Für 2023 dokumentiert ReachOut 355 rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin. Nur ein Teil dieser Taten wird öffentlich bekannt. Rassismus ist das häufigste Motiv.

ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, verzeichnet mit 355 Angriffen für das Jahr 2023 erneut einen Anstieg der Taten im Vergleich zum Vorjahr (336 Angriffe). Mindestens 450 Menschen wurden im vergangenen Jahr verletzt und bedroht. Die Zahl der Angriffe bleibt seit Jahren nahezu konstant erschreckend hoch.

Berlin, 16. Mai 2024

Insgesamt erfasst ReachOut 355 Angriffe für das Jahr 2023 (2022: 336). Mindestens 450 Menschen wurden verletzt, massiv bedroht, gejagt und bespuckt. Unter den Opfern sind 34 Kinder und 25 Jugendliche.

ReachOut fasst die Angriffssituation im vergangenen Jahr zusammen: »Das Jahr war geprägt von politischen und medialen Debatten und daraus resultierenden Maßnahmen, die eine besorgniserregende rassistische Dimension aufweisen. Zudem beeinflussen diese rassistischen Diskurse die Angriffssituation in Berlin unmittelbar und Täter*innen werden ermutigt, weiter zuzuschlagen und zu bedrohen. Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt berichten weiterhin, dass ihre Perspektive von der Politik, den Behörden und den Medien permanent aberkannt und/oder nicht ernst genommen wird. Die Betroffenen werden häufig nicht als Opfer anerkannt und in den Folgen der Angriffe alleingelassen. Nicht selten erfahren sie dabei noch eine Täter-Opfer Umkehr durch die Medien, der Polizei und Justiz«.

Beispiele aus unserer Chronik:

Am 30. Dezember 2023 wird eine Frau an einer Bushaltestelle im Allendeviertel von einem Mann aufgrund von antischwarzem Rassismus gestoßen. Der Mann hat die Frau bereits eine Woche zuvor in einem Supermarkt angegriffen. Durch das Wiedererkennen und erneute Angreifen fühlt sich die Frau zunehmend bedroht und hat Angst, sich im Allendeviertel zu bewegen.

In der Nacht zum 08. April 2023 wird ein Mann aus rassistischer und extrem rechter Motivation aus einer Gruppe heraus beleidigt. Der Betroffene wird ins Gesicht geschlagen. Seine sechs Begleiter werden geschlagen und getreten. Als die Polizei eintrifft, werden zunächst die Opfer als Täter verdächtigt.

Am 22. Oktober 2023 wird die Wohnung einer Familie zum vierten Mal seit 2022 angezündet. Die Eltern und die drei Kinder befinden sich alle in der Wohnung während der Brand gelegt wird. Anzeige wurde erstattet.

Die physischen und psychischen Folgen jedes Angriffs sind für die Opfer immens. Um einen Umgang mit den gesundheitlichen, finanziellen und sozialen Angriffsfolgen zu finden, hat ReachOut die Betroffenen 2023 im Rahmen von 709 Beratungsgesprächen (2022: 639) unterstützt. 102 Beratungen wurden von Sprachmittler*innen begleitet.

Mit 188 Taten sind über 50% rassistische Angriffe** (2022: 198 von 336).

Von den insgesamt 188 rassistischen Taten wissen wir, dass mindestens 26 (2022: 13) Angriffe antimuslimisch waren, sich 14 (2022: 6) gegen Rom*nja und Sintezz*a und 22 (2022: 31) gegen Schwarze Menschen richteten. Rassistische Angriffe gegen tatsächlich oder vermeintliche Muslim*innen und Romn*ja und Sint*ezzi haben sich demnach verdoppelt.

Dazu Beispiele aus unserer Chronik:

Am 13.07.2023 wird auf dem S-Bahnhof Alexanderplatz ein Mann aus antisemitischer Motivation von zwei Männern beleidigt, bespuckt, geschlagen und getreten. Die Täter versuchen auch sein Telefon zu stehlen.

Am 24.11. 2023 wird eine queere Person in einem Geschäft in der Potsdamer Straße von drei Mitarbeitern des Ladens aus LGBTIQ*-feindlichen Motiven bedroht. Als sie die Gewaltandrohung mit ihrem Handy aufnehmen und sich aus der Situation zurückzuziehen versucht, wird ein Mitarbeiter aggressiv. Die queere Person verlässt den Laden und wird von den Mitarbeitern verfolgt. Einer aus der Gruppe würgt sie von hinten. Es gelingt ihr, vor den drei Männern zu flüchten. Dabei zerbricht ihre Brille.

Die Zahl der Attacken und massiven Bedrohungen gegen politische Gegner*innen ist mit 30 Angriffen gesunken (2022: 45). Gegen obdachlose Menschen richten sich 8 Gewalttaten (2022: 8). Ebenfalls in 8 Fällen wurden Menschen mit Behinderung angegriffen (2022: 0). Hier dokumentieren wir eine deutliche Zunahme.

Bei den meisten Angriffen handelt es sich um Körperverletzungen (2023: 193 | 2022: 187), gefährliche Körperverletzungen (2023: 104 | 2022: 87) und massive Bedrohungen (2023: 44 | 2022: 39). Zudem mussten wir 6 Brandstiftungen und 3 schwere Körperverletzungen dokumentieren.

Die meisten Angriffe werden in den innerstädtischen Bezirken verübt.

Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg finden insgesamt 62 (2022: 38) und somit stadtweit die meisten Angriffe statt, mit einem deutlichen Anstieg im Vergleich zum Vorjahr. Davon sind 23 Angriffe rassistisch (2022: 17), 24 Angriffe richten sich gegen die sexuelle Identität oder Orientierung der Betroffenen (2022: 10) und jeweils 5 Angriffe sind antisemitisch (2022: 5) bzw. richten sich gegen politische Gegner*innen (2022: 5).Weitere Angriffsschwerpunkte dokumentieren wir in den Bezirken Mitte/Tiergarten/Wedding (2023: 56 | 2022: 72), Neukölln (2023: 40 | 2022: 22) und Charlottenburg-Wilmersdorf (2023: 33 | 2022: 30).

Viele der rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten werden der Öffentlichkeit jedoch nicht bekannt, seitdem ReachOut keine Informationen mehr von den Ermittlungsbehörden erhalten darf. ReachOut wünscht sich erneut ein Umdenken des Berliner Datenschutzbeauftragten in dieser Frage, um die Auswertung der Angriffssituation und das Monitoring in der Stadt zu unterstützen. Das vorliegende Gesamtbild und die Entwicklung der Angriffszahlen in Berlin zeigt, dass insbesondere rassistische Angriffe auf einem hohen Niveau bleiben. Zudem haben sich die LGBTIQ*-feindlichen Angriffe nahezu verdoppelt.

Institutioneller Rassismus und die Arbeit von ReachOut

Weil institutioneller Rassismus und rassistische Gewalt und Bedrohung miteinander verknüpft sind, arbeitet ReachOut in beiden Handlungsfeldern.

Einen Teilerfolg gegen Institutionellen Rassismus hat ReachOut gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) und der Anlaufstelle Diskriminierungsschutz an Schulen (ADAS) erreichen können, indem es eine Anpassung diskriminierender Schulordnungen an mehreren Berliner Schulen erwirken konnte. Es wurden an über 20 Schulen diskriminierende Vorgaben festgestellt, wie die Pflicht aller Schüler*innen ausschließlich Deutsch zu sprechen oder auch ein pauschales Verbot der Religionsausübung. Derartige Vorgaben verletzen die Grundrechte und legitimieren rassistische Diskriminierung. Nach einer Beanstandung der GFF nach dem Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) haben ein Großteil der Schulen reagiert und entfernten diskriminierende, rassistische Regelungen.

Welche Auswirkungen institutionelle rassistische Verordnungen haben, erfahren wir tagtäglich durch Ratsuchende bei ReachOut: »Schüler*innen mit Rassismuserfahrungen erleben die Schule nicht als sicheren Ort, sondern als einen Ort, wo sie sich täglich schützen müssen. Diese jahrelange Konfrontation mit rassistischer Diskriminierung kann zu starken chronischen Symptomen wie Depressionen bis hin zu Suizidalität führen, die ReachOut besorgt begleitet«.

Es bleibt wichtig, die Fortführung des Institutionellen Rassismus sichtbar zu machen und öffentlich anzuklagen, um die Institutionen rechenschaftspflichtig zu machen und die Perspektive der Betroffenen zu stärken.

Politik, Polizei und Justiz prägten auch wieder das Jahr 2023 mit der Fortführung rassistischer Diskurse und Kriminalisierungen:

»Wir kritisieren, dass Menschen in Berlin-Neukölln und Berlin-Kreuzberg verstärkt im Fokus einer politischen und medialen rassistischen Kriminalisierung stehen. Die rassistischen Debatten rund um die Silvesternacht 2022/2023, die Berliner Freibäder in der Prinzenstraße und am Columbiadamm, oder die geplante Einzäunung des Görlitzer Parks stehen hierfür exemplarisch. Erst kürzlich, am 6.5.2024, hat der regierende Bürgermeister auf dem CDU-Parteitag erneut damit geworben, dass die Politik seiner Partei in Berlin ›wirke‹, weil sie sich gegen ›Dealer‹ im Görlitzer Park richte und sie ›Clans‹ in Neukölln ›fest im Blick‹ behalte. Rassismusbetroffenen Personen werden damit in der Öffentlichkeit diffamiert und kriminalisiert. Die fortdauernde rassistische Kriminalisierung steht für uns in einem Zusammenhang mit dem Anstieg der antimuslimischen Gewalttaten in der Stadt.«, so ReachOut.

Dabei ist das Spekulieren über die Herkunft von Straftäter*innen brandgefährlich und rassistisch. Notwendig ist stattdessen die konsequente Durchsetzung von sozialen Chancen und Rechten für Alle, ganz unabhängig davon, wie alt sie sind oder woher sie selbst oder ihre Familien kommen. Zu den lange überfälligen Maßnahmen gehört auch ein systematisches Vorgehen der Behörden gegen Racial Profiling und rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.

Der Berliner Senat verfehlt nicht nur sein Ziel, die Betroffenen in der Stadt zu schützen, sondern trägt auch Verantwortung für die Angriffssituation. ReachOut fordert eine Entkriminalisierung von Betroffenen rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt. Zudem bestehen wir auf eine juristische Anerkennung rechter, rassistischer und antisemitischer Tatdimensionen und eine konsequente Entschädigung der Opfer.

Weitere Einzelheiten zu den Angriffszahlen entnehmen Sie bitte der Pressemappe, den darin enthaltenen Grafiken und der Tabelle »Rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin«. In der Tabelle geben wir einen Rückblick auf die Entwicklungen der letzten Jahre.

 

Der Originalartikel kann hier besucht werden