Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

Von José María Tortosa

Das Wort Fehlentwicklung (Maldevelopment) ist auch eine Reaktion auf die Schwächen und schädlichen Nebenwirkungen des Programms Entwicklung. Der Begriff Unterentwicklung wurde Teil des öffentlichen Sprachgebrauchs nach der Antrittsrede von Präsident Truman im Jahr 1949, in der eine klare und für diese Zeit typische antikommunistische Haltung zum Ausdruck kam. Der Verwendung des Wortes Entwicklung liegt eine Metapher aus der Biologie zugrunde: Lebewesen entwickeln sich und wachsen entsprechend ihres genetischen Codes. Dies ist ein natürlicher, allmählicher, unregelmäßiger und nutzbringender Prozess. Für den Fall, dass diese Entwicklung nicht eintritt, könnte ein Arzt eingreifen und sie umlenken – wie im vierten Punkt besagter Rede ausgeführt, in Richtung einer Vereinbarung zwischen den Unternehmen und Regierungen der entwickelten Länder, um Technologie zu transferieren und Wachstum in den unterentwickelten Ländern zu erzeugen. Jedoch mit einer Einschränkung: „die alte imperialistische Ausbeutung zum Zwecke ausländischer Profite hat in unseren Plänen keinen Platz. Was uns vorschwebt“, so Truman, „ist ein Entwicklungsprogramm, das auf den Konzepten des demokratischen fair­dealing beruht.“

Wie andere Metaphern auch birgt Entwicklung in sich die Gefahr einer versteckten Ideologie. Dies gilt umso mehr, wenn sie sich auf das Ziel des Wachstums – ausgedrückt im BIP – konzentriert, ohne irgendeinen Verweis auf dessen Grenzen. Die auf dem BIP basierende Wirtschaft impliziert ein grenzenloses Wachstum, lässt dabei aber den zweiten Teil der biologischen Metapher, die Alterung, außer Acht und berücksichtigt systematisch nicht die Beziehung zwischen diesem Prozess und seiner Umwelt.

Die Metapher der Fehlentwicklung ist eine andere. Lebewesen leiden unter Fehlentwicklungen, wenn ihre Organe ihrem Code nicht folgen. Sie geraten aus dem Gleichgewicht und werden deformiert. Die Verwendung des Begriffs in der Sozialwissenschaft scheint mit einem Artikel von Sugata Dasgupta aus dem Jahr 1967 begonnen zu haben. Das klassische Werk dazu wurde 1990 von Samir Amin verfasst und auch in dem 1993 von Jan Danecki herausgegebenen Buch zitiert, das mit interkontinentaler Beteiligung die Diskussionen des Projekts Goals, Processes and Indicators of Development (GPID – Ziele, Prozesse und Indikatoren von Entwicklung) der Vereinten Nationen (1978­82) wiedergibt. Es ist zwar eine Metapher, aber im Gegensatz zur Entwicklung wird bei der Fehlentwicklung eine Überprüfung angestrebt – erstens hinsichtlich des Scheiterns des Entwicklungsprogramms auf globaler Ebene und zweitens in Bezug auf die Feststellung von Fehlentwicklungen, die in der Struktur und Funktionsweise des Weltsystems und seiner Komponenten zu beobachten sind. Während Entwicklung ein normatives Element (wünschenswert) impliziert, enthält Fehlentwicklung eine empirische Komponente (beobachtbar) oder sogar ein kritisches Element (unerwünscht).

Erweitert man diese Metapher, so könnte man an eine medizinische Klinik denken, die von einer Diagnose ausgeht, eine Prognose erstellt und eine Therapie einleitet, und zwar im Sinne einer idealen Gesundheit, die zwar nicht immer genau definiert ist, deren Fehlen aber in der Regel klar bestimmt und als Krankheit eingestuft wird. In diesem Sinne kann Fehlentwick- lung als Teil einer Krankheit verstanden werden, deren Komponenten gemäß der folgenden Tabelle aufgezählt werden können, in der sich zum einen die Grundbedürfnisse (Wohlbefinden, Freiheit, Identität, Sicherheit) entsprechend den von Johan Galtung genannten Kriterien finden und zum anderen drei oder vier Ebenen (lokal in Abgrenzung zum Staat, zum Ökosystem und zur Welt), die eine Diagnose ermöglichen.

Die Tabelle kann horizontal gelesen werden, um festzustellen, in welchen Fällen die menschlichen Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Allerdings könnte sich eine vertikale Betrachtungsweise als fruchtbarer erweisen. Eine solche Lesart kann in der dritten Spalte beginnen, welche auf die Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteur*innen des Weltsystems verweist, die durch die Asymmetrie ihrer Fähigkeiten und ihrer Macht zur Entscheidungsfindung und Einflussnahme zum Ausdruck kommen. Es geht nicht um entwickelte und unterentwickelte Länder, die sich durch Wachstum und Technologie unterscheiden, sondern um zentrale und periphere Länder, die sich durch ihre Macht auszeichnen.

Pluriversum – Fehlentwicklung

Die zweite Spalte bezieht sich auf Themen, die zumindest auf rhetorischer Ebene in einigen Konzepten zur Entwicklung präsent waren, wie beispielsweise bei der Öko-Entwicklung. Diese Themen sollen die Aufmerksamkeit auf eine doppelte Realität lenken: Einerseits sind die Ursachen für die Schädigung der Ökosysteme eher in Ländern mit zentralisierter Macht zu finden,

in letzter Zeit aber auch in Schwellenländern. Andererseits sehen wir uns mit bestimmten Problemen konfrontiert, die in einigen Fällen in Ländern der Peripherie dramatischere Auswirkungen haben können als in anderen, und zwar in Form von Katastrophen, die vom Menschen verursacht werden. Die Auswirkungen dieser Probleme auf das Überleben der Spezies und die Aufrechterhaltung des derzeitigen Systems könnten jedoch verallgemeinert werden.

Schließlich gibt die erste Spalte die Punkte an, in denen die gegenwärtige Fehlentwicklung am besten erkannt oder nachgewiesen werden kann. Die Häufigkeit ist in den Ländern der Peripherie viel höher, gefolgt von den Schwellenländern und den zentralen Ländern sowie dem derzeitigen Hegemon. Trotzdem Armut, Unterdrückung, Fundamentalismus oder kriminelle Gewalt sind nicht allein das Erbe der Peripherie, sondern finden sich – manchmal in größerer Intensität – auch in Ländern mit zentralisierter Herrschaft.

Der Begriff Fehlentwicklung bringt nicht eine mehr oder weniger konstruierte Klassifizierung in entwickelte und unterentwickelte Länder mit sich, wie sie in der Rede Trumans zusammen mit dem Vorschlag, dass die entwickelten Länder den unterentwickelten Ländern zu Hilfe kommen sollten, umrissen wurde. Die Perspektive, die sie bietet, ist eine andere: Alle Länder sind auf die eine oder andere Weise fehlentwickelt, und der wahre Grund dafür ist ihre Einbindung in das Weltsystem, das – um es mit einem Wort auszudrücken – den Kapitalismus hervorbringt, und darin scheint das Problem zu liegen.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Weitere Quellen

Amin, Samir (1990), Maldevelopment: Anatomy of a Global Failure. Tokyo: United Nations University Press; London: Zed Books.

Danecki, Jan (ed.) (1993), Insights into Maldevelopment: Reconsidering the Idea of Progress. Warsaw: University of Warsaw, Institute of Social Policy.

Dasgupta, Sugata (1968), ‚Peacelessness and Maldevelopment: A New Theme for Peace Research in Developing Nations‘, in Proceedings of the International Peace Re- search Association, Second Conference.

Galtung, Johan (1980), ‚The Basic Needs Approach‘, in Katrin Lederer (ed.), Human

Needs: A Contribution to the Current Debate. Cambridge, Mass: Oelgeschlager, Gunn & Hain.

Tortosa, José María (2011), Maldesarrollo y Mal Vivir. Pobre- za y violencia a escala mundial. Quito: Abya Yala.

Unceta, Koldo, ‘Desarrollo, subdesarrollo, maldesarrollo y postdesarrollo: una mirada transdisciplinar sobre el debate y sus implicaciones‘, Carta Latinoamericana – Con- tribuciones en Desarrollo y Sociedad en América Latina. 7, Montevideo.


José María Tortosa promovierte in Sozialwissenschaften (Rom, 1973) und Soziologie (Madrid, 1982). Er war Professor am Fachbereich Soziologie II (1991 bis 2009) der Universidad de Alicante, Direktor (2006 bis 2007) und ehrenamtlicher Mitarbeiter (2009 bis heute) des Instituto Interuniversitario de Desarrollo Social y Paz sowie in Entwicklungsprojekten der Universität der Vereinten Nationen (1978­82). Er ist Autor von dreißig Büchern.

Der Originalartikel kann hier besucht werden