Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

Von Nnimmo Bassey

Das Streben nach ‚Entwicklung‘ hat das Gemetzel auf dem afrikanischen Kontinent gefördert. Die Vorstellung, dass der von anderen eingeschlagene Weg zur Entwicklung derjenige ist, dem wir folgen müssen, ist im Wesentlichen imperialistisch und dient der Rechtfertigung von Kolonialismus, Neokolonialismus und Neoliberalismus. Die Tatsache, dass dies immer noch gilt, ist ein Beweis für die Widerstandsfähigkeit der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation. Die hinter diesen Phänomenen stehenden Kräfte fördern jetzt die Versklavung der Natur und die Inthronisierung der Kriegsführung mit hochmodernen Waffen.

‚Entwicklung‘ in dem vom Globalen Norden geprägten linearen Muster ist eine manipulierte Idee, die Nationen in entwickelte und unterentwickelte Kategorien einstuft. Entwicklung suggeriert Wachstum, Expansion, Vergrößerung und Ausbreitung, aber nichts davon wird dem Sinn für Gerechtigkeit oder Gleichheit gerecht oder berücksichtigt die ökologischen Grenzen eines endlichen Planeten.

Die meisten afrikanischen Regierungen stellen das Konzept der Entwicklung selbst nicht in Frage. Politische Führungskräfte müssen die Tatsache erst noch erfassen, dass die industrialisierte Welt durch die nicht nachhaltige Ausbeutung der Natur und die ungerechte Ausbeutung von Territorien und Völkern dorthin gelangt ist, wo sie heute steht. Denker wie Walter Rodney (1973), Chinweizu Ibekwe (1975) und Frantz Fanon (1963) haben hervorragende Exposés verfasst, die eine kritische Selbstreflexion hätten auslösen müssen. Aber vielleicht sind unsere Führungskräfte nicht mutig genug, einen inakzeptablen Weg abzulehnen, nachdem sie miterlebt haben, wie Agent*innen imperialer Mächte Thomas Sankara aus Burkina Faso, Amílcar Cabral aus Guinea Bissau oder Patrice Lumumba aus dem Kongo ermordet haben – drei führende Persönlichkeiten mit alternativen Vorstellungen. Verdeutlicht die kontinuierliche Begleichung der sogenannten kolonialen Schulden an Frankreich durch seine ehemaligen Kolonien in Afrika nicht, dass der Kontinent immer noch kolonisiert ist?

Was sind die Indikatoren für Entwicklung in Afrika? Der erste ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das von Lorenzo Fioramonti (2013) in Bruttoinlandsproblem umbenannt wurde. Dieses wird durch den Umfang der physischen Infrastruktur und die Höhe der Währungsreserven bestimmt. Ein höheres Maß an beidem deutet auf eine Überbeanspruchung sowohl der natürlichen wie auch der menschlichen Ressourcen hin. Die Anhäufung von Währungsreserven belegt die Tatsache, dass diese Ressourcen zur Stützung ausländischer Industrien und zur Bezahlung von Importen angelegt werden. Wenn Nationen nach den Parametern der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) liquide sind, werden sie rasch dazu angehalten, Auslandskredite von den Inhabern ihrer ‚Reserven‘ zu beziehen; und sind sie erst einmal in Bedrängnis geraten, werden ihnen extreme Bedingungen gestellt, die sie erfüllen müssen, damit die Schlinge wieder gelockert werden kann.

Die Plünderungen, die mit dem Kolonialismus einhergingen, werden oft übersehen. Manche sehen den Kolonialismus sogar als eine Form der Hilfe, die dazu beigetragen hat, Licht in einen vermeintlich ‚dunklen‘ Kontinent zu bringen. Ein Kommentator merkte an: „Die Reparationsdebatte ist bedrohlich, weil sie das übliche Narrativ der Entwicklung völlig auf den Kopf stellt. Sie legt nahe, dass die Armut im Globalen Süden kein natürliches Phänomen ist, sondern aktiv geschaffen wurde. Und sie lässt die westlichen Länder nicht als Wohltäter, sondern als Plünderer dastehen“ (Hickel 2015). Wie der Autor weiter feststellte, gibt es nicht genug Geld auf der Welt, um die Übel des Kolonialismus auszugleichen. Heute existieren neben der Hilfe aus bilateralen Beziehungen philanthropische Stiftungen, die sich die messianische Rolle anmaßen, Afrikas Entwicklungsweg und ­muster zu bestimmen, was sich ironischerweise nicht wesentlich davon unterscheidet, was bereits im Namen der ‚Entwicklung‘ geschehen ist. Heute ist das Klimaregime eine Arena, in der die Armen im Norden wie im Süden der Welt alle Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels tragen, während die Reichen und Mächtigen die Probleme weiter verschärfen. Dürren, Hungersnöte und Wassermangel nehmen zu, während die Regierungen überall die soziokulturellen und ökologischen Realitäten auf ihrer Suche nach Devisen missachten. Um mehr Geld zu ergattern, schlucken die Regierungen die Köder des Kohlenstoffausgleichs und des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes und lockern die Umwelt­ und Finanzkontrollen für transnationale Konzerne. Dies manifestiert sich in Landraub und in der Vertreibung von Waldgemeinschaften, entweder um Platz für exportorientierte Monokulturplantagen zu schaffen oder um Wälder als Kohlenstoffspeicher zu sichern.

Die neue Vorliebe für Devisen und die Bereitschaft, als Deponie für ‚Waren‘ zu dienen, lässt den Süden vergessen, wie sehr dies der lokalen Produktion schadet. Eine Zunahme von ungerechten Handelsregeln, handelsfreien Zonen, gewaltsamen Konflikten und sogar Kriegen ist die Folge. Es ist lehrreich festzustellen, dass all das Blut, das in mineralienreichen Ländern wie dem Kongo fließt, den Abbau von Mineralien nicht gestoppt hat. Nennen wir es ‚Blutdiamanten‘ oder ‚Blut­Rohöl‘, weder die Ausbeutung der Ressourcen noch ihr Export wurden gestoppt.

Der Ausweg liegt darin, zu begreifen, dass wir uns in einem abgekarteten Spiel befinden und zu Akteuren des sozialen Wandels werden müssen. Aber welchen Wandel wollen wir? Auch auf die Gefahr hin, romantisch zu klingen, könnte man sagen, dass unsere Zukunft in unserer Vergangenheit liegt. Afrika muss seine Geschichte aufarbeiten und erkennen, dass es in den unmittelbaren postkolonialen Jahren große Fortschritte gemacht hatte, bis die Weltbank ihm in den 1980er Jahren ihre so genannten Strukturanpassungsprogramme (SAPs) aufzwang. Diese Programme haben die sozialen Investitionen zunichte gemacht und die Produktivität von Industrie und Landwirtschaft beschädigt. Die künstlichen Grenzen, die unsere Völker in verschiedene Nationalitäten aufteilen und ihnen trennende Fremdsprachen aufzwingen, müssen hinterfragt und beseitigt werden. Wir werden auch gut daran tun, die Verbundenheit unserer Menschlichkeit – Ubuntu – wieder zu erlangen, die das Kollektiv zur Grundlage der kommunalen Organisation macht.

Das Narrativ des ‚aufstrebenden Afrikas‘ kann durchaus ein weiteres Mittel sein, um kritische Überlegungen über die Art der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Nationen (Bond 2013) sowie mit den Nationen des Globalen Nordens und China zu unterdrücken. Wenn der ‚Aufstieg‘ auf konventionellen BIP­Zahlen beruht, spiegeln diese nicht die objektiven Realitäten der Bürger*innen wider, da die Zahlen hauptsächlich durch den Export von Bodenschätzen aus dem Rohstoffsektor bestimmt werden. Dennoch muss Afrika aufsteigen! Um uns aufrichten zu können, müssen wir uns an der Erde festhalten, die uns die Augen für unsere Zusammenhänge und Realitäten öffnet, für die Kräfte, die unsere Kultur, unseren Glauben und unsere Denkmuster geprägt haben. Erst dann können wir den Begriff der Entwicklung in Frage stellen. Das ist der Moment, in dem wir die Ketten um unsere Knöchel sehen und sie sprengen können. Und dann können wir den Ruf nach einem afrikanischen Erwachen ertönen lassen.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Weitere Quellen

Bond, Patrick (2013), ‚Africa „Rising”, South Africa Lifting? Or the Reverse?‘, https://www.dailymaverick.co.za/opinionista/2013-02-06-africa-rising-south-africa-lifting-or-the-reverse/ (abgerufen am 18.5.2023)

Fanon, Frantz (1963), The Wretched of the Earth. New York: Grove Press (deutsch: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt: Suhrkamp, 2008).

Fioramonti, Lorenzo (2013), Gross Domestic Problem: The Politics behind the World’s Most Powerful Number. London/New York: Zed Books.

Hickel, Jason (2015), ‚Enough of Aid: Let’s Talk Reparations‘, https://www.theguardian.com/global-development-professionals-network/2015/nov/27/enough-of-aid-lets-talk-reparations (abgerufen am 18.05.2023)

Ibekwe, Chinweizu (1975), The West and the Rest of Us: White Predators, Black Slaves and the African Elite. New York: Random House.

Rodney, Walter (1973), How Europe Underdeveloped Africa. Dar Es Salaam: Tanzanina Publishing House (deutsch: Wie Europa Afrika unterentwickelte. Berlin: Manifest Verlag, 2023)


Nnimmo Bassey ist Direktor des ökologischen Think­Tanks Health of Mother Earth Foundation (HOMEF) mit Sitz in Nigeria. Von 2008 bis 2012 war er Vorsitzender von Friends of the Earth International. Zu seinen Büchern gehören To Cook a Continent: Destructive Extraction and the Climate Crisis in Africa (Pambazuka Press, 2012) und Oil Politics: Echoes of Ecological War (Daraja Press, 2016).

Der Originalartikel kann hier besucht werden