnte. Die Voraussetzungen wären an sich nicht schlecht: Europa und Südamerika verbindet eine lange, wenn auch nicht immer ruhmreiche und bisweilen blutige (Kolonial-)Geschichte.
Doch viele Staaten wie Chile oder Brasilien sind bereits seit mehr als 200 Jahren unabhängig. Brasilien hatte sogar recht bald nach der Unabhängigkeit damit begonnen, neue Bande in Richtung Europa zu knüpfen, was auch dem eingeläuteten, wenn auch da noch nicht vollzogenen Ende der Sklaverei geschuldet war. Kaiser Dom Pedro I. wusste: Um sein gewaltiges Reich erschließen und besiedeln zu können brauchte er Manpower und entsprechendes Knowhow. Das Thema Bildung für die Bevölkerung hatte zu kolonialen Zeiten keine Rolle gespielt. Also nutzte der Kaiser Anwerbeagenturen, um Menschen aus Europa in die neue Welt zu locken.
Also sollte ein Freihandelsabkommen doch eigentlich nur Formsache sein? Seit Beginn der Verhandlungen hat sich die Welt massiv verändert. Mit dem 11. September 2001 rückten für den so genannten Westen der Kampf gegen islamistischen Terrorismus ins Blickfeld – im Grunde bis heute. Südamerika rückte damit noch weiter in die Peripherie. Diese Leerstelle im ehemaligen selbsterklärten Hinterhof der USA wusste China geschickt zu nutzen. Inzwischen hat China laut OECD längst die USA und Europa als wichtigster Handelspartner Brasiliens abgelöst https://oec.world/en/profile/bilateral-country/bra/partner/chn.
Insbesondere bei Soja und Fleisch gehen immer größere Mengen in Richtung China. Neben China und Hongkong, den gemeinsam wichtigsten Abnehmern mit einem Anteil von ca. einem Drittel an den brasilianischen Exporten, baut Brasilien die Beziehungen zu weiteren asiatischen Ländern, wie beispielsweise Indonesien und Thailand, aus. Die fünf wichtigsten Exportländer brasilianischer Agrarprodukte waren 2020 nach China und Hongkong mit 35,7%, an zweiter Stelle die EU mit 14,9%, an dritter Stelle die USA mit 6,9%, gefolgt von Japan mit 2,4% und Südkorea mit 2,1%. https://www.agrarexportfoerderung.de/fileadmin/SITE_MASTER/content/files/Laenderbericht_2021/BMEL_Laenderbericht_Brasilien_2021_final.pdf
Für Brasilien bringt das einerseits schnelles und sicheres Geld – China wird auch in Zukunft hungrig auf Rohstoffe aller Art sein. Darum bleibt es auch längst nicht nur beim Export agrarischer Produkte, auch wenn diese nach wie vor einen wesentlichen Teil des brasilianischen Wirtschaftsvolumens ausmachen. Auch andere Rohstoffe wie Aluminium, Lithium, Kohle, Erze sind in China willkommen.
Und darin liegt für Europa das Problem. Während einige Staaten wie Frankreich agrarische Importe ablehnen und das Thema Lieferketten und Umweltschutz noch in das Freihandelsabkommen irgendwie integriert werden müssen – sehr zum Missfallen der südamerikanischen Länder – schafft China auf dem Kontinent Fakten. Und: Europäische Sorgen, wie Umwelt- oder Arbeitsschutz kennt man in China kaum. Handel und Warenfluss scheint also mit China deutlich schneller und unkomplizierter abzulaufen, als mit den Europäern, die immer weitere Kriterien nachverhandeln wollen.
Dabei schien es 2019 fast so, als könnte es plötzlich schnell gehen. Damals bekam Präsident Jair Bolsonaro das Abkommen auf den Schreibtisch, er zeigte sich interessiert. Aber das war es auch schon. Mit Lula nun, so die Hoffnung vieler Europäer, insbesondere der Deutschen, sollte es doch endlich flott gehen. Doch der weltpolitische Wind hatte durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine erneut gedreht und Brasilien in eine ganz neue Verhandlungsposition gebracht. Brasilianische Rohstoffe sind seither gefragt wie nicht mehr seit dem Commodities-Bomm zu Beginn der ersten Amtszeit Lulas 2003. Zudem suchte Scholz nach einem Verbündeten gegen Russland, den er in Lula nur bedingt fand, während Habeck nach neuen Energiequellen suchte.
Vor diesem Hintergrund wurden die sonst üblichen Forderungen zum Schutz des Regenwaldes und dem Stopp der Rodungen und Abholzungen eher kleinlaut artikuliert. Das schien vielleicht auch gar nicht so notwendig, denn seit Antritt Lulas sind die Entwaldungen in der Amazonasregion tatsächlich gesunken, nachdem auch diese zunächst noch angestiegen waren. Wahr aber auch: Während die ganze Welt die Situation in der Amazonasregion verfolgt, hat sich die Landnahme verlagert. Diese findet nun vornehmlich im Cerrado statt, eine Steppenlandschaft, die sich südwestlich an die Regenwälder anschließt und quasi zwischen den Weiten des Agrobusiness und dem Urwald liegt. https://g1.globo.com/meio-ambiente/noticia/2023/05/05/desmatamento-amazonia-cerrado-abril-2023-dados-preliminares.ghtml
Doch was bedeutet das nun für das Abkommen – ist es womöglich endgültig gescheitert? Nein, sagt die Europaabgeordnete der Grünen, Andrea Cavazzini. Zwar sei es in der Öffentlichkeit etwas ruhiger um das Thema geworden, auf der Arbeitsebene aber hätten beide Seiten weiter an einem Abschluss gearbeitet. „Die Verhandlungen zu dem Dinosaurier-Abkommen sind noch nicht abgeschlossen, weil es nicht mit dem europäischen Green Deal kompatibel ist. Daher hat das Europäische Parlament Nachverhandlungen für mehr Nachhaltigkeit durchgesetzt“, sagt sie auf Anfrage. Zudem fehlte zurzeit das politische Momentum wegen der Proteste der europäischen Landwirte. „Deswegen hat die Kommission die weiteren Verhandlungen auf die Zeit nach der Europawahl verschoben,“ sagt sie.
Diese Verschiebung birgt Risiken für das Gelingen. Denn nach dem 9. Juni können sich Mehrheitsverhältnisse verschoben haben. Das befürchtet auch Cavazzini mit Blick auf die starken Umfragewerte rechter und rechtsextremer Parteien. „Die neuen Abgeordneten könnten dem Abkommen kritischer gegenüberstehen und auch in vielen Mitgliedsstaaten ist der Widerstand gegen das Abkommen weiterhin hoch.“ Daher habe die Europäische Kommission versucht, die Verhandlungen bis Ende letzten Jahres zu finalisieren, aber die Präsidentschaftswahl in Argentinien hätten den Abschluss zusätzlich herausgezögert.“
An der Wahl-These hegt Carl Moses, Wirtschaftsexperte für Lateinamerika, der die Verhandlungen von Beginn an begleitet, Zweifel. „In Argentinien haben sich die Chancen für das Abkommen überhaupt nicht verschlechtert, eher ist das Gegenteil der Fall. Milei will das Abkommen. Allerdings könnten seine ständigen Streitereien wie gerade mit Spanien das Verhandlungsklima beeinträchtigen“, sagt er. Zum Glück habe Europa auf Milei bisher gelassener reagiert als auf Bolsonaro seinerzeit in Brasilien, aber wenn Milei den Bogen überspanne, wolle auch mit ihm irgendwann niemand mehr aufs Foto.
Nach seiner Einschätzung scheiterten die Verhandlungen bisher und auch weiterhin am politischen Willen Europas. „Es mangelt an wirklich konkretem Willen, der über Sonntagsreden hinausgehen würde, es fehlt die Bereitschaft, über den eigenen Schatten zu springen und Kompromisse zu schließen – in den letzten Jahren vor allem auf Seiten der Europäer.“ Dazu gekommen seien die neuen Vorschriften der EU für die Lieferketten und der Waldschutz. Das mache einen Deal für den Mercosur wenig attraktiv und zerrütte vor allem das Verhandlungsklima, Stichwort Neokolonialismus.
Zudem müsse Europa seine Verhandlungsposition überdenken. „Die Position der EU ist deutlich schwächer geworden“, sagt Moses. „Wirklich Lust auf den Deal hat Südamerika wahrscheinlich nicht mehr, aber lohnend wäre das Abkommen auch für den Mercosur wohl immer noch.“ Der klare Verlierer wäre jedoch die EU, sollte das Abkommen nicht zustande kommen. „Nicht nur aufgrund entgehender Chancen, sondern auch weil sich die Position Europas in Südamerika noch schneller und noch stärker schwächen würde, vor allem gegenüber China.“