Pascal Sigg für die Onlinezeitung Infosperber
Social Media erst ab 16: Sozialpsychologe Jonathan Haidt beklagt den Verlust der Kindheit und sticht in ein Wespennest.
Keine Smartphones vor 14, keine Social-Media-Accounts vor 16, Handy-freie Schulen und viel mehr freies Spiel. Dies fordert Jonathan Haidt, Sozialpsychologe und Professor an der New York University. Damit geht er weiter als eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum (Infosperber berichtete).
Die Auswirkungen von Smartphones und sozialen Medien auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wird derzeit auch in den USA heiss diskutiert. Letzen Monat erliess Floridas Gouverneur Ron DeSantis ein Gesetz, das Social-Media-Accounts erst ab 14 Jahren erlaubt. Das Thema ist eines der wenigen, das nicht entlang der Parteilinien stark polarisiert und trotzdem kontrovers diskutiert wird.
Den aktuellsten Debattenbeitrag liefert Jonathan Haidt mit dem Buch «Anxious Generation: How the Great Rewiring of Childhood Is Causing an Epidemic of Mental Illness». Eine deutsche Übersetzung erscheint Mitte Juni unter dem Titel «Generation Angst».
Nach 2010 begann für Haidt das «Ende der Kindheit»
Haidts Hauptthese lautet folgendermassen: Menschen, die nach 1995 geboren sind, erfahren eine völlig veränderte Kindheit, weil diverse Erfindungen ab etwa 2010 unser Leben dramatisch veränderten. Hauptsächlich Social-Media-Plattformen und der ständige Zugang via Smartphones würden letzten Endes die Gehirne von Kindern und Jugendlichen umpolen.
Anders als gewisse seiner Berufskolleginnen und -kollegen sieht Haidt einen direkten Zusammenhang zwischen der breiten Einführung dieser Anwendungen und den zunehmenden psychischen Problemen von Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt. In einem Buch-Auszug für die Zeitschrift Atlantic (Paywall) forderte er, die Smartphone-basierte Kindheit sofort zu beenden, weil die Welt, in welcher Kinder heute aufwachsen, ihrer menschlichen Entwicklung schade.
Konkret sieht Haidt vier Fallen und schlägt dagegen vier Lösungen vor:
- Kein Smartphone und kein andauernder Internetzugang bis etwa 14 Jahre (High School in den USA). Einfache Tastenhandys wären aber in Ordnung. Die Falle: Jedes Kind denkt, es brauche ein Smartphone, weil alle anderen eins hätten. Und viele Eltern geben nach, damit ihr Kind nicht ausgeschlossen wird.
- Social Media-Zugang erst ab 16 Jahren. Ein ähnlicher Gruppendruck wie bei den Smartphones existiert bei sozialen Medien. Deshalb schlägt Haidt vor, dass diese erst ab 16 Jahren benützt werden. Dies heisse jedoch nicht, dass Kinder keine Posts oder YouTube-Videos anschauen dürften. Sondern dass sie erst mit 16 eigene Konten eröffnen, eigenen Inhalt posten und sich algorithmus-gesteuerten Feeds aussetzen sollten.
- Handy-freie Schulen. Schülerinnen und Schüler würden ihre Handys in Schulen auch während dem Unterricht benützen. Doch Schulen, welche dies komplett unterbinden, machten gute Erfahrungen. Deshalb rät er, die Telefone jeden Morgen einzuziehen und erst nach dem Unterricht wieder zurückzugeben.
- Mehr Unabhängigkeit, freies Spiel und Verantwortung in der realen Welt. Viele Eltern würden sich davor fürchten, den Kindern mehr Eigenständigkeit zu gewähren. Haidt findet auch, dass dies nötig sei, um die reduzierte Bildschirmzeit spürbar mit Sinn zu füllen. Kinder würden den Verlust des Smartphone- und Internetzugangs dann nicht als Entbehrung wahrnehmen.
Diese Vorschläge sind selbstredend kontrovers. Haidt erzählt populärwissenschaftlich eine provokative Geschichte. Doch dafür hat er auch hohe Datenberge durchkämmt. Haidt begann 2018, sämtliche Studien zu den Themen zu sammeln und die Bewertungen auf seiner Website zu veröffentlichen. In einem kritischen, detaillierten Gespräch im Podcast Hard Fork der New York Times legte er dar, wie er die Studien kategorisiert und bewertet hat.
In diesem Interview antwortete er auch ausführlich auf Einwände. Für Haidt ist die Beweislage klar. Aber es gebe derzeit zwei Lager von Expertinnen und Experten. Die einen seien der Meinung, die Beweislast sei ausreichend, um die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen Smartphones und sozialen Medien anzulasten. Eine andere Gruppe sehe das nicht so. «Es ist eine normale akademische Debatte.»
Jonathan Haidt im kritischen Gespräch mit Kevin Roose und Casey Newton vom Tech-Podcast Hard Fork (Englisch)
Kritik aus der Wissenschaft
Diese Debatte läuft nun in aller Öffentlichkeit heiss. Denn Haidt hat mit seinem Buch in ein Wespennest gestochen. Zahlreiche Expertinnen und Experten haben sich seither zu Wort gemeldet und Haidts Argumentation kritisiert. Candice L. Odgers, Professorin an der University of California, schrieb in einer Buch-Rezension für Nature, es gebe nicht genügend wissenschaftliche Belege für Haidts These und sie befürchte, diese könne von den wahren Problemen ablenken.
Auch Andrew Przybylski, Professor für Menschliches Verhalten und Technologie an der University of Oxford, meinte: «Ausserordentliche Behauptungen erfordern ausserordentliche Beweise. Ich würde jetzt gerade sagen, dass er diese nicht hat.» Ein weiterer Psychologieprofessor bezeichnete Haidts Kritik als Moralpanik und fürchtete, sie würde zu den falschen politischen Reaktionen führen, welche Kindern letztendlich mehr schaden als nützen könnten.
Richtiges Bauchgefühl oder ausreichend harte Daten?
Zoë Schiffer, Redaktorin beim kritischen Technologiemedium Platformer versuchte, die Debatte aufzudröseln. Dabei identifizierte sie drei zentrale Streitpunkte:
- Gibt es wirklich einen Kausalzusammenhang zwischen Social-Media-Gebrauch und psychischen Problemen bei Jugendlichen?
- Hat die Bildschirmzeit wirklich negative Auswirkungen auf den Schlaf?
- Gibt es Beweise, welche die Wirkung von Haidts Lösungsvorschlägen unterstützen?
Ihr Fazit: Das Thema ist wohl komplizierter, als oberflächliche Lesarten von Haidts Buch behaupten. Es sei nachvollziehbar, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich vor allem auf Daten konzentrieren, Haidts Argumentation und Lösungsvorschläge vereinfacht finden. Aber darum gehe es nicht nur. Denn Haidts Buch bestätige auch ein Bauchgefühl, das viele Menschen haben. Sie zitiert den Tech-Journalisten Charlie Warzel. Er meinte zur Debatte: Technologisch habe sich in sehr kurzer Zeit sehr viel verändert und wir alle spürten, dass das ständige Verbundensein etwas mit uns mache, aber es sei eben schwierig genau zu beschreiben und zu belegen, was und wie.
Auf die Kritik, die ihn als unfundierten Paniker abtut, antwortete Haidt mit einer Art Vorsorgeprinzip: «Wenn ihr auf uns Alarmschläger hört und es zeigt sich, dass wir falsch lagen, sind die Kosten minimal und einfach rückgängig zu machen. Aber wenn ihr auf die Skeptiker hört und es zeigt sich, dass sie falsch lagen, sind die Kosten viel grösser und schwerer umzukehren.»
Weiterführende Informationen
- «Individualisierter Unterricht führt in die Sackgasse», Infosperber, 16. Dezember 2023
- Wissenschaftler fordern IT-Moratorium in Schulen, Infosperber, 6. Dezember 2023
Schweden streicht Bildschirmzwang für Kleinkinder, Infosperber, 3. November 2023
Die Über-Krise, Infosperber, 20. Oktober 2023
UNESCO warnt vor übereifriger Digitalisierung der Schule, Infosperber, 30. August 2023
Schweden unterbricht «Experiment mit Kleinkindgehirnen», Infosperber, 21. Juni 2023