Der Vatikan hat erstmals seit 1978 seine Richtlinien zur Beurteilung von Wundern aktualisiert. Künftig wird angeblich Übernatürliches in sechs Kategorien eingeteilt. Wer fromm betet und bettelt, kann weiterhin mit göttlichem Zuspruch rechnen.
Von Helmut Ortner
Madonnen, die blutige Tränen weinen, Menschen, die Jesu Leidensmale an Händen und Füßen tragen, Priester, die Sterbenskranke heilen und böse Geister austreiben – das alles klingt nach finsterem Mittelalter und ist doch Realität in der katholischen Kirche des 21. Jahrhunderts. Für Christen sind Wunder Zeichen göttlichen Wirkens. Ein Fingerzeig. Ein Hoffnungs-Versprechen.
Seit Jahrhunderten verfügt die katholische Kirche sogar über eine Fachabteilung für Wunder. Es ist die Selig- und Heiligsprechungs-Kongregation des Papstes. Hier prüfen Mediziner, Naturwissenschaftler und Theologen, welche Menschen in den Heiligenstand befördert werden sollen. Die »Hall of Fame« der Kirche. Einlass erhalten Männer und Frauen, die Wunder bewirkt haben. Das sogenannte »Martyrologium Romanum«, das »Who is who« katholischen Spitzenpersonals, umfasst derzeit 6650 Selige und Heilige und mehr als 7400 Märtyrer. Weitere Aspiranten warten auf Aufnahme.
Für den Prozess der Heiligsprechung ist ein Wunder nötig, das auf die Fürsprache des Verstorbenen zurückzuführen ist. Die Ausnahme sind Märtyrer, die für ihren Glauben gestorben sind. Ist das nicht der Fall, wird es mit dem Wundern mitunter schwierig. In Grenzfällen hat der Papst das letzte Wort.
Mit den Wundern ist es ja ohnehin so eine Sache. Nehmen wir die »Marienerscheinung«: die Hälfte aller weltweit »bestätigten« Erscheinungen haben bisher – warum auch immer? – vor allem in Frankreich und Belgien stattgefunden, vereinzelt auch in Polen und Tschechien. Warum die Mutter Gottes ausgerechnet in diesem Fleckchen des Globus immer wieder eine Stippvisite gemacht hat, wissen selbst die Wunder-Advokaten nicht so recht. Sei‘s drum! Wer sich auf die Suche nach Antworten macht, ist wie bei allen Wunder-Recherchen ohnehin gut beraten, auf eines zu verzichten: auf Vernunft und Verstand. Wichtig ist allein ein unerschütterlicher Glaube. Das ist der Schlüssel zum Heiligen Geist und zur ewig währenden himmlischen Glückseligkeit.
Wer nicht an göttliche Wunder glaubt, muss heute nicht mehr mit Ausschluss und Verdammnis fürchten. Vorbei die Zeiten, als die katholische Kirche den Wissenschaften argwöhnisch fasziniert beim rationalen Denken zusah – und versuchte zu entschlüsseln, was es damit zum Teufel auf sich hat. Dass es ihre eigenen Ansprüche auf Welterklärung in Frage stellt, leuchtete ihr von Anfang an ein. Daher warf die heilige Kirche Wissenschaftler – als Ketzer, Zweifler und abtrünnige Denker gebrandmarkt – in Kerker, schickte sie in die Verbannung oder gleich auf den Scheiterhaufen.
Maria und die Hot-Spots der Wunder
Ungläubige und Gläubige müssen heute – zumindest in unseren Breitengraden – miteinander auskommen. Die Kirche verliert an Einfluss, Deutungsmacht und Mitglieder. Doch am Wunder-Monopol halten die Glaubens-Advokaten fest. Der Pilger-Markt wird straff organisiert und verwaltet. Ein lukratives Geschäftsmodell– ein wundersame Geldmaschine.
Und so gibt es nah und fern Wunder-Hotspots, zu denen die hoffnungsfrohe Christenschar unaufhörlich strömt: ins bayerische Altötting, dem bedeutendsten Marienwallfahrtsortes im deutschsprachigen Raum, wohin jährlich rund eine Million Pilger kommen, um der sogenannten »Schwarzen Madonna« ihre Sorgen und Nöte mitzuteilen, aber auch ihren Dank zu überbringen. Ins südfranzösische Lourdes zieht es Hunderttausende, wo im Jahr 1858 Bernadette Soubirous nahe einer Grotte mehrfach die Gottesmutter Maria erschienen ist oder nach Loreto, einem Wallfahrtsort in Italien, wohin der Legende nach Engel das »Heilige Haus« trugen, in dem Maria, die Mutter Jesu, geboren wurde und gelebt haben soll. Im Ranking der Wunder-Hotspots behauptet sich auch Tschenstochau auf den vorderen Plätzen, so etwas wie das katholische Nationalheiligtum Polens. Hier wird seit dem Jahr 1384 das Bildnis einer weiteren »Schwarzen Madonna« verehrt. Ebenfalls Fatima in Portugal, wo Maria am 13. Mai 1917 drei Hirtenkindern erschien und sich ein Sonnenwunder vor zehntausenden anwesenden Menschen ereignet hat. Fatima zählt mittlerweile zu einem der wichtigsten Wallfahrtsorte der katholischen Kirche.
Wir dürfen festhalten: Maria war eine umtriebige Frau, eine rastlose Globetrotterin. Landauf, landab ist sie den frommen Menschen ganz nahegekommen, hat sie verzaubert, erschüttert und zu Tränen gerührt – vornehmlich in katholischen Gegenden, gerne in südlichen Gefilden. Gänzlich gemieden hat sie Nordeuropa, vielleicht weil es ihr dort zu kalt war. Maria jedenfalls in ein Dauer-Hit. Eine Hoffnungs-Spenderin, die, wo immer sie war und in Erscheinung tritt, Menschen in ihren Bann zieht. Sie alle dürfen auf göttliche Gnade, auf Heilung und Begegnung hoffen – auf ein Zeichen vom lieben Herrgott oder anderem himmlischen Tröstungs-Personal. Junge Frauen und alte Männer werden also auch künftig von Begegnungen mit dem Göttlichen berichten und ihre spontane Heilungsgeschichten verkünden. Der feste Glaube hilft dabei.
Ob es eine Marienerscheinung tatsächlich gab, eine Statue wirklich Blut geweint hat oder eine Reliquie eine schwer kranke Person geheilt hat? Letztlich entscheiden darüber die Wunder-Kommission in Rom. erade hat der Vatikan seine Richtlinien zur Bewertung von Wundern überarbeitet und will diese künftig auch etwas skeptischer beurteilen. Dies geht aus einem von Papst Franziskus unterzeichneten Dokument hervor, das der Vatikan im Mai veröffentlichte. Neben neuen Kategorien für die Bewertung soll das vatikanische Amt für die Glaubenslehre das letzte Wort bei der endgültigen Entscheidung über übernatürliche Phänomene haben.
Mit neuen Normen gegen die Glaubens-Konkurrenz
Angesichts einer Zunahme von „falschen Gerüchten und der Verbreitung von Fake News im Internet“ seien die derzeitigen Richtlinien aus dem Jahr 1978 nicht mehr sinnvoll und praktikabel, begründet die Wunder-Experten ihre Entscheidung, die Normen grundlegend zu überarbeiten. Außerdem bestehe die Gefahr, dass Betrüger mit angeblichen Wundern oder sonstigen Phänomenen versuchen, Geld zu machen und Menschen zu manipulieren. Diese Risiken sollen mit den neuen Normen des Vatikans vermieden werden. Es geht also darum, unliebsamer Konkurrenz energischer als bisher zu begegnen. In der digitalen Welt ist die Kern-Kompetenz in Sachen Wunder neuer Herausforderungen ausgesetzt – es gilt zu handeln. So soll es künftig sechs differenzierte Kategorien zur Beurteilung übernatürlicher Phänomene geben. Im günstigsten Fall wird ein »angebliches« Wunder mit der Kategorie »Nihil obstat« (zu Deutsch etwa: »Es steht nichts entgegen«) bewertet. Das bedeutet den Angaben nach, dass es zwar keine Gewissheit über die übernatürliche Echtheit gibt, aber doch Anzeichen für ein Wirken des Heiligen Geistes. Die Gläubigen dürfen das Phänomen ohne Weiteres verehren und würdigen. Die restlichen fünf Kategorien beschäftigen sich mit allerlei Grauzonen, die letzte Kategorie sieht jedoch vor, ein Phänomen klar als nicht übernatürlich zu betrachten. Phänomene werden zunächst vom lokalen Bischof in die Kategorien eingeteilt, der Vatikan trifft jedoch nach wie vor die endgültige Entscheidung. Und der Papst.
Die katholische Kirche unterscheidet nun also zwischen echten, zweifelhaften und unechten Wundern. Das ist so, als erfänden Hütchenspieler ein Hütchenspieler-Gütesiegel (eine klerikale Marketings-Maßnahme, die Klaus Ungerer schon vor Jahren in seiner Anti-Bibel »Gott go home!« treffend etikettierte). Partielles Irresein als »göttliche Erleuchtung« zu verkaufen, bleibt also auch zukünftig ein lukratives Geschäftsmodell der katholischen Kirche. Weitere Innovationen warten im »Supermarkt der Wunder« auf Umsetzung: so könnte die kommende Pilger-Community ihren Herrgott via WhatsApp um Gnade und Erleuchtung bitten. Vorteil: die oft beschwerliche Reise nach Lourdes, Fatima oder Altötting entfällt. Göttliche Wunder könnten so ganz ohne Reise-Stress auf den frommen Follower niederkommen. Ein Halleluja auf die Öko-Bilanz. Und auf Maria.
LESETIPP:
Das Klerikale Kartell – Warum die Trennung von Staat und Kirche überfällig ist, Helmut Ortner
Nomen Verlag Frankfurt. 272 Seiten, 24 Euro
Termine und Ort der Lesungen sind hier zu finden:
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