Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier.

von Alberto Acosta

Jedes Buch hat eine Geschichte. Manche haben eine lange Geschichte, andere eine kurze. Manchmal ist diese Geschichte nicht sehr motivierend, wie zum Beispiel bei Büchern, die das Ergebnis eines akademischen oder Forschungsvorhabens sind; in solchen Fällen ist das Buch eine Art vorhersehbarer Epilog eines Prozesses. Manchmal gibt es Bücher, die eine Epoche markieren, wie Alexander von Humboldts Kosmos, dessen erster Band fünf Jahre Redaktionsarbeit und ein ganzes Leben an Forschung erforderte. Es gibt andere Bücher, die aus den unterschiedlichsten menschlichen Konflikten entstehen, aus Kriegen zum Beispiel, oder einfach aus Liebe. Und so weiter und so fort.

Die Idee zu diesem Buch, das Sie auf Deutsch lesen werden, entstand in Deutschland. Im September 2014, bei einem großen internationalen Treffen zum Thema Degrowth, begannen wir darüber nachzudenken, wie die große Vielfalt an emanzipatorischen und transformativen Aktionen, die aus allen Ecken der Welt kommen, zusammengeführt werden könnten. Und wie so oft spielte der Zufall eine zündende Rolle.

Nach der Eröffnungsvorlesung, an der Naomi Klein virtuell teilnahm, diskutierte ich am Tisch mit Ashish Kothari, einem bemerkenswerten Intellektuellen und Aktivisten aus Indien. Er sprach über den Svarag und ich über das Gute Leben (Buen Vivir). Es war ein Treffen von Ideen, Überlegungen, Visionen und Vorschlägen mit vielen gemeinsamen Elementen, die uns zusammenbrachten. Ein paar Tage später trafen wir uns auf demselben internationalen Treffen in einem der Korridore der Universität Leipzig wieder. Wir waren auf dem Weg zu zwei verschiedenen Workshops, bei denen wir aber nie ankamen, weil wir dort blieben und uns unterhielten. Er spricht kein Spanisch, und mein Englisch ist mehr als dürftig. Trotzdem kamen wir überein, gemeinsam etwas zu schreiben, um Brücken zwischen diesen beiden Weltanschauungen zu bauen: Svarag und Buen Vivir. Warum nicht ein Buch, sagten wir. Dann erschien ein gemeinsamer Freund: Federico Demaria, ein Universitätsprofessor, der sofort von der Idee begeistert war. Und das Erste, worauf wir uns einigten, war, einen Artikel zu schreiben, um diese beiden Visionen aus dem Globalen Süden zu diskutieren und sie mit der These des Degrowth zu konfrontieren, die vor allem aus dem Globalen Norden kommt.

Kurz nach der Rückkehr in unsere Zuhause begannen wir mit dem Verfassen dieses Basisartikels. Wir schafften das, nicht ohne einige Komplikationen für mich aufgrund meiner begrenzten Kenntnisse der englischen Sprache. Der Text Buen Vivir, Degrowth and Ecological Swaraj: Alternatives to sustainable development and the Green Economy, wurde Ende 2014 in der Zeitschrift Development veröffentlicht. Es handelte sich um eine Publikation, die sich an die akademische und NGO­Elite richtete und keine direkten Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte. Das ist nicht neu, das kommt häufig vor.

Die Idee des Buches blieb latent vorhanden. Bis uns wiederum ein unerwartetes Ereignis einen großen Anstoß gab, weiterzumachen. Ein Journalist der bekannten Zeitung The Guardian fasste den langen akademischen Artikel auf Englisch zusammen und am 21. Juli 2015 wurde dieser Text veröffentlicht: Sustainable development is failing but there are alternatives to capitalism. Diese journalistische Lesart erregte in weiten Kreisen Aufmerksamkeit, und der Text wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt.

In diesem Zusammenhang war die Leipziger Gruppe von drei auf fünf Personen angewachsen: Ariel Salleh, eine renommierte australische Ökofeministin, und Arturo Escobar, einer der klarsten lateinamerikanischen Denker kolumbianischer Herkunft, hatten sich diesem Abenteuer angeschlossen. Dann begann die Diskussion darüber, wie das Buch, das Sie in den Händen halten, realisiert werden kann. Wir legten ein vorläufiges Datum für seine Veröffentlichung fest: das Jahr 2017, denn wir wollten das Vierteljahrhundert seit der Veröffentlichung eines Standardwerks der Entwicklungskritik würdigen, an dem unter der Leitung von Wolfgang Sachs etwa 16 Personen aus verschiedenen Teilen der Welt teilgenommen hatten (Development Dictionary).

Die Diskussionen waren intensiv. Alle virtuell. Fast alle auf Englisch. Wir begannen, eine Liste von Themen und Personen zusammenzustellen. Jede*r der fünf Redakteur*innen übernahm die Aufgabe, diejenigen einzuladen, von denen wir dachten, dass sie sich der Herausforderung stellen könnten. Die Regeln waren sehr streng: eine maximale Anzahl von Zeichen pro Beitrag, eine minimale Bibliographie und Angaben zu jedem Autor oder jeder Autorin. Außerdem wollten wir unbedingt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Geschlechtern bei der Autor*innenschaft der Kapitel erreichen und möglichst viele Aktivist*innen einbeziehen. Das Buch strukturierte sich nach und nach, während wir vorankamen. Es gab keinen festen Plan im Voraus, und es gab auch keine finanziellen Mittel, um ihn zu verwirklichen. Das Ziel war klar: Brücken zu bauen zwischen möglichst vielen verschiedenen Visionen vom Verständnis der Welt und Vorschlägen, sie zu verändern. Die Grundidee war, pluriverse Aktionen und Lesarten zu fördern, um das Pluriversum weiter auszubauen.

Das einzige Mal, dass es gelang, uns zu fünft persönlich zu treffen, war 2017 in Barcelona, was das Ergebnis eines weiteren Zufalls war. Federico Demaria, in Italien geboren, lebt dort. Ariel Salleh, Arturo Escobar und Ashish Kothari kamen aus ihren Heimatländern, jede*r von

ihnen eingeladen, verschiedene Vorträge zu halten. Ich war mit der Grupo SAL auf Tournee und hielt in Deutschland anlässlich des turbulenten G20­Treffens in Hamburg einen Vortrag. Ein weiterer Versuch eines für 2018 geplanten Treffens der gesamten Gruppe in Gainesville an der University of Florida kam nicht zustande, weil es nur uns drei ursprünglichen Initiatoren möglich war, die kleine amerikanische Stadt zu erreichen, in der ich eine Gastprofessur innehatte.

Die Festlegung der wichtigsten Begriffe haben wir in Barcelona vorgenommen. Dort kamen wir inmitten intensiver und sehr angenehmer Gespräche mit dem Buch voran, wobei wir uns einig waren, dass wir die Veröffentlichung aufgrund des Umfangs des Werkes verschieben sollten. Im Café eines Klosters, das für diese Art von Treffen geeignet war, umgeben von einigen katalanischen Freund*innen, wurde das Grundgerüst des Buches fertiggestellt. Ein Prolog unseres Freundes und Lehrers Wolfgang Sachs, einem der größten Denker anderer möglicher Welten. Ein Vorwort und eine Einleitung von den fünf Herausgeber*innen. Ausgehend von diesen ersten Texten steigen wir in die Thematik ein, mit drei großen Abschnitten. Wir beginnen mit dem Thema der Entwicklung und ihrer Krisen, mit Texten, die globale Erfahrungen aus Afrika, Nord- und Südamerika, Asien, Europa und Ozeanien vorstellen. In einem zweiten Abschnitt erörtern wir die unserer Meinung nach falschen oder reformistischen Lösungen, wie die grüne Wirtschaft oder das Geo­Engineering. Wir beschließen das Buch mit dem umfangreichsten Abschnitt, der die Tür zum Pluriversum der Völker öffnet, in dem wir etwa achtzig transformative Alternativen zusammenstellen, wobei wir darauf hinweisen, dass diese nur einen Bruchteil der Vielzahl von Aktivitäten darstellen, die auf dem gesamten Planeten andere Welten schaffen. So hat es dieses selbstgemachte Buch in Form einer pluriversalen Minga[1] geschafft, 120 Autor*innen aus allen Kontinenten zusammenzubringen. Es enthält 110 Artikel, die uns dazu einladen, das Pluriversum zu diskutieren und zu errichten. Hier scheinen transformative Alternativen auf, zu den vorherrschenden Prozessen des Fortschritts und der Moderne als zivilisatorisches Projekt, einschließlich der tiefgreifenden Strukturen des Kapitalismus, der durch die Vorherrschaft der Kommodifizierung des Lebens, des Patriarchats und der Kolonialität aufrechterhalten wird.

Auch die Stimme der Natur findet auf diesen Seiten ihren Platz. Es ist offensichtlich, dass sich der Mensch in der Moderne im übertragenen Sinne von der Natur getrennt und über sie gestellt hat, um sie zu beherrschen und letztlich ihre Zerstörung voranzutreiben, wie wir mit zunehmender Geschwindigkeit beobachten können. Allerdings werden gleichzeitig auch die Überlegungen und Handlungen zur Bewältigung dieser komplexen Situation weiter vorangetrieben und verdichtet. Zweifellos liegt noch ein langer Weg vor uns, aber es werden immer mehr Schritte unternommen, um den Menschen wieder als Teil der Natur, ja sogar als Natur selbst, und nicht mehr als deren Besitzer und Beherrscher, zu positionieren. Die Bemühungen, sich wieder mit der Natur zu verbinden, tauchen aus vielen Ecken des Planeten auf. An vorderster Stelle dieser Bestrebungen stehen viele indigene Völker, die die Natur als ihre Mutter betrachten. So gibt es auf diesem komplexen Weg eine Vielzahl von Lesarten und Aktionen, die die Moderne sogar aus sich selbst heraus in Frage stellen, wie in den vielfältigen Kämpfen und Ausdrucksformen der Rechte der Natur, die nicht nur in den Kulturen der indigenen Völker zu finden sind.

Dieses Buch will Ausdruck eines Prozesses des permanenten Widerstands und der Emanzipation sein, der Dekolonisierung des Denkens und der Wiederbegegnung mit den kulturellen Wurzeln der Völker der Erde und auch der Bedingungen unseres eigenen Menschseins als Natur (condición humana de Naturaleza). Von dort aus ist es möglich, sich – entsprechend der indigenen Pachamama – einen zivilisatorischen Wandel vorzustellen und ihn zu gestalten, der auf das menschliche Überleben auf dem Planeten und das gute Leben für alle ausgerichtet ist. Ein Überleben, das auf der Überwindung des Anthropozentrismus beruhen muss, inspiriert durch biozentrische Visionen – oder auch durch Positionen frei von jedem Zentrum –, die auf einer Ethik beruhen, welche die der Natur und der Menschheit innewohnenden Werte anerkennt und der zunehmenden Kommodifizierung beider ein Ende setzt. Zusammenfassend gesagt, soziale Gerechtigkeit und ökologische Gerechtigkeit gehen Hand in Hand, als Teil eines Prozesses, der die Nachhaltigkeit des Lebens im Rahmen existentieller Rechte ermöglicht.

Wie 2014 in Leipzig diskutiert, ist es an der Zeit zu begreifen, dass der Zug des Wirtschaftswachstums mit seinen Heizer*innen – dem Fortschritt / der Entwicklung – uns auf einen Abgrund hin lenkt, wenn wir die Kämpfe des Widerstands und der Weiter­Existenz nicht vervielfachen. Diese Kämpfe öffnen die Geschichte durch einen Dialog des Wissens (de saberes)[2], verstanden als konfliktive und solidarische Begegnung – von Synergien, Allianzen und Konfrontation – zwischen ontologischen Regimen und kulturellen Wesen, die sich unterscheiden durch ihre je eigene Art und Weise zu sein, zu wissen und zu handeln, und dadurch wie sie ihre Welten bezeichnen und die Territorien ihres Lebens errichten. Wir kamen zu der Überzeugung, dass es in der Tat darum geht, die kreativen Möglichkeiten des Lebens zu stärken, die das Pluriversum Wirklichkeit werden lassen: „eine Welt, in der viele Welten Platz haben“, wie die Zapatistas es formuliert haben. Eine Welt, in der alle Welten und alle Wesen – menschliche und nicht­menschliche – mit Respekt und Würde zusammenleben, ohne dass jemand auf Kosten anderer lebt.

Ermutigt durch diese Beiträge und Diskussionen beschleunigten wir das Tempo und begannen zeitgleich mit der Suche nach Verlagen, die das Buch in englischer Sprache veröffentlichen würden, mit den entsprechenden Übersetzungen in den Fällen, in denen die Originalbeiträge in anderen Sprachen verfasst wurden. Zuerst haben wir uns an den englischen Verlag gewandt, der das bereits erwähnte, berühmte Buch von Wolfgang Sachs veröffentlicht hatte. Aber dann haben wir – um dem Ursprung dieses Buches, das seine wichtigsten Impulse aus dem Globalen Süden bezieht, gerecht zu werden – vereinbart, einen Verlag in Indien zu suchen. Die redaktionelle Arbeit von Tulika Books und AuthorsUpFront war phänomenal, detailliert und sehr sorgfältig. Ich werde nie vergessen, was diese Gründlichkeit für mich bedeutete. Das erste Cover zeigte die kreative Arbeit unseres Mitstreiters Ashish. Nach fünf Jahren intensiver Arbeit konnten wir, die wir dieses Buch herausgegeben und geschrieben haben, uns im September 2019 über das Erscheinen des Buches freuen, ohne jemals einen wirtschaftlichen Nutzen daraus gezogen zu haben.

Die spanische Ausgabe wurde fast zeitgleich veröffentlicht, zunächst in Ecuador und Spanien, in einer Co­Publikation von Abya-Yala con Icaria. Diese beiden Ausgaben wurden in einigen Teilen der Welt persönlich vorgestellt, bis die Pandemie kam. Die Welt kam zum Stillstand, aber wir blieben entschlossen, diese Überlegungen und Ideen, die einen großen Wandel bewirken wollen, auf der ganzen Welt zu verbreiten. Weitere Ausgaben folgten: Peru­Bolivien und Kolumbien, Italien, Frankreich, Brasilien; jede hat ihre eigene Geschichte, mit redaktionellen Bemühungen voller Großzügigkeit und Enthusiasmus, mit wunderbaren Umschlaggestaltungen … Jetzt ist Deutschland an der Reihe.

Diese deutsche Ausgabe hat ein besonderes Flair. In diesem Land wurde die Idee geboren, in diesem Land haben wir zunächst mehrere erfolglose Versuche zur Veröffentlichung unternommen, und in diesem Land ist die Veröffentlichung dank der Kreativität, des Enthusiasmus und der Kapazitäten des Verlags AG Spak Bücher endlich Wirklichkeit geworden. Dieses Buch wurde ermöglicht durch das Engagement und die unbezahlte Mitarbeit von Vielen als Initiatorin, Übersetzer*innen, Korrektur- und Gegenleser*innen. Darüber hinaus kann dieses Buch dank einer engagierten Fundraising-Kampagne zur Finanzierung eines Großteils der Produktionskosten zu einem günstigen Preis verbreitet werden.

Mit diesem Buch wollen wir jene tiefgründigen Botschaften verwirklichen, die vor langer Zeit auch in Leipzig entstanden und auch heute noch gültig sind. Wir erinnern uns an Friedrich Schillers Aussage in seiner Ode an die Freude:

„Alle Menschen werden Brüder“[3]. Heute würden wir jedoch sagen, dass alle Lebewesen nahe Verwandte sind, und uns den Menschen wieder als einen weiteren Bewohner eines lebendigen Kosmos vorstellen. Aus diesem Grund greifen wir auch Wolfgang Goethes Beitrag auf, in dem er die Bedeutung der Natur betont: „Wir sind von ihr umgeben und umschlungen“, sagte er, „unvermögend, aus ihr herauszutreten (…) Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.“.

Hiermit laden wir Sie nun zu dem gemeinsamen Abenteuer ein, die Welt durch die Gestaltung des Pluriversums zu verändern.

Übersetzung ins Deutsche  und Bearbeitung durch Timmi Tillmann, Riccarda Flemmer und Elisabeth Voß.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen der Übersetzer*innen:

[1] Minga: Zusammenkunft zur gemeinsamen freiwilligen Arbeit.
[2] „Wissen“ gibt es im Deutschen nur in der Einzahl. Die Mehrzahl „saberes“ aus dem spanischen Original lässt sich daher nicht korrekt übersetzen.
[3] Im spanischen Original schrieb der Autor: „todos los seres humanos seremos hermanos“. Das ließe sich zwar als „alle Menschen werden Geschwister“ übersetzen, aber da es bei Schiller heisst: „alle Menschen werden Brüder“, wurde es hier auch so übersetzt – auch wenn dies sicher nicht der Intention des Autors entspricht.


Alberto Acosta: Großvater. Ecuadorianischer Wirtschaftswissenschaftler. Universitätsprofessor. Minister für Energie und Bergbau (2007). Präsident der verfassunggebenden Versammlung (2007­2008). Kandidat für die Präsidentschaft der Republik Ecuador (2012­2013). Autor mehrerer Bücher. Genosse in den Kämpfen sozialer Bewegungen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden