Wohl fast jeder kennt die Geschichte von der Rippe. Auch wenn wir nicht mehr daran glauben: Der Mythos von Adam und Eva ist einer der bekanntesten der Welt. Doch wer weiß, wer Lilith ist?

Von KERSTIN CHAVENT

Lilith war Adams erste Frau. Während Eva künstlich erschaffen wurde – der erste Mensch ohne Mutter! –, kam Lilith wie Adam aus der Mutter Erde. Eva war dem Manne untertan, Lilith ihm ebenbürtig. Sie ging, als Adam sie zwingen wollte, beim Liebesakt unten zu liegen. Seitdem ist sie der Archetyp des weiblichen Bösen. Die Männer verführe sie zu unlauteren Phantasien, Frauen und Neugeborene müssen um ihr Leben fürchten.

Wo Lilith auch hinkommt: Sie mischt auf. Jahrtausende hat sie im kollektiven Unbewussten überlebt, bis sie die jüdische Frauenbewegung in den 1960er Jahren wiederentdeckte und zum Emblem für Emanzipation, Gleichberechtigung, Stärke und Freiheit machte. Lilith lässt sich nichts gefallen. Selbst Jahwe hat sie die Stirn geboten und die Engel abgewimmelt, die gekommen waren, sie zu töten. Als der Mann sie sich untertan machen wollte, ist sie in die Wüste gegangen.

Hier hat sie gelernt. Mit Schlangen, Skorpionen und Spinnen hat sie sich angefreundet, Tieren, die unter den widrigsten Umständen noch überleben können. Sie hat sich auf das Wesentliche konzentriert und überflüssigen Ballast abgelegt. Die Einsamkeit fürchtete sie ebenso wenig wie den Mangel. Um ihren Ruf hat sie sich nicht geschert. Vamp, Hure, Dämonin – welches Attribut ihr auch zugeschrieben wird: Sie wusste, wer sie ist. Mochte man sie beleidigen, verhöhnen, ausgrenzen, zurückweisen: Sie blieb sich selber treu. Nie hat sie vergessen, dass sie göttlichen Ursprungs ist.

Geraubte Kraft

In einer Zeit, in der an Evas Nachkommen das vollendet wird, was bereits in der Genesis angelegt war – die Erschaffung eines künstlichen Menschen – kehrt Lilith zurück. Über Jahrtausende hat sie das alte Wissen bewahrt, das die Frau noch in sich trägt. Die schöpfende Kraft ist noch da, die Kraft, aus der heraus Leben entsteht und die ihr der Mann auf jede nur erdenkliche Weise zu rauben versuchte.

Geschichten hat er erfunden von schwangeren und gebärenden Männern, von Kopf- und Schenkelgeburten, und die Frau zu einem Auffangbecken für seinen Samen gemacht. In vielen Kulturen gab es die Tradition der Couvade, nach der sich der Mann nach der Geburt hinlegte und ausruhte, um sich beschenken und beglückwünschen zu lassen, während die Frau schnell wieder auf den Beinen war und die Arbeit erledigte. In blutigen Initiationsriten hat er den Prozess des Gebärens imitiert und für sich beansprucht.

SEIN Name wurde weitergegeben, SEIN Erbe, SEINE Geschichten. In allen Lebensbereichen wollte er herrschen. Nicht nur in die Missionarsstellung hat er die Frau gezwungen. Er hat ihren Körper gequält und verbrannt und versucht, ihre Lust zu nehmen. Bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde Frauen auch in Europa aus medizinischen Gründen die Klitoris entfernt, um Wahnsinn, Hysterie, Epilepsie, Nymphomanie oder Masturbation zu behandeln. Hingegen ist in der Medizingeschichte kein Fall bekannt, wonach Männern der Penis abgeschnitten wurde, um sie von etwas zu heilen.

 

Eva meets Lilith

Lange stand Eva allein mit dieser Bürde da. Doch nun ist Lilith zurück. Nicht als Teufelin ist sie gekommen, nicht als Verführerin, sondern als Freundin. Es ist vorbei, sagt sie. Die Zeiten sind vorbei, in denen Frauen hinter den Männern zurückstehen. Es ist vorbei, dass sie sich für dieselbe Arbeit schlechter bezahlen lassen, allein die Doppelbelastung Job und Familie tragen und vor allem die Arbeiten machen, die man nur sieht, wenn sie nicht gemacht werden.

Es ist vorbei, dass Frauen sich von Männern abhängig machen, weil sie sich materielle Sicherheit erhoffen oder die Erfüllung ihrer Träume. Es ist vorbei, dass Frauen auf den Prinzen warten, der sie zum Tanz auffordert oder ihnen das Mikrofon in die Hand drückt, damit sie endlich zu Wort kommen. Vorbei die Zeit, in der geschmollt, gezickt und intrigiert wird, vorbei die Zeit, in der Frauen aus Angst, keinen mehr abzubekommen, jeden argwöhnisch beäugen und lieber sterben wollen, als rund werden.

Erinnert euch an eine Zeit, sagt Lilith, in der ihr Göttinnen wart und für eure Weiblichkeit bewundert wurdet. Glaubt nicht die Geschichten, dass es schon immer Kriege gegeben hat und die Frau schon immer dem Manne untertan war. Ganz anders haben die Menschen lange Zeit zusammengelebt. Keine Machtpyramiden machten die Gesellschaft aus, sondern fürsorgende Kreise, die das Leben schützten. Diese Zeiten hat es gegeben, bevor das Patriarchat die friedlichen Lebensformen und gleichberechtigten Gesellschaften ablöste, für die Lilith steht. Es hat sie gegeben und es kann sie wieder geben.

Was wird Eva tun? Wird sie sich erheben und aufrichten? Wird sie sich mit ihren Schwestern zusammenschließen? Werden sie gemeinsam zu Adam gehen, um ihn abzuholen? Werden sie zusammen ein neues Paradies auf Erden erschaffen? Der Weg dorthin ist lang. Es wird viel aufzuarbeiten geben, viel zu offenbaren und unendlich viel zu verzeihen, bevor wir erneut Vertrauen zueinander fassen und dorthin gelangen, wo Heilung stattfinden kann: in der Hingabe und im gegenseitigen Erkennen.

Es wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Doch wer sagt, dass wir die nicht haben, wenn wir uns dafür entscheiden, uns auf den Weg zu machen?

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