He-Yin Zhen (1884-ca. 1920) war eine Anarchistin und Feministin, die im Westen völlig unbekannt ist, deren Gesellschaftstheorie aber viele Themen anspricht, die bis heute höchst aktuell sind.
Überliefert sind von ihr eine Reihe längerer Zeitungsartikel und Essays zur „Lage der Frau“ in China, die vor allem in den Jahren 1907 und 1908 entstanden, als Zhen die Mitherausgeberin einer links-liberalen Zeitung war. Sie stammte aus der Provinz Jiangsu, etwa 300 Kilometer nordwestlich von Shanghai, ging aber 1904, wie viele staatskritische chinesische Intellektuelle, nach Japan. In Tokyo schrieb sie Artikel für die Zeitung „Natural Justice“ und war Mitgründerin eines Vereins zur „Wiederentdeckung der Frauenrechte“. Nach dem Sturz der Qing-Dynastie in der Revolution von 1911 ging Zhen zurück nach China und lehrte dann an der Universität Peking. Über den genauen Zeitpunkt und die Umstände ihres Todes, vermutlich um 1920, ist nichts bekannt.
In ihren Texten entwirft Zhen eine Alternative zum liberalen Feminismus des westlichen emanzipatorischen Weges. Während die westliche Frauenbewegung vor allem auf Gleichberechtigung setzte, argumentierte Zhen, dass eine solche rein rechtliche Gleichstellung die Lage der Armen nicht verbessern würde, sondern nur die einiger privilegierter Frauen. Materielle Not sei aber die wesentliche Ursache, warum Frauen unterdrückt und sexuell ausgebeutet werden. Diese Unterdrückung lasse sich deshalb auch nicht durch Gesetze oder formale Gleichstellung abschaffen, sondern nur durch die Abschaffung von Armut und materieller Not. Dafür schlägt Zhen die Abschaffung des Privateigentums zugunsten einer auf Commons, also Gemeingütern, basierenden Wirtschaft vor.
Zhens Feminismus ist deshalb auch heute noch interessant, weil sie bereits damals die Erzählung von der Überlegenheit des westlichen Modells als Weg zur weiblichen Freiheit bestreitet – und damit der Mehrheit ihrer männlichen Mitstreiter widerspricht. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in China die „Frauenfrage“ vor allem von „linken“ chinesischen Männern (und auch einigen Frauen) ins Feld geführt, die für politische Reformen eintraten. Sie verwiesen dabei unter anderem auf die „Rückständigkeit“ Chinas in Frauenangelegenheiten im Vergleich zum „fortschrittlichen“ Europa. Feminismus wurde weitgehend instrumentalisiert, um eine linke Opposition gegenüber dem Kaiser und dem „alten“ China generell zu rechtfertigen.
He-Yin Zhen bestreitet diese Erzählung. Vom Frauenwahlrecht, das damals ausser in Finnland nirgendwo eingeführt war, über das aber viel diskutiert wurde, verspricht sie sich nichts, sondern prophezeit, dass Politikerinnen auch nur die Interessen ihrer eigenen sozialen Klasse vertreten würden und nicht die armer Frauen. Ihre Ablehnung des westlichen Emanzipationsmodells verführt sie aber keineswegs dazu, die eigene Kultur schönzureden, ganz im Gegenteil.
Ausführlich analysiert Zhen die Mechanismen der Abwertung von Weiblichkeit in der chinesischen Kultur, angefangen bei der Sprache. Ausführlich setzt sie sich mit der Verwendung des Schriftzeichens für „Frau“ und den symbolischen Bedeutungen von kombinierten Schriftzeichen auseinander, in denen es verwendet wird. Sie analysiert die frauenfeindlichen Denkmuster der relevanten philosophischen Traditionen – Konfuzianismus, Buch der Wandlungen, Taoismus und Buddhismus – sowie Alltagspraxen, etwa Trauer- oder Eheschliessungsrituale.
He-Yin Zhen nimmt also eine unabhängige Haltung gegenüber spezifischen Kulturen ein und priorisiert die weibliche Freiheit. Sie zeigt, dass eine patriarchale Kultur so schlecht ist wie die andere, und dass die Frauen keiner dieser von männlichem Denken geprägten Ideologien auch nur das Geringste schuldig sind. Ihr ist es wichtig, den Kampf für weibliche Freiheit ausserhalb des symbolischen Streits verschiedener von Männern dominierter Positionen anzusiedeln.
Ihre Analyse zeigt, dass eine Ideologie der getrennten Sphären und der Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit für die chinesischen Geschlechterverhältnisse schon seit vielen Jahrhunderten zentral war, sehr viel länger als in Europa, wo sich die Ideologie der getrennten Sphären im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hat. War das vielleicht nicht zufällig genau die Zeit, als die „Kolonialwaren“ so langsam in den europäischen Alltag vordrangen? Inwiefern hat „der Westen“ sich hier von den kolonialisierten Kulturen beeinflussen lassen?
Breiten Raum nimmt in Zhens Texten die sexuelle Ausbeutung ein, ein weiteres bis heute aktuelles Thema. Auch da unterscheidet Zhen zwischen der privilegierten Situation einiger Frauen und dem Alltagsleben der grossen Mehrheit, die praktisch jeden Tag und in jeder Situation mit einer Vergewaltigung rechnen müssen, zum Beispiel sobald sie zur Arbeit kommen oder männliche Gäste das Haus betreten. Die zwangsverheiratet werden oder deren Eltern sie prostituieren oder ihnen nahegelegen, Konkubine zu werden, damit die Familie über die Runden kommt . Beim Lesen dieser Texte wird klar, wie sehr für marginalisierte Frauen die Geschlechterdifferenz eine Erfahrung von radikalem körperlichem und sexuellem Ausgeliefertsein ist.
Die zentrale Ursache dieser von ihr beschriebenen allgegenwärtigen sexuellen, körperlichen Ausbeutung von Frauen sieht He-Yin Zhen in materieller Ungleichheit. Frauen wählen die Prostitution aus purer Armut, Familien „verkaufen“ ihre Töchter aus materieller Not heraus. Die Reichen hingegen konsumieren Frauen als Sexobjekte oder „halten“ sich Ehefrauen oder Konkubinen, weil das ihren Status aufwertet, weil sie ihre soziale und männliche Überlegenheit hier demonstrativ ausleben – weil sie es halt können.
Zhen macht dabei keinen Unterschied zwischen Prostituierten, Konkubinen und Ehefrauen, denn sie alle tauschen Sex gegen materielle Lebensgrundlagen. Ihrer Ansicht nach ist auch die damalige westliche Ehepraxis, bei der ja ebenfalls ökonomische Erwägungen eine zentrale Rolle spielten, schlichtweg Prostitution. In der (solcherart weit gefassten) Prostitution sieht Zhen daher auch den Angelpunkt für jegliche gesellschaftliche Ausbeutung von Frauen. Gleichzeitig lehnt sie gesetzliche Massnahmen zum Verbot der Prostitution ab, da diese das Phänomen nicht aus der Welt schaffen, sondern nur verschleiern würden. Denn solange es extreme Armut und extremen Reichtum gibt, wird es auch sexuelle Ausbeutung in Form von Prostitution geben, ist sie überzeugt.
Antje Schrupp
graswurzel.net
Lydia H. Liu, Rebecca E. Karl and Dorothy Ko (Hg): The Birth of Chinese Feminism. Essential Texts in Transnational Theory. Columbia University Press, 2013. 328 Seiten. ca. SFr. 42.00. ISBN: 023116291X.