Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

Von Vandana Shiva

Wir müssen den Diskurs über ‚Entwicklung‘ und Bruttoinlandsprodukt (BIP), der von kapitalistisch­patriarchalem Denken geprägt ist, hinter uns lassen und unsere wahre Menschlichkeit als Mitglieder der Erdfamilie zurückerobern. Wie Ronnie Lessem und Alexander Schieffer schreiben:

„Wenn die Väter der kapitalistischen Theorie als kleinste ökonomische Einheit für ihre theoretischen Konstruktionen eine Mutter und nicht einen einzelnen männlichen Bourgeois gewählt hätten, dann wären sie nicht in der Lage gewesen, das Axiom der egoistischen Natur des Menschen so zu formulieren, wie sie es taten.“ (2010: 124)

Kapitalistische patriarchale Ökonomien werden durch Krieg und Gewalt geformt – Kriege gegen die Natur und verschiedene Kulturen, und Gewalt gegen Frauen. Und während das Ziel darin besteht, den realen Reichtum, den die Natur und die Menschen produzieren, zu besitzen und zu kontrollieren, werden materielle Prozesse zunehmend durch ökonomische Fiktionen ersetzt – wie die der ‚Logik‘ der Wettbewerbsmärkte.

Separation ist das Hauptmerkmal der Paradigmen, die aus der Übereinstimmung von patriarchalen Werten und Kapitalismus hervorgehen. Zuerst wird die Natur von den Menschen getrennt; dann werden die Menschen auf der Grundlage von Geschlecht, Religion, Kaste und Klasse getrennt. Diese Trennung von dem, was aufeinander bezogen und miteinander verbunden ist, ist die Wurzel der Gewalt – zuerst in den Köpfen, dann im täglichen Handeln. Es ist kein Zufall, dass die sozialen Ungleichheiten der Vergangenheit mit dem Aufkommen der Unternehmensglobalisierung eine neue und brutale Form angenommen haben. Es wird heute oft festgestellt, dass bei den derzeitigen Trends ein Prozent der Weltbevölkerung bald so viel Reichtum kontrollieren wird wie die übrigen 99 Prozent.

Heute stellen Unternehmen juristische Persönlichkeitsrechte über die Rechte echter Menschen. Aber die Abkopplung der fiktiven Konstrukte von den realen Quellen der Wertschöpfung ist noch weiter gegangen. An die Stelle des Realkapitals ist das Finanzwesen getreten, mit Instrumenten und Technologien, die es den Reichen ermöglichen, als ‚Rentiers‘ Reichtum anzuhäufen, ohne etwas dafür zu tun. Die Geldschöpfung in der Finanzwirtschaft basiert auf Spekulation. Und die Deregulierung der Finanzmärkte ermöglicht es den Reichen, mit den hart verdienten Löhnen anderer Menschen zu spekulieren. Die Idee des ‚Wachstums‘ hat sich als Maßstab für den Erfolg bei Einzelpersonen und Regierungen durchgesetzt. Sie spricht von einer Entwicklung und ihren Krisen: globale Erfahrungen, ein vom kapitalistischen, patri­archalen Großkapital entworfenes Paradigma, nur damit das Großkapital noch größer werden kann.

Was das Paradigma des Wirtschaftswachstums nicht zur Kenntnis nimmt, ist die Zerstörung des Lebens in Natur und Gesellschaft. Sowohl Ökologie als auch Ökonomie leiten sich vom griechischen Wort Oikos ab, was das ‚Haus‘ bedeutet, und beide Begriffe beinhalten eine Form des Haushaltens. Wenn die Ökonomie gegen die Wissenschaft der Ökologie arbeitet, führt dies zur Misswirtschaft mit der Erde, unserem Zuhause. Die Klimakrise, die Wasserkrise, die Krise der biologischen Vielfalt und die Ernährungskrise sind verschiedene Symptome der Misswirtschaft mit der Erde und ihren Ressourcen. Die Menschen bewirtschaften die Erde falsch und zerstören dabei ihre ökologischen Prozesse, indem sie die Natur nicht als das ‚reale Kapital‘ und die ‚Quelle‘ für alles andere anerkennen, was von ihr herrührt. Ohne die Natur und ihre ökologischen Prozesse, die das Leben auf der Erde erhalten, brechen die größten Volkswirtschaften zusammen und Zivilisationen verschwinden.

Nach dem heutigen neoliberalen Entwicklungsmodell sind die Armen arm, weil das eine Prozent ihre Lebensgrundlagen und ihren Wohlstand an sich gerissen hat. Wir sehen dies heute an der Vertreibung der Rojava­Gemeinschaften im Mittleren Osten und der Rohingya­Bevölkerung in Myanmar. Die Kleinbäuer*innen werden immer ärmer, weil das eine Prozent eine industrielle Landwirtschaft fördert, die auf dem Kauf von teurem Saatgut und chemischen Düngemitteln basiert. Dies treibt sie in die Schuldenfalle und zerstört ihren Boden, ihr Wasser, die Artenvielfalt und ihre Freiheit. In meinem Buch Earth Democra- cy (2005) beschreibe ich, wie der Monsanto­ Konzern die Bereitstellung von Baumwollsaatgut durch die gehypte Vermarktung von gentechnisch veränderter Bt­Baumwolle[1] monopolisiert hat. Durch den Kauf dieses teuren GVO­Saatguts[2] und anderer Technologien der so genannten Grünen Revolution verschuldet, haben in den letzten zwei Jahrzehnten etwa 300.000 indische Bauern Selbstmord begangen, wobei sich die meisten Selbstmorde im Baumwollgürtel ereigneten. Ich habe eine ländliche Forschungsfarm namens Navdanya gegründet, um diesen gewalttätigen Monopolen zu widerstehen. Wir retten die eigenen traditionellen Baumwollsorten der Bäuer*innen, um sie innerhalb einer Bewegung für Saatgutfreiheit zu verteilen.

Wenn die Bäuer*innen immer ärmer werden, dann liegt das am Giftkartell – nun reduziert auf drei Akteure: Monsanto Bayer, Dow Dupont und Syngenta Chem China –, das sie davon abhängig macht, teures Saatgut und Chemikalien zu kaufen. Vertikal integrierte Konzerne, die Saatgut, Chemikalien, internationalen Handel und die Verarbeitung von Junk Food miteinander verbinden, stehlen 99 Prozent des Wertes, den die Landwirt*innen produzieren. Sie werden immer ärmer, weil der ‚freie Handel‘ Preisdumping, die Zerstörung von Lebensgrundlagen und den Verfall der Agrarpreise fördert. Abgesehen davon sind Kleinbäuer*innen tatsächlich produktiver als große agroindustrielle Unternehmen, ohne umweltschädliche kommerzielle Zusatzstoffe wie Düngemittel, Pestizide und gentechnisch verändertes Saatgut zu verwenden. Via Campesina, die weltweite Vereinigung von Kleinbäuer*innen, weist dagegen darauf hin, dass traditionelle Formen der Versorgung den Bäuer*innen nicht nur mehr Autonomie ermöglichen, sondern sogar die Auswirkungen der globalen Erwärmung abmildern können. Es versteht sich von selbst, dass die ‚Wachstumsökonomie‘ des einen Prozents zutiefst lebensfeindlich ist, und viele dieser Auswirkungen bekommen auch die arbeitenden Menschen im Globalen Norden zu spüren. Die philippinische Nichtregierungsorganisation IBON International stellt fest, dass männliche Gewalt, die traditionell eingesetzt wurde, um Frauen sowohl als produktive Arbeitskräfte als auch als Körper zur Fortpflanzung ausbeutbar zu halten, jetzt im Dienste der kapitalistischen Profitmacherei steht. Überall werden die Menschen ärmer, weil die Regierungen, die von dem einen Prozent vereinnahmt werden, eine profitorientierte Privatisierungspolitik in den Bereichen Gesundheit und Bildung, Verkehr und Energie durchsetzen, die durch Mandate der Weltbank und des IWF noch verstärkt wird. Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Hausfrauen und die Natur insgesamt werden durch das herrschende kapitalistisch­patriarchale Wirtschaftsmodell zu ‚Kolonien‘ gemacht. Das kapitalistische Entwicklungsmodell der Globalisierung drückt eine Verschmelzung zweier Formen von Gewalt aus – der Macht der alten patriarchalen Kulturen, verbunden mit der modernen neoliberalen Herrschaft des Geldes.

Übersetzung ins Deutsche von Elisabeth Voß.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] Bt­Baumwolle: gentechnisch veränderte Baumwolle, in die Gene des Bodenbakteriums Bacillus thuringiensis übertragen worden sind. https://de.wikipedia.org/wiki/Bt-Baumwolle (Anm. d. Übers.)

[2] GVO: gentechnisch veränderte Organismen (Anm. d. Übers.)

Weitere Quellen

Lessem, Ronnie und Alexander Schieffer (2010), Integral Economies. Farnham, UK: Ashgate/Gower.

Navdanya, www.navdanya.org (abgerufen am 18.05.2023). Resurgence Magazine (2007), ‚How Wealth Creates Poverty‘, http://www.resurgence.org/magazine/article250­how­wealth­creates­poverty.html (abgerufen am 18.05.2023)

Shiva, Vandana (2005), Earth Democracy. Boston: South End. (deutsch: Erd­Demokratie. Alternativen zur neoliberalen Globalisierung. Zürich: Rotpunktverlag, 2006)

Shiva, Vandana (2009), Soil not Oil. London: Zed Books. (deutsch: Leben ohne Erdöl. Eine Wirtschaft von unten gegen die Krise von oben. Zürich: Rotpunktverlag, 2009)

Via Campesina (2009), Small Scale Farmers Are Cooling Down the Earth. Jakarta: Via Campesina.


Vandana Shiva ist Direktorin der Research Foundation for Science, Technology and Ecology in Neu­Delhi. Die frühere Quantenphysikerin ist heute eine einflussreiche globale Umweltaktivistin und Autorin mehrerer Bücher, darunter Staying Alive: Women Ecology and Development (1989), Mo- nocultures of the Mind (1993) und Stolen Harvest (2001). Sie ist Trägerin des Alternativen Nobelpreises und des Sydney Peace Prize.

Der Originalartikel kann hier besucht werden