Feste sollte man feiern, wie sie fallen und deshalb habe ich anlässlich des quasi doppelten Erich Kästner-Jubiläumsjahres begonnen, mich noch mehr mit diesem vielschichtigen, komplexen und äußerst interessanten Menschen hinter den vielen geliebten Kinderbüchern, Romanen und Gedichten beschäftigt. Seit 1980 habe ich eine alte Ausgabe des Romans in meinem Regal stehen, der 1931 (Kästner war da gerade 32 Jahre alt) stark gekürzt und und unter anderem Titel als vom Autor beabsichtigt, erst veröffentlicht und am 10. Mai 1933 als „entartete Kunst“ von den Nationalsozialisten verbrannt wurde. Die Entschärfung des gesellschaftskritischen Romans hatte nichts gebracht, Kästner sah all die Bücher, die dem nationalsozialistischen Gedankengut nicht entsprachen, mit eigenen Augen brennen, als einziger der Autor*innen, deren Bücher dort wegen des Regens erst in Flammen aufgingen, als die Feuerwehr Benzin zu Hilfe nahm. Wenn das nicht an Fahrenheit 451 erinnert, dann weiß ich auch nicht. Heute befindet sich auf dem Bebelplatz ein Mahnmal – eine im Untergrund versenkte leere Bibliothek, die die 20.000 verbrannten Bücher symbolisiert.

Die Verfilmung des Fabian aus dem Jahr 1980 fand also 6 Jahre nach Kästners Tod mit der Verpflichtung vieler großartiger Schauspieler statt und hielt sich naturgemäß an die gekürzte und veränderte Ausgabe, um die Kästner durch seinen Verleger gebeten worden war. Erst seit 2013 ist durch eine Rekonstruktion der Urfassung durch Sven Hanuschek der gesamte Text, so wie ihn Erich Kästner wohl tatsächlich geschrieben und gemeint hatte verfügbar. Hanuschek ist ein profunder Kenner der Werke Kästners und hat eine sehr fundierte und interessante Biographie veröffentlicht, die hier an anderem Ort noch vorgestellt werden soll. Hanuschek ist wie gesagt ein Kenner, der aber durchaus Kästners Verhalten kritisch hinterfragt und der einen Glücksfund gemacht hat. Ein Glücksfund tatsächlich, denn liest man diesen Roman in der Fassung, die wir nun als Urfassung betrachten, so wird deutlich, dass Kästner in der Weimarer Republik mehr als nur ein satirischer Autor war – er war scharfsinnig, politisch weitsichtig und äußerst kritisch. Was ihm quasi zum Verhängnis wurde.

Dass er Deutschland nicht verlassen hat, wurde ihm von vielen angekreidet. Dass er unter Pseudonym tatsächlich auch im Dritten Reich recht produktiv war ist kaum nachvollziehbar – doch vielleicht kann ich das noch mithilfe seines geheimen Kriegstagebuchs, ebenfalls von Hanuschek im Atrium Verlag unter dem Titel „Das blaue Buch“ herausgegeben, zumindest für mich noch klären. Der Gang vor die Hunde wird einen Ehrenplatz in meinem Regal einnehmen und sicherlich immer wieder gelesen werden.

Der Gang vor die Hunde ist in der Urfassung ein unglaublich gutes Buch, das mir Jakob Fabian nicht als Moralisten entschlüsselt hat, sondern als zurückgezogenen Philanthropen, der die Menschen, die in der hochkomplexen und verrückt spielenden Welt langsam aber sicher durchdrehen, nur noch ungläubig beobachten kann und dennoch bis zum Schluss daran glaubt, dass es lohnt, vor allem Kinder zu retten, Kind zu bleiben. Tatsächlich ist der Text auch sehr gut gealtert, fast könnte man ihn zeitlos nennen. Da er aber eine ganz bestimmte und extreme Phase von allgegenwärtiger Exaltierheit und dem entgegenstehender falscher Moral darstellt, können die Umstände (glücklicherweise) nicht eins zu eins auf heutige Umstände übertragen werden. Dennoch zeigt Kästner ganz genau, auf wieviele Arten Menschen vor die Hunde gehen können – und das auch, ohne selbst dafür verantwortlich sein zu müssen. Allem voran treiben die Dialoge den Text voran, während Fabians Gedankenwelt eine profunde Tiefe besitzt.

Die Hörbuchfassung, großartig von Nico Holonics gelesen, ist ebenfalls heiß zu empfehlen. Holonics gibt dem Text einen ganz eigenen Sound, der wie angegossen sitzt und die Hörerschaft atmosphärisch ins Berlin der 1930er Jahre katapultiert.

Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz lässt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chicago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhemberjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.

Der Gang vor die Hunde von Erich Kästner, als Urfassung herausgegeben von Sven Hanuschek ist in verschiedenen Ausgaben im Atrium Verlag verfügbar. Für mehr Information zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder die Verlagsseite.

Rezension von

 

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