Marco Diener für die Online-Zeitung INFOsperber
Nemo betrachtet sich weder als Mann noch als Frau. Darüber hat Nemo in Malmö gesungen und damit den Eurovision-Song-Contest gewonnen. Im Freudentaumel bat Nemo Bundesrat Beat Jans um ein Gespräch. Denn Nemo findet «es absolut inakzeptabel», dass in der Schweiz ein dritter Geschlechtseintrag nicht möglich ist. Er sagt: «Das müssen wir ändern.» Laut verschiedenen Medien hat ihm Beat Jans geschrieben: «Lass uns bald zusammenkommen, um auch über queere Rechte zu sprechen.»
Neuerung vor zwei Jahren
Erst vor gut zwei Jahren hat das Parlament die Bestimmungen zum Geschlechtseintrag im Zivilgesetzbuch (ZGB) geändert. Seither darf jede Person, die – wie es der Bundesrat formuliert – «innerlich fest davon überzeugt ist, nicht dem im Personenstandsregister eingetragenen Geschlecht zuzugehören», den Eintrag ändern lassen. Allerdings gibt es nur zwei Kategorien: Mann und Frau. Und das reicht für Leute wie Nemo nicht.
Deshalb muss ein drittes Geschlecht her. Denn, so die Website non-binary.ch, die von Aktivisten betrieben wird: «Es ist wichtig, dass es auch in der Schweiz nicht-binäre Geschlechtseinträge gibt, weil das Recht auf geschlechtliche Identität ein Menschenrecht ist und das Nicht-Akzeptieren der Geschlechtsidentität – vor allem durch den Staat – ein zentraler Stressor für non-binäre Menschen ist, der potenziell krank macht.»
Sechs Geschlechter in Österreich
Andere Länder haben das bereits anerkannt und ermöglichen den Eintrag eines dritten Geschlechts. Sogar schon einen Schritt weiter gegangen ist Österreich. Dort sind sechs verschiedene Geschlechtseinträge möglich: männlich, weiblich, inter, divers, offen oder keine Angabe.
Weitere wären denkbar: genderqueer, genderfluid, bigender, demigender, demigirl, demiboy, agender, neutrois. Wir gehen an dieser Stelle nicht auf die subtilen Bedeutungsunterschiede zwischen diesen Geschlechterkategorien ein – aber angesichts der Fülle der Möglichkeiten ist klar, dass sich auch mit einer dritten Geschlechtskategorie nicht alle mitgemeint fühlen würden.
Was uns unterscheidet? Oder was uns eint?
Deshalb die Fragen: Ist es klug, wenn sich Jans und Nemo über eine dritte Geschlechterkategorie unterhalten? Ist das Denken in Geschlechterkategorien nicht rückständig? Sollen wir uns wirklich noch stärker damit beschäftigen, was uns Menschen unterscheidet? Oder wäre es nützlicher, wenn wir uns darauf konzentrieren würden, was uns eint?
Der damalige St. Galler Uni-Professor Thomas Geiser schrieb schon vor bald zehn Jahren in der NZZ (Bezahlschranke): «Beim Pass und bei der Identitätskarte wird das Geschlecht mit einem ‹M› oder einem ‹F› angegeben, beim Führerausweis jedoch nicht. Der Grund für die unterschiedliche Regelung ist nicht nachzuvollziehen.»
Amtliches Geschlecht eigentlich ohne Bedeutung
Im Alltag, schrieb Geiser damals, sei das amtliche Geschlecht ohne Bedeutung. Ob er jemanden als «Herr» oder als «Frau» anspreche, hänge vom Erscheinungsbild der Person ab. Und nicht vom Eintrag im Personenstandsregister. Ebenfalls vom Erscheinungsbild hänge ab, wer auf einer Männer- und wer auf einer Frauen-Toilette geduldet werde. Ein Zöllner, fuhr Geiser fort, überprüfe bei einer Kontrolle nicht das Geschlecht, sondern vergleiche das Erscheinungsbild und das Foto im Ausweis.
Die amtliche Zuweisung eines Geschlechts hätte nur dann einen Sinn, wenn sich daraus unterschiedliche Rechte ableiten liessen. Aber genau das ist nicht der Fall. Artikel 8 der Bundesverfassung lässt unterschiedliche Rechte gar nicht zu. Dort steht nämlich: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.» Geiser schrieb deshalb: «Eine unterschiedliche Behandlung» ergebe sich «nicht aus dem amtlichen Geschlecht.» Eine unterschiedliche Behandlung könne sich aus anderen Gründen ergeben. Zum Beispiel aus einer Schwangerschaft: «Der Schutz einer Schwangeren im Arbeitsrecht knüpft nicht am Geschlecht an, sondern bei der Schwangerschaft.» Frauen, die nicht schwanger seien, genössen diesen Schutz ebenso wenig wie Männer.
«Die Natur ist bunter als das Recht»
Geiser kritisierte auch die unterschiedlichen Umwandlungssätze im Überobligatorium der Pensionskassen nach Geschlecht: «Andere Unterscheidungskriterien sind erheblich signifikanter. Einzig nach jenem Kriterium zu unterschieden, welches die Verfassung verbietet, ist nicht haltbar.»
Mit Blick auf Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig ist oder die sich keinem Geschlecht zuordnen lassen wollen, schrieb Geiser: «Die Natur ist bunter als das Recht.» Und: «Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum eine Rechtsordnung zwischen Mann und Frau unterscheidet.»
Eine neue Geschlechtskategorie löst keine Probleme. Womöglich schafft sie sogar neue. Warum also die Geschlechterkategorien nicht abschaffen?
Darüber sollten Jans und Nemo sprechen.