Der US-Intellektuelle Noam Chomsky analysierte den israelisch-palästinensischen Konflikt vor 14 Jahren ungeschönt. Eine Erinnerung.
Klaus Mendler für die Online-Zeitung INFOsperber
Der Krieg im Gazastreifen begann nicht erst am 7. Oktober 2023. Um die Vorgeschichte in Erinnerung zu rufen, veröffentlichte die amerikanische Online-Zeitung TomDispatch kürzlich noch einmal Auszüge aus Noam Chomskys Buch Hopes and Prospects von 2010. Klaus Mendler hat sie für Infosperber ausgewertet.
Man könnte meinen, in vierzehn Jahren habe sich viel verändert, aber die Beschreibung der damaligen Situation in Israel klingt seltsam vertraut: Es gab heftige Kämpfe im Gazastreifen, den israelischen Truppen wurden Verletzungen des Völkerrechts vorgeworfen, Hilfslieferungen wurden blockiert, und verantwortlich dafür war der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu.
Chomsky zufolge sind viele Konflikte auf der Erde höchst kompliziert und eine Lösung erscheint kaum vorstellbar – der israelisch-palästinensische Konflikt zählt jedoch nicht dazu: «In diesem Fall ist eine Lösung nicht nur möglich, sondern es herrscht praktisch universelle Einigkeit über ihr Grundkonzept: Eine Zwei-Staaten-Lösung entlang der international anerkannten Grenzen vor dem Juni 1967.»
Im Januar 1976 brachten die großen arabischen Staaten diese Lösung erstmals in den UN-Sicherheitsrat ein, aber sie wurde durch das Veto der USA abgelehnt. 1980 wiederholte sich dies noch einmal.
Chomsky erzählt ausführlich die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes, in dem auch die USA stets mitmischten. Im Januar 2001 gab es bei den Verhandlungen in Taba, Ägypten, bemerkenswerte Fortschritte. Auf der Abschlusspressekonferenz erklärten die Teilnehmer, noch nie zuvor sei man einer Einigung so nah gewesen. Aber dann brach Israel vorzeitig die Verhandlungen ab, und von Fortschritten konnte keine Rede mehr sein. Inoffizielle Gespräche führten später zum Genfer Abkommen von 2003, das aber von Israel abgelehnt und von den USA ignoriert wurde. «Seitdem ist viel passiert», schreibt Chomsky, «aber eine Einigung wäre immer noch nicht unmöglich, vorausgesetzt natürlich, Washington ist wieder bereit, sie zu akzeptieren. Leider gibt es dafür kaum Anzeichen.»
In der Folgezeit agierten Israel und die USA als Team, um die Besatzungspolitik zu vertiefen. 2005 zog sich Israel offiziell aus dem Gazastreifen zurück, behielt aber weiterhin die vollständige Kontrolle über dieses «größte Freiluft-Gefängnis der Welt». Im Januar 2006 fanden dort Wahlen statt, die von internationalen Beobachtern als frei und fair bewertet wurden, aber die Palästinenser «wählten falsch», nämlich die Hamas. Chomsky schreibt: «Sofort intensivierten die USA und Israel ihre Angriffe auf die Menschen im Gazastreifen, um sie für ihre Missetat zu bestrafen. Die Fakten und Zusammenhänge wurden nicht verschwiegen, sondern offen kommuniziert, begleitet von ehrfurchtsvollen Kommentaren zu Washingtons unerschütterlichem Engagement für die Demokratie. Die US-gestützten israelischen Angriffe haben sich seitdem noch verschärft, dank immer brutalerer Gewalt und wirtschaftlicher Strangulation.»
Blockade des Gazastreifens und illegale Siedlungen
Laut der Politikwissenschaftlerin Sara Roy hat Israel nach 2006 den Gazastreifen gezielt verwüstet, die Wirtschaft und Infrastruktur zerstört, das gesamte Gebiet praktisch unbewohnbar gemacht. Auch die Landwirtschaft wurde größtenteils vernichtet, Bauern, die in Grenznähe ihre Felder bestellen wollen, laufen Gefahr, von Scharfschützen getötet zu werden. Deshalb sind 96 Prozent der Bewohner des Gazastreifens für ihre Grundversorgung auf Hilfslieferungen angewiesen. Dazu sind pro Tag mindestens 400 Lkw-Ladungen erforderlich. Israel erlaubt mal mehr, mal weniger Lkws, die Grenze zu passieren.
Auch zur See wird der Gazastreifen illegalerweise von Israel blockiert, wodurch auch kein Fischfang mehr möglich ist. Einer der Hauptgründe dafür war die Entdeckung eines großen Erdgasfeldes in den Hoheitsgewässern Gazas. Obwohl die Rechte an diesem Feld mit mindestens 25 Milliarden Kubikmetern Erdgas einem palästinensischen Fond gehören, will die israelische Regierung die Erschließung der Israel Electric Corp. (IEC) übertragen. Chomsky erinnert an das völkerrechtliche Konzept der Schutzverantwortung, das in einem vergleichbaren Fall Osttimor davor schützte, sein Erdgasfeld Greater Sunrise an Australien zu verlieren. «Doch die Bewohner des Gazastreifens sind zwar eine ‹geschützte Bevölkerung› nach internationalem Recht, fallen aber dennoch nicht unter das Rechtsprinzip der ‹Schutzverantwortung›. Stattdessen gilt für sie und andere Unglückliche die alte Maxime des griechischen Historikers Thukydides: Die Starken machen, was sie wollen, und die Schwachen erleiden, was sie müssen.»
Im Westjordanland ist die Situation mit jener im Gazastreifen vergleichbar: Israel behindert den freien Handel und Verkehr der Palästinenser, wodurch die Wirtschaft stagniert. Ein Streitfall mit den USA sind Israels illegale Siedlungen, aber wie Chomsky betont, geht der Streit hier nicht sonderlich tief. 2002 stellte US-Präsident George W. Bush einen als «Roadmap» bezeichneten Friedensplan vor, in dem Israel aufgefordert wurde, den Bau illegaler Siedlungen im Westjordanland zu stoppen – allerdings sollte ein ‹natürliches Wachstum› bestehender Siedlungen erlaubt bleiben. Dieser Begriff ‹natürliches Wachstum› bildete den Keim langer und unerfreulicher Streitereien. Die spätere Außenministerin Hillary Clinton forderte einen ausnahmslosen Stopp aller Siedlungsaktivitäten, während Netanyahu und einige seiner Kabinettsmitglieder auf dem ‹natürlichen Wachstum› bestanden. Israel brachte 14 Vorbehalte ins Spiel, die letztendlich die Roadmap unwirksam machten, und die USA zeigten dafür volles Verständnis, auch wenn sie offiziell an dem Friedensplan festhielten.
Chomsky bezweifelt, dass US-Präsident Obama es mit seiner Kritik an den illegalen jüdischen Siedlungen jemals wirklich ernst gemeint habe, denn ansonsten hätte er konkrete Maßnahmen dagegen einsetzen können, z.B. die amerikanischen Hilfsleistungen für Israel um den Betrag kürzen, den Israel für die Unterstützung der Siedlungen aufbringt. Dies wäre noch nicht einmal ein besonders mutiger oder radikaler Schritt gewesen, aber dennoch wurde er nie unternommen. Von der Regierung des älteren George Bush waren die Kreditgarantien für Israel in diesem Sinne gekürzt worden, aber 1993 überließ Präsident Clinton die entsprechenden Berechnungen der israelischen Regierung. So war es dann keine Überraschung, dass die Unterstützung für die illegalen Siedlungen unverändert weiterlief. Der israelische Premierminister Rabin erklärte offen, die Hilfe für die Siedlungen werde weiterhin fließen, und die Amerikaner würden dafür Verständnis haben. Ja, Obama hatte Verständnis, wie vor ihm schon Clinton und George W. Bush.
Palästinenserstaat? Pustekuchen.
Für Chomsky ist die Frage, ob und wie die jüdischen Siedlungen im Westjordanland wachsen dürfen, vollkommen nebensächlich: Das Problem sind die Siedlungen selbst. Alle Versuche, neue Bautätigkeiten zu stoppen, sind zum Scheitern verurteilt, weil die Siedler immer Wege finden, die Restriktionen zu umgehen. So werden weiterhin pro Jahr 1500 bis 2000 neue Wohneinheiten gebaut.
Dieses Problem nicht ausdrücklich zu benennen, bedeutet, stillschweigend zu akzeptieren, dass die illegalen Siedlungsaktivitäten eigentlich berechtigt seien. Die jetzt bestehenden Siedlungen machen bereits eine palästinensische Selbstbestimmung vollkommen unmöglich. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass das ‹natürliche Wachstum› der Siedlungen gestoppt würde, bliebe höchstwahrscheinlich die amerikanisch-israelische Ablehnungshaltung bestehen und blockierte weiterhin die international gewünschte Lösung der Palästinafrage.
Als Premierminister Netanyahu einen zehnmonatigen Verzicht auf Neubauten erklärte (mit zahlreichen Ausnahmen, insbesondere im Raum Groß-Jerusalem, wo die Enteignung palästinensischen Bodens und die Errichtung jüdischer Siedlungen besonders rasant wächst), pries Hillary Clinton dies als ‹beispielloses Zugeständnis›. Selten hat der bloße Verzicht auf illegale Handlungen so viel Begeisterung hervorgerufen – in großen Teilen der Welt waren die Reaktionen jedoch eher Spott und Verärgerung.
Am 4. Juni 2009 hielt Barack Obama in Kairo eine Rede an die islamische Welt, in seinem typischen Stil der ‹leeren Tafel›: Wenig konkrete Inhalte, aber auf eine sympathische Weise präsentiert, so dass die Zuhörer selbst auf die Tafel schreiben können, was sie hören wollen. «Obama will die Seele der islamischen Welt erreichen», titelte CNN. Es sei leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, ermahnte er seine Zuhörer. «Aber wenn wir diesen Konflikt nur von der einen oder der anderen Seite sehen, dann werden wir blind für die Wahrheit sein: Die einzige Lösung für beide Seiten besteht in zwei Staaten, in denen jeweils Israelis und Palästinenser in Frieden und Sicherheit leben.»
Chomsky macht darauf aufmerksam, dass es eine dritte Konfliktpartei gibt, die von niemandem erwähnt wird: Die Vereinigten Staaten. Die New York Times schrieb nur: «Obama-Rede richtet sich sowohl an Araber als auch an Israelis». Im Wall Street Journal hieß es: «Obama tadelt Israel und Araber in seiner Rede an die Moslems».
«Diese Einigkeit ist verständlich, wenn man an das Dogma glaubt, die US-Regierung mache zwar manchmal Fehler, aber ihre Absichten seien prinzipiell gut, um nicht zu sagen edel. In der Welt des schönen Scheins hat Washington immer verzweifelt versucht, ein ehrlicher Vermittler zu sein, der nach Frieden und Gerechtigkeit strebt. Aber das Dogma verdeckt hier die Wahrheit, auf die es sowohl in Obamas Rede wie auch in der Mainstream-Berichterstattung kaum Hinweise gibt», schreibt Chomsky.
Obama knüpfe an Bushs Vision einer Zwei-Staaten-Lösung an, allerdings ohne zu klären, was genau mit der Formulierung ‹Palästinenserstaat› gemeint sei. Seine Absichten würden deutlich durch die schon erwähnten Auslassungen, aber auch durch die einzige klare Kritik an Israel: «Die Vereinigten Staaten akzeptieren nicht die Legitimität des fortgesetzten israelischen Siedlungsbaus. Dadurch werden bestehende Vereinbarungen verletzt und Friedensbemühungen untergraben. Es ist Zeit, diesen Siedlungsbau zu beenden.»
Die entscheidenden Wörter, so Chomsky, seien hier ‹Legitimität› und ‹fortgesetzt›. Wenn die Fortsetzung des Siedlungsbaus nicht legitim sei, bedeute dies, dass die bestehenden Siedlungen es sehr wohl sind. Damit stelle Obama klar, dass für ihn der Begriff ‹Palästinenserstaat› soviel bedeute wie ‹Pustekuchen›.
Zur Demokratie sagte Obama, «wir würden uns nicht anmaßen, das Ergebnis einer demokratischen Wahl zu kritisieren». Chomsky erinnert an den Januar 2006, als Washington das Wahlergebnis im Gazastreifen heftig kritisierte und sofort scharfe Strafmaßnahmen gegen die Palästinenser durchsetzte. Dies alles mit Obamas Zustimmung – seine Worte vor seinem Amtsantritt sind das eine, seine Taten nach dem Amtsantritt das andere. «Es sollte nicht schwer zu verstehen sein», schreibt Chomsky, «warum diejenigen, die nicht durch starre Dogmen verblendet sind, Obamas Sehnsucht nach Demokratie und Menschenrechten als einen schlechten Witz abtun.»
Seitdem sind vierzehn Jahre vergangen, und die Chancen auf Frieden scheinen in weite Ferne gerückt. Dennoch ist er nicht unmöglich. Man müsste nur endlich auf Täuschungsmanöver und taktische Spielchen verzichten, und stattdessen die berechtigten Interessen der Palästinenser endlich ernst nehmen.