Russlands militärische Vorstöße lösen Forderungen nach stärkerer Aufrüstung und nach dem Einsatz westeuropäischer Militärs aus. Experten warnen vor demographischer Katastrophe für die Ukraine.

Russlands militärische Vorstöße in der Ukraine lösen im Westen neue Forderungen nach stärkerer militärischer Unterstützung für Kiew, zugleich aber auch erste Kritik an der Verweigerung eines möglichen Waffenstillstands im April 2022 aus. Die ukrainischen Streitkräfte müssten nun „uneingeschränkt“ Waffen und Munition erhalten, heißt es in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik; mit dem „Taurus“ etwa lasse sich die Brücke von Kertsch vom russischen Festland auf die Krim zerstören. Ein Beitrag dreier US-Militärs in der Zeitschrift Foreign Affairs dringt auf die Entsendung von Soldaten aus EU-Ländern in die Ukraine, zum Beispiel zur Verteidigung von Territorien westlich des Flusses Dnipro oder auch der Hafenstadt Odessa. Gerieten sie dort in russisches Feuer, hätten sie das Recht, sich militärisch zu verteidigen, heißt es. Gleichzeitig kündigen Polen und die baltischen Staaten an, Kiew bei seinem Bemühen zu unterstützen, ins Ausland geflohene Ukrainer zum Kriegsdienst zurückzuholen. Damit würde die jüngere Generation der ukrainischen Bevölkerung weiter an der Front verheizt – mit dramatischen Folgen für die gesamte Ukraine.

Mehr Waffen, mehr Munition

Angesichts der immer erfolgreicheren russischen Vorstöße in der Ukraine werden zum einen Forderungen laut, die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte beschleunigt und umfassender als bisher zu forcieren. So heißt es etwa in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik, die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird, die „uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Munition“ sei dringend erforderlich.[1] Der Autor – Ralf Fücks, Direktor des Zentrums Liberale Moderne (LibMod), einer mit hohen Beträgen aus dem Berliner Regierungsetat finanzierten Denkfabrik – bezieht dies erkennbar auch auf den Marschflugkörper Taurus, der in der Lage sei, die Brücke von Kertsch zu zerstören, über die ein erheblicher Teil der Versorgung der Halbinsel Krim gewährleistet wird. Fücks verlangt außerdem, das Vermögen der russischen Zentralbank, soweit es in Europa eingelagert ist, nicht mehr nur einzufrieren, sondern es „für Waffenlieferungen an die Ukraine“ zu verwenden. „Europa ist im Krieg“, schreibt Fücks, „und im Krieg kann es kein ‘business as usual‘ mit der Gegenpartei geben.“

Mehr Soldaten

Andere gehen noch weiter. So fordern drei US-Militärs in einem neuen Beitrag für die US-Zeitschrift Foreign Affairs, die Staaten Europas müssten die Ende Februar geäußerte Drohung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron jetzt wahrmachen und Soldaten in die Ukraine entsenden. Diese könnten dort eine Vielzahl an Tätigkeiten übernehmen. Denkbar sei etwa, dass sie westlich des Flusses Dnipro Reparaturwerkstätten für beschädigte Panzer oder andere Waffensysteme aufbauten und betrieben. Alternativ könnten sie ukrainische Militärs frontnah ausbilden. Denkbar sei zudem, dass sie das Minenräumen übernähmen oder etwa die üblichen Grenzschutzaufgaben an den Grenzen der Ukraine zu Belarus und zu Transnistrien erledigten; allein mit Letzterem könnten sie mehr als 20.000 Ukrainer freistellen, die man dann umgehend an die Front schicken könne.[2] Des weiteren schlagen die Autoren vor, die ukrainische Flugabwehr könne von europäischen Soldaten übernommen werden – gleichfalls, um Ukrainer für den Fronteinsatz abkömmlich zu machen. Schließlich sollten europäische Militärs zu Verteidigungsaufgaben westlich des Dnipro sowie in den Schwarzmeerhäfen der Ukraine eingesetzt werden, etwa in Odessa. Gerieten sie in russisches Feuer, hätten sie das Recht, sich militärisch zu verteidigen.

An die Front abschieben

Eine andere Option, den eklatanten Mangel der Ukraine an Soldaten auszugleichen, ziehen zur Zeit Polen und die baltischen Staaten in Betracht. Dabei geht es um Möglichkeiten, Ukrainer im kriegsdienstfähigen Alter, die ins Ausland geflohen sind, zu einer Rückkehr in ihr Herkunftsland zu nötigen, wo sie dann rekrutiert sowie umgehend an die Front geschickt werden können. Nach Angaben von Eurostat sind gut 860.000 der 4,3 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine, die offiziell in der EU registriert wurden, erwachsene Männer. In der vergangenen Woche hat Kiew bekanntgegeben, Männer zwischen 18 und 60 Jahren könnten künftig ihre Pässe nicht mehr wie allgemein üblich in diplomatischen Vertretungen im Ausland verlängern lassen; dazu müssten sie nun in die Ukraine zurückreisen und dort nachweisen, dass sie bei den zuständigen Rekrutierungsstellen registriert seien. Polen – dort leben gut 200.000 erwachsene Ukrainer – will nun nach Aussage von Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz dafür sorgen, dass möglichst viele von ihnen in die Ukraine überstellt werden. Auf die Frage, ob Warschau sie deportieren werde, antwortete Kosiniak-Kamysz: „Alles ist möglich.“[3] Auch Litauen und Lettland haben angekündigt, die Rückkehr von Ukrainern zu unterstützen.

„Ein irreversibler demographischer Schock“

Sämtliche Überlegungen, wie sich mehr Ukrainer an die Front schicken ließen – sei es, dass sie durch den Einsatz von Soldaten aus EU-Staaten in der Ukraine freigestellt würden, sei es, dass EU-Staaten geflohene Ukrainer deportierten –, ignorieren eindringliche Warnungen von Demographen. Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatte das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) der Ukraine in einer Studie einen „irreversiblen demographischen Schock“ vorausgesagt; so werde aufgrund der kriegsbedingten Verluste in der jüngeren Generation und der massiven Fluchtbewegung die arbeitsfähige Bevölkerung der Ukraine bis zum Jahr 2040 um ein Viertel gegenüber der Vorkriegsbevölkerung schrumpfen – mit dramatischen Folgen für das Land.[4] Kürzlich wies eine Analyse in der New York Times darauf hin, dass die 25- und 26-Jährigen, die nach einem unlängst gefällten Beschluss der ukrainischen Regierung nun umfassend rekrutiert werden sollen, zweien der geburtenschwächsten Jahrgängen des Landes angehörten, die schon in den unmittelbaren Vorkriegsjahren auf dem Arbeitsmarkt Lücken gerissen hätten. Nun könnten sie an der Front weiter dezimiert werden.[5] Die langfristigen Folgen seien immens.

Die Verantwortung des Westens

Mit Blick auf die militärisch immer desolatere Lage der Ukraine wird mittlerweile auch in Medien, die den Krieg bislang stets unterstützt haben, erste Kritik an der Entscheidung vom April 2022 laut, den damals in Reichweite scheinenden Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine auszuschlagen und auf eine Weiterführung des Krieges zu setzen. Am 29. März hatten sich Moskau und Kiew in Istanbul auf ein Communiqué geeinigt, das zehn Punkte zur Beendigung des Krieges umfasste, darunter Russlands Zusage, seine Streitkräfte aus der Ukraine abzuziehen – freilich nicht von der Krim –, und ein Bekenntnis der Ukraine zur Neutralität (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Über die Vereinbarung, die ein Ende des Krieges ermöglicht hätte, berichtete vor kurzem Foreign Affairs – und räumte ein, „Putin und Selenskyj“ seien damals „bereit gewesen, außergewöhnliche Kompromisse in Betracht zu ziehen, um den Krieg zu beenden“. Gescheitert sei dies nicht zuletzt daran, dass es im Westen keine Unterstützung dafür gegeben habe.[7] Sogar das Springer-Blatt „Die Welt“ urteilte Anfang der Woche, „nach zwei Jahren Krieg“ erscheine der damals erwogene Deal „vorteilhaft“.[8] Damit steht die Verantwortung des Westens für die Fortdauer des Ukraine-Kriegs seit April 2022 zur Diskussion.

[1] Ralf Fücks: Der deutsche Mittelweg führt in die Niederlage. In: Internationale Politik Mai/Juni 2024. S. 62–67.

[2] Alex Crowther, Jahara Matisek, Phillips P. O’Brien: Europe – but Not NATO – Should Send Troops to Ukraine. foreignaffairs.com 22.04.2024.

[3] Barbara Erling, Fabrice Deprez: Poland and Lithuania to help Ukraine repatriate men of fighting age. ft.com 25.04.2024.

[4] Maryna Tverdostup: The Demographic Challenges to Ukraine’s Economic Reconstruction. WIIW Policy Notes and Reports 71. Vienna, July 2023. S. dazu „Ein irreversibler demographischer Schock”.

[5] Andrew E. Kramer, Josh Holder, Lauren Leatherby: Can Ukraine Find New Soldiers Without Decimating a Whole Generation? nytimes.com 11.04.2024.

[6] S. dazu Kein Wille zum Waffenstillstand.

[7] Samuel Charap, Sergey Radchenko: The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine. foreignaffairs.com 16.04.2024.

[8] Gregor Schwung: Das geheime Dokument, das den Ukraine-Krieg hätte beenden können. welt.de 29.04.2024.

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