Die heutigen Grünen haben mit der Partei, die 1983 in den Bundestag einzog, noch nicht mal mehr den Namen gemeinsam. Ein Nachruf.
Dreissig Jahre lang hatte er die Grünen gewählt, doch seit zehn Jahren nicht mehr. Autor und Publizist Leo Ensel ist Konfliktforscher und spezialisiert auf den postsowjetischen Raum.
Liebe Grüne,
eure Politik, die seit zweieinhalb Jahrzehnten nichts, aber auch gar nichts mehr mit euren friedensbewegten Wurzeln der Achtziger Jahre zu tun hat – was offenbar die Wenigsten zu stören scheint; ja, was die Allerwenigsten überhaupt realisieren –, ist einfach nicht mehr zu ertragen. Sie schreit nach Widerspruch. Kurz und in klarer deutscher Prosa: Ich hoffe, ihr werdet zusammen mit der AfD bei den kommenden Europawahlen ein krachendes Desaster, euer Waterloo erleben! Überhaupt möchte ich euch schnellstmöglich auch im Bundestag wieder auf der wohlverdienten Oppositionsbank sehen. Und das sagt euch jemand, der euch 30 Jahre lang so treu und brav gewählt hat, wie dessen Eltern seinerzeit die CDU.
Aber spätestens seit zehn Jahren ist damit Schluss.
Kurz zu mir: Wie Hunderttausende andere Menschen bin ich in den Achtzigerjahren in Westdeutschland auf die Strasse gegangen und habe gegen die Stationierung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen demonstriert, die im sogenannten „Ernstfall“ innerhalb von acht Minuten alle grösseren westlichen Städte der Sowjetunion dem Erdboden gleich gemacht, Millionen Sowjetbürger in Leichen verwandelt und im Gegenzug das atomare Inferno in Westeuropa provoziert hätten. Damals wart ihr unsere Hoffnung. Als ihr im Frühling 1983 erstmals in den Bundestag einzogt, wart ihr das Bein der Friedensbewegung im Parlament. Und ihr habt in dieser Zeit – das sei euch nach wie vor zugestanden – den Laden gehörig aufgemischt.
Ökopax
„Ökopax“ hiess das Zauberwort damals; es ist bezeichnenderweise längst vergessen! Ökologie, der Kampf gegen die Zerstörung der Mitwelt und der Kampf für den Frieden, also für Abrüstung, die Überwindung der Machtblöcke und für eine Welt ohne Massenvernichtungsmittel, kurz: der Kampf gegen die Vernichtung allen Lebens auf unserem Planeten – sei es durch Krieg oder „friedlich“ – gehörte damals für euch, wie für alle Menschen, die in grösster Unruhe waren, selbstverständlich zusammen. Allen war klar, dass dies ein und derselbe Kampf war, nur eben an unterschiedlichen Fronten.
Das Gleiche galt für die Menschenrechte: Petra Kelly, sie trug dabei ein T-Shirt mit dem „Schwerter zu Pflugscharen“-Symbol der staatlich verfolgten DDR-Friedensbewegung, traf sich am 31. Oktober 1983 zusammen mit den grünen Bundestagsabgeordneten Gerd Bastian, Antje Vollmer, Lukas Beckmann und Otto Schily mit dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Ostberlin – und anschliessend mit oppositionellen Bürgerrechtlern. Im Mai desselben Jahres waren Kelly, Bastian und andere GRÜNE sogar kurzfristig verhaftet worden, als sie auf dem Alexanderplatz ein Transparent mit der Forderung „Abrüstung in Ost und West“ entrollten. Und später, im November 1987, protestierten sie gegen die Inhaftierung von Mitgliedern der Ostberliner Umwelt-Bibliothek. Mit einem Wort: Damals wart ihr unbestechlich und habt Euch von keiner Seite vereinnahmen lassen.
Lang, lang ist‘s her!
Heute habt ihr mit der damaligen Partei noch nicht mal mehr den Namen gemeinsam. Ihr seid ein bis auf die Fassade komplett entkernter Altbau. Euer Ur-Sündenfall war eure von Joschka Fischer eingefädelte Zustimmung zum Kriegseinsatz deutscher Soldaten gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999, dem ersten seit dem Zweiten Weltkrieg – und gleich ohne völkerrechtliches Mandat. – Nichts weniger als Auschwitz musste dafür herhalten, eure damals noch antimilitaristische Basis in den Krieg zu locken!
Die Scham ist vorbei
Heute habt ihr solch atemberaubende Salti Mortali nicht mehr nötig. Die Pazifisten und Rüstungskritiker in eurer Partei, ja, selbst die Befürworter eines Waffenstillstands in der Ukraine sind entweder tot, kaltgestellt, weggeekelt, altersmilde oder halten freiwillig den Mund. Und ihr seid wieder an den Hebeln der Macht: mit einer Aussenministerin, die für die Menschenrechte über Leichen geht, und einem Vizekanzler, der vor dem saud-arabischen Kronprinzen und mutmasslichen Kashoggi-Schlächter den Bückling macht. Aber statt UN-Charta und Völkerrecht bemüht ihr nur noch eine ominöse „regelbasierte Weltordnung“, die nirgends kodifiziert ist und offenbar kein Problem damit hat, die zivilen Opfer der aktuellen Kriege je nach Täter als „Kriegsverbrechen“ oder „Kollateralschaden“ zu verbuchen.
Immerhin sprecht ihr Klartext: Eure Aussenministerin will Russland nicht etwa nur „ruinieren“, she’s already „fighting a war against Russia“! Statt alles dafür zu tun, das wechselseitige Töten und Sterben in der Ukraine schnellstmöglich zu stoppen, liefert ihr euch zusammen mit FDP, CDU und Teilen der SPD einen schrillen Überbietungswettbewerb, was die Waffenlieferungen angeht. Ihr fallt eurem Kanzler, der zum ersten Mal Rückgrat zu beweisen scheint, mit euren Forderungen nach Taurus-Marschflugkörpern – mit denen die Ukraine immerhin den Kreml und russische Atomwaffendepots pulverisieren könnte – prompt in den Rücken, morgen werdet ihr solidarisch-tapfer auch noch „European boots on the ground!“ und „Germans to the front!“ fordern. Für Verhandlungen dagegen, für eine diplomatische Lösung macht ihr keinen Finger krumm.
Und die Folgen für die geschundene Ukraine, die gerade – auch mit den von euch geforderten und gelieferten Waffen – zu Tode verteidigt wird, in der weite Landstriche durch Minen, Uran- und Streumunition auf Jahrzehnte verseucht sind, wo die verbliebenen Soldaten auf Himmelfahrtskommandos geschickt werden und Zehntausende Menschen oder mehr bereits sterben mussten? Die Folgen für unser Land, von dem ihr laut Amtseid Schaden abzuwenden habt, das ihr aber im Worst Case in den Dritten Weltkrieg hineinzieht? – So what!!
Let’s face it: Was Rüstung, Militär und Kriege angeht, seid ihr heute nichts Anderes als opportunistische Apologeten der Eskalation – die Partei des woken zeitengewendeten Lifestyle-Militarismus! Petra Kelly, Antje Vollmer und erst recht Heinrich Böll, dessen Namen ihr zu Unrecht schamlos für euch in Anspruch nehmt, rotieren im Grabe.
Was Vielfalt ist, bestimmen wir!
Unter eurer farbenfrohen Regenbogenfahne hat auch noch die skurrilste Inszenierung der exotischsten erotischen Neigung ihren Ehrenplatz – nur niemand, der sich für ein Schweigen der Waffen im Ukrainekrieg und Deeskalation mit Russland, immerhin eine Frage von Krieg und Frieden, nein: von Weiterleben und Untergang, einsetzt!
Stattdessen belegt ihr die wenigen Politiker, Publizisten und Fachleute, die es noch wagen, sich für Diplomatie und Entspannung oder gar für ein Einfrieren des Ukrainekriegs einzusetzen, mit öffentlichem Bann, sorgt im Verbund mit den Leitmedien rigoros dafür, dass sie nichts mehr zu melden haben, grenzt sie aus, macht sie mundtot – und darauf seid ihr auch noch stolz! So sehen bei euch „Toleranz und Vielfalt“ aus.
Und das schafft Ihr spielend, denn ihr wart längst schon zu den heimlichen Machthabern dieser Gesellschaft avanciert, bevor ihr überhaupt wieder an die Macht kamt. Die Vierte Gewalt habt ihr kampflos erobert. Nahezu sämtliche relevanten Medien, bis tief in die einst so verachtete Springer-Presse, fressen euch aus der Hand. Sie sind eure Stichwortgeber und Claqueure zugleich. Und das hat Folgen: Heutzutage erfordert es erheblich mehr Mut und „Zivilcourage“, sich mit euch, die ihr euch für sakrosankt haltet, anzulegen, als den Papst zu beleidigen!
Aber wo wart ihr, als der bedeutendste Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte, der INF-Vertrag – seinerzeit das unerwartet glückliche Resultat auch eures Engagements –, jämmerlich verreckte? Habt ihr damals oder gar im Vorfeld, als noch Zeit war, „Gesicht gezeigt“? Auch nur einen einzigen Mucks von euch gegeben? Ich kann mich nicht erinnern. Und warum betreibt ihr jetzt, wo es Spitz auf Knauf steht, nichts als Totalverweigerung in Sachen Diplomatie? Warum überlasst ihr alle dringendst gebotenen Aktivitäten Ländern wie Brasilien, Südafrika, China, Italien oder dem Vatikan? – Welch grandiose Leistung einer Partei, die ihre Wurzeln in der Friedensbewegung hat!
„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“
Euer pathologisch gutes Gewissen, eure gefühlte moralische Überlegenheit, die ihr wie eine Monstranz vor euch hertragt, euer inquisitorisches Insistieren auf dem allerneuesten politisch-koketten Schönsprech, eure fürsorgliche Bevormundung sämtlicher Minderheiten auf dem Planeten – die diese ungefragt über sich ergehen lassen müssen –, euer gesinnungsethisches Jakobinertum, kurz: eure toxische Selbstgerechtigkeit macht euch blind und unfähig zu erkennen, dass ihr mit eurem tollkühnen aussenpolitischen Dilettantismus den Karren nur noch tiefer in den Dreck fahrt.
„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, heisst es in einem berühmten Buch! Was also sind eure Früchte? Was habt Ihr erreicht mit eurer schrillen Rüstungs- und Sanktionsorgie, mit eurer vorgeblichen Menschenrechtspolitik? Habt ihr den Krieg in der Ukraine beendet? Ein einziges Menschenleben gerettet? In „Putins Russland“ einen zu Unrecht verurteilten Oppositionellen aus dem Gefängnis oder Lager befreit? Eine Organisation davor bewahrt, mit dem Etikett „ausländischer Agent“ kaltgestellt zu werden? Wenigstens den „Fall Nordstream“ aufgeklärt?
Sorry, aber Realpolitik ist nichts für dünkelhafte Missionare, die mit Schwarzer Pädagogik Eingeborene bekehren wollen und noch bis in die letzte Körperzelle die Überzeugung ausstrahlen, dass an ihrem Wesen die Welt genesen soll! Nichts für oberlehrerhafte Entwicklungshelfer, die der anderen Seite beibiegen, wie es – angeblich – geht, zu gehen hat.
Nein, Realpolitik – Politik, die wirklich etwas bewirken, sprich: zum Besseren wenden oder noch bescheidener: wenigstens das Schlimmste abwenden will und zwar mit den Akteuren, die die Politik tatsächlich bestimmen – funktioniert anders! Geräuschlos und schon gar nicht bekenntnishaft. Das berühmte „starke und langsame Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmass zugleich“, das vorsichtige Knüpfen von Gesprächsfäden, das mühsame Abbauen von Misstrauen im Millimetertempo über lange Zeiträume hinweg, das umsichtige Ausloten des realen Handlungsspielraums der anderen Seite, das geduldige, extrem störungsanfällige Halten von Kontakten, namentlich zu Krisen-, gar Kriegszeiten, mit einem Wort: der Aufbau von belastbarem Grundvertrauen, ohne das nichts, aber auch gar nichts geht – all dies findet in geschütztem Rahmen, bestimmt aber nicht vor laufenden Kameras statt.
Und es erfordert Profis, die ihr Fach beherrschen: Filigrane Feinmechaniker der Diplomatie. Menschen, die die andere Seite, ihre Interessen und ihre Werte, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre Traumata und Tabus, aber auch ihren Stolz gut kennen und begierig sind, dies alles immer noch besser und tiefer zu verstehen. Personen, die bereit und in der Lage sind, sich probeweise in ihr Gegenüber, und sei es ihnen noch so fern, fremd oder gar unsympathisch, zu versetzen und die Welt aus dessen Perspektive wahrzunehmen. Persönlichkeiten, die sich nicht zu schade sind, zur Not als Reparaturarbeiter in die verstopften Kloaken der Politik abzutauchen, sie zu reinigen, sich, wenn es sein muss, gar mit dem „Teufel“ an einen Tisch zu setzen – und die über Souveränität und Rückgrat verfügen, öffentliche gesinnungsethische Prügel gelassen einzustecken.
Zu Zeiten des (ersten) Kalten Krieges gab es solche Persönlichkeiten, wie unterschiedlich die jeweiligen Regierungskonstellationen auch aussehen mochten. Und sie waren mal höchst erfolgreich.
Leo Ensel
Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die wechselseitige Wahrnehmung von Russen und Deutschen. Im Neuen Ost-West-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens.
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Dieser Beitrag erschien zuerst auf GlobalBridge.