Dieser Artikel ist Teil der Serie „50 Jahre danach: Es lebe die Nelkenrevolution„, die PRESSENZA seit Mitte März 2024 auf Portugiesisch veröffentlicht. Die „Nelkenrevolution“ von 1974-1975 brachte den Portugiesen nach 48 Jahren Faschismus die Freiheit, und den portugiesischen Kolonien in Afrika nach 500 Jahren imperialer Herrschaft die Unabhängigkeit. Nicht zuletzt war sie aber auch eine einzigartige Erfahrung von Basis-Sozialismus für eineinhalb Jahren, ein Horizont der Hoffnungen für das portugiesische Volk, den man nie vergessen wird!

Vasco Esteves* über Portugals 68er und „Nelkenrevolutionäre“. Der abgebrochene Ausflug in die Freiheit.

Das hier wiedergegebene Interview wurde vom Journalisten Peter Steiniger geführt im Zusammenhang mit der Veranstaltungsreihe „Die Nelkenrevolution – Chronik eines Aufbruchs zu Freiheit, Fortschritt und Demokratie„, die zwischen 25.4. und 2.6.2024 in Berlin stattfindet. Es wurde auch (leicht gekürzt) in der Tageszeitung nd veröffentlicht. Hier finden Sie das ungekürzte Interview.

Peter Steiniger: Wann haben Sie begonnen, sich politisch zu engagieren?

Vasco Esteves*: Von 1965 bis 1968 habe ich der Ingenieurschule IST in Lissabon Elektrotechnik studiert und wurde 1968 in den Vorstand der „Associação de Estudantes“ – das ist so etwas wie ein Asta – gewählt. Wir haben Proteste und Besetzungen organisiert. Es ging um staatliche Zuschüsse für unsere selbstverwaltete Kantine. Aber natürlich war es auch politisch gemeint, wir wollten die Konfrontation mit dem faschistischen Staat.

Salazars Nachfolger hatte Reformen angekündigt.

Wir haben nicht daran geglaubt, wir wollten deshalb die neue Regierung testen. Unser Protest war die erste Aktion nach dem Amtsantritt von Marcello Caetano im Herbst 1968, und im Dezember hatte er schon unsere Technische Hochschule geschlossen und die Organisatoren der Proteste suspendiert und angeklagt.

Welche Folgen drohten Ihnen?

Man hätte mich aus der Uni geschmissen. Und hätte ich nicht mehr studieren dürfen, wäre ich zum Militär eingezogen worden. Ich war gegen Portugals Kolonialkriege und wollte nicht für die falsche Sache auch noch sterben. Bekannte Oppositionelle haben sie immer zu den gefährlichsten Fronteinsätzen geschickt. Der Wehrdienst dauerte damals ganze vier Jahre, zwei davon waren im Krieg abzuleisten.

„Wir waren besonders durch die 68er in Frankreich inspiriert“

Zu welcher Strömung der Opposition gehörten Sie?

Ich war unabhängig. Bis heute habe ich nie einer Partei-Organisation angehört. Wie die Mehrheit an meiner Hochschule und an vielen anderen Universitäten, stand ich links von der KP. Manche waren Maoisten, einige KP-Leute, aber wir haben da keine großen Unterschiede zwischen uns gemacht: Wir waren alle Antifaschisten.

An den Unis gab es schon seit Ende der 1950er Jahre einen starken antifaschistischen Kampf. Dabei sind die Studentengenerationen immer weiter nach links gerückt. In den 60ern wurde der Einfluss der KP im akademischen Milieu von den Linksradikalen überholt. Es gab auch Sozialisten, aber das waren absolute Ausnahmen.

Wie hingen die Proteste in Portugal mit dem internationalen Szenario zusammen?

Wir waren besonders durch die 68er in Frankreich inspiriert. Kulturell und politisch, haben wir uns sehr daran orientiert. Wir haben alles Französische gelesen, Literatur, Zeitungen … Wir fühlten uns der Bewegung zugehörig, die gegen Autoritarismus und Vietnamkrieg aufstand, und durch sie bestätigt. Für uns war unser Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus der gleiche Kampf.

Waren aber die Bedingungen nicht viel härter als in einer Demokratie?

Unmittelbar kämpften wir gegen den Faschismus, mittelbar auch gegen den Kapitalismus, der nur ein erträglicheres Gesicht des gleichen Systems ist. Das sehen wir auch heute mit dem Aufstieg der Rechtsradikalen als Nebenprodukt des Neoliberalismus.

Wie sind Sie damals aus Portugal rausgekommen?

Ursprünglich wollte ich nach Frankreich fliehen. Doch dann erhielt ich ein Stipendium der Friedrich-Ebert Stiftung in Deutschland. Die SPD von Willy Brandt wollte den Sozialisten in Portugal helfen. Die hatten noch keine Partei, aber einen Vorläufer, die „Acção Socialista Portuguesa“ (ASP) von Mário Soares. Dieser Soares-Gruppe wurden fünf Stipendien für von Verfolgung bedrohte Studenten angeboten. Die Sozialisten waren aber ein kleiner Intellektuellen-Klub aus der Oberschicht – Anwälte, Lehrer, Professoren – und haben die fünf junge Leute nicht aus den eigenen Reihen zusammengekriegt. Deshalb haben sie andere politische Gruppen gefragt. So kamen die fünf Stipendiaten schnell zusammen, und die Stiftung konnte in dem Glauben glücklich gelassen werden, wie verankert die ASP in der Jugend Portugals war. In Stuttgart habe ich dann ein Mathematik-Studium angefangen und in Frankfurt am Main abgeschlossen.

„Die Revolution entstand spontan und ging von der Bevölkerung aus. Es entstand eine echte Basisbewegung, der Prozess war nicht von oben nach unten organisiert“

Wie sehr hat Sie der Sturz des Regimes am 25. April 1974 überrascht?

Völlig. Praktisch war das für die ganze Zivilgesellschaft eine Überraschung. Zunächst war es nur eine militärische Angelegenheit: „Wir müssen unsere Regierung stürzen, weil unsere Kriege in Afrika nicht zu gewinnen sind. Wir brauchen eine politische Lösung, weil wir gegen die Guerillas nur verlieren können“. Und in Guinea-Bissau hatten die portugiesischen Militärs seit 1973 ja faktisch schon verloren. Der 25. April war nur ein Staatsstreich der MFA (Bewegung der Streitkräfte), keine Revolution. Diese war nicht geplant.

Warum hat sie trotzdem stattgefunden?

Die Revolution entstand spontan und ging von der Bevölkerung aus. Es entstand eine echte Basisbewegung, der Prozess war nicht von oben nach unten organisiert. Vor allem waren die unteren Schichten daran beteiligt.

Gleichzeitig ging es mit der Wirtschaft abwärts.

Schon 1974, kurz nach dem 25. April, gab es Berichte über Kapitalflucht ins Ausland. Oligarchen und Vertreter des alten Regimes hatten es mit der Angst zu tun bekommen. Sie sorgten sich, dass sie enteignet oder verhaftet werden könnten, wenn ihre Schweinereien ans Licht kommen. Einige Großgrundbesitzer und Unternehmer hauten mit dem Geld ab, ließen ihre Besitztümer und Fabriken zurück. Und dann hieß es: Portugal am Abgrund! Doch, nicht die Revolution hat die Not erzeugt, sondern das Handeln der Kapitaleigner und der alten Faschisten.

Was konnten die Massen in dieser Situation bewirken?

Die Arbeiter und Arbeiterinnen haben es nicht akzeptiert, arbeitslos zu werden, sondern sich gesagt: „Wir wissen, wie man produziert, also produzieren wir selbst“. Sie begannen damit Fabriken oder Ländereien zu besetzen. Vor allem im Süden, im Alentejo, wo Großgrundbesitzer herrschten: Den Bauern hatten sie nur während der Erntezeit Arbeit gegeben, die Bauer kannten weder Krankenversicherung noch Rente. Manchmal wurden sie teilweise in Naturalien entlohnt. Im Norden überwogen Kleinbauern mit eigenem Land, die waren nicht so betroffen.

„Auch in vielen anderen Bereichen der Nelkenrevolution entstand eine völlig freie Selbstverwaltung: in der Kultur, in den Medien, im Bildungswesen“

Es ging dabei aber nicht nur um die Produktion?

Richtig. In vielen anderen Bereichen entstand auch eine völlig freie Selbstverwaltung: in der Kultur, in den Medien, im Bildungswesen. Die Lehrer waren auf sich alleine gestellt und die alten Lehrpläne galten nicht mehr so richtig. Weil der hohe Analphabetismus besiegt werden sollte, verdoppelte sich die Zahl der Schüler. Also wurden auch mehr Lehrer gebraucht, manche hatten keine pädagogische Ausbildung oder hatten ihr Studium noch nicht beendet. Not machte erfinderisch.

Welche Rolle spielte dabei die MFA?

Die Revolution im Volke hat die MFA radikalisiert, vor allem (aber nicht nur) in den unteren Rängen. Die Militärs wollten auch keine Wirtschaftskrise, aber sie konnten weder Unternehmen leiten noch den Leuten Geld geben. Also sagten sie zu den Besetzern: „Macht das! Wir geben euch ein Schreiben, darinsteht, dass Ihr dieses Land nutzen dürft, und Ihr zahlt dem alten Besitzer eine symbolische Miete von, sagen wir mal, 30 Escudos im Monat. Ihr dürft dort einen Gesundheitsposten einrichten und eine Kita, ihr dürft Leute einstellen und Produkte vermarkten“. Ein kurzes Schreiben, und damit war die Besetzung legalisiert.

Die Parteien blieben also oft außen vor?

Den politischen Parteien, die immer die Kontrolle über alles haben wollen, hat das nicht gefallen. Das traf auch auf die KP zu, die am Anfang gegen die Landbesetzungen war. Die Kommunisten wollten zeigen, dass auch sie zuverlässige und anständige Partner waren.

Die Bodenreform wurde dann von der KP aber doch stark forciert.

Ja, die KP hat ihren Kurs später geändert, wollte nicht den Zug verpassen. Aber sie planten alles ein bisschen so wie in der Sowjetunion. Es entstanden dann Kooperativen, die KP-nahe waren, besonders dort, wo die Partei lokal viel Einfluss hatte, im Alentejo.

Ein ganz anderes Beispiel war die Besetzung des Landgutes „Torre Bela“ 1975 im Ribatejo. Hier war die linksradikale Gruppe LUAR die Geburtshelferin. Das war eine Gruppe, die bewaffnete Aktionen gegen das alte faschistische Regime durchgeführt hatte. Thomas Harlan drehte sozusagen „live“ über diese Besetzung und Gründung der Kooperative von Torre Bela einen Dokumentarfilm.

„Die Gefahr eines Bürgerkriegs ging eindeutig von der Rechten aus“

Im »heißen Sommer« dieses Jahres 1975 roch es nach Bürgerkrieg.

Vor allem im Norden gab es Anschläge. Sie richteten sich speziell gegen die Parteisitze der KP, weil sie im linken Spektrum die größte und am besten organisierte Kraft war, viel Erfahrung besaß, einen über Jahrzehnte aufgebauten illegalen Apparat. Die Terroristen erhielten Geld von mit dem alten Estado Novo verbundenen Oligarchen wie dem Industriellen António Champalimaud, und organisatorische Unterstützung von der besonders konservativen Kirche im Norden des Landes. Der ins Ausland abgehauene General Spínola versuchte Waffen zu kaufen, um eine Konterrevolution in Portugal zu starten, wie eine geheime Recherche von Günter Wallraff aufdeckte. Die Gefahr eines Bürgerkrieges ging also eindeutig von rechts aus.

Der Westen war vor allem wegen der Nelkenrevolution besorgt.

Frankreich, Deutschland und Großbritannien, aber auch die USA, haben Druck gemacht. Portugal ist geostrategisch total wichtig. Schon wegen der Azoren. Es ist die Westflanke der NATO in Europa.

Vasco Esteves* (Foto von Peter Steiniger)

Wann deutete sich für Sie die Wende an?

Ab 1975 durfte ich wieder nach Portugal reisen. Mit Tausenden anderen Kriegsdienstverweigerern oder Deserteuren, bin ich zu Weihnachten 1974 amnestiert worden. Ich war in Lissabon dabei als zu Beginn des Sommers 75 die PS (Sozialistische Partei) in Lissabon eine Großkundgebung veranstaltet: Es ging da um Demokratie und Wahlen, die sie erzwingen wollten. Vor allem wollten sie sich abgrenzen von den Kommunisten und anderen Linken: diese wollen die Revolution fortsetzen, aber die PS und die konservativen Parteien wollten den Weg der anderen westeuropäischen Staaten einschlagen. Für die PS war dabei die KP der gefährlichste Gegner. Dabei war noch nicht so ganz klar, wo die KP hinwollte. Sie nahm eine Zwischenposition ein: einerseits Revolution, andererseits Bürgerlichkeit, Demokratie. Auf keinen Fall wollte sie aus dem Prozess ausgeschlossen werden.

„Der 25. November war nicht die Verhinderung eines Linksputsches (der nicht geplant war), sondern ein Putsch von rechts innerhalb des Militärs, um eine bürgerliche Demokratie, basierend auf dem Kapitalismus, zu erzwingen“

Am 25. November 1975 kam, mit der Ausschaltung linker Militärs, das abrupte Ende der Nelkenrevolution. Ein Umsturz sollte vereitelt worden sein. Wie sehen Sie das?

Der 25. November war nicht die Verhinderung eines Linksputsches (der nicht geplant war), sondern ein Putsch von rechts innerhalb des Militärs, um eine bürgerliche Demokratie, basierend auf dem Kapitalismus, zu erzwingen. Es wären aber auch andere Modelle für eine Demokratie denkbar, Modelle, die etwa auf einem sozialistischen Regime basieren.

Das am 25. November ausgeschaltete Militärkommando COPCON war der radikalste, revolutionärste Flügel. Solche Gruppen existierten auch in anderen Kasernen. Rebellionen innerhalb des Militärs gab es bereits während des Sommers 75, doch die kamen eher von rechts, von Offizieren, die sich Befehle von linken Chefs verweigerten: nachdem sich die Linie der MFA mit der Zeit kontinuierlich nach links bewegt hatte, wollten andere Teile des Militärs und der Zivilgesellschaft nicht mitmachen.

Der Anfang August 75 im »Dokument der Neun« geforderte Kurswechsel wurde von vielen Offizieren unterstützt.

Diese »Gruppe der Neun« innerhalb der MFA vertrat gemäßigte Positionen. Am 25. November hat sie im Prinzip gesiegt. Sie weigerte sich aber, danach die KP zu verbieten. Allerdings hatten weder die Linksradikalen beim COPCON noch die KP für diesen Tag irgendeinen Putsch geplant. Der Putsch vom 25. November war eher eine Art Übereinkunft. Die Gruppe der Neun haben zu den COPCON-Leuten mit Otelo an der Spitze so in der Art gesprochen: „Kamerad, es darf nicht in Richtung Kuba gehen, das werden wir verhindern, sonst knallt es“. Es waren also nicht die Linken, die ernst machen wollten, sondern die anderen. Die COPCON-Leute wollten kein Blutbad, deshalb haben sie nachgegeben und den Putsch vom 25. November akzeptiert. Ihnen wurde klar, dass sie keine Chance hätten, schon gar nicht gegen die NATO.

Dann waren es Revolutionäre mit Realitätssinn?

Die militärische Linke ist aus Vernunftgründen praktisch zurückgetreten, hat auf die Durchsetzung ihrer Politik verzichtet. Der Gedanke war: „Okay, dann retten wir davon wenigstens ein bisschen. Lieber die bürgerliche Gesellschaft, sonst kommt ein noch schlimmeres Regime oder ein Bürgerkrieg. Das wollen wir nicht, der Preis dafür ist zu hoch“.

„Nach dem Ende der Revolution, und mit den Sozialisten bereits an der Regierung, durften die alten Eliten zurückkehren“

Wieviel April ist im heutigen Portugal noch übrig?

Das habe ich auch dieses Jahr viele Leute in Portugal gefragt. Für die Älteren meiner Generation, die ich interviewt habe und die alle in ihrer Jugend gegen den Faschismus gekämpft hatten, war alles ein schöner Traum, mit Idealen, die nur zu einem kleinen Teil verwirklicht wurden. Nach dem Ende der Revolution, und mit den Sozialisten bereits an der Regierung, durften die alten Eliten zurückkehren. Heute herrschen die bürgerliche Freiheit und natürlich mehr Wohlstand, was viele ruhig stellt. Doch die Preise und die Mieten steigen, und die Löhne sind immer noch sehr niedrig.

Die Jugendlichen hingegen, die ich interviewt habe, beklagen vor allem ihre Vernachlässigung. Die Jugend in Portugal leidet heute sehr stark unter prekären Arbeitsbedingungen, findet keine Jobs oder nur solche auf Zeit, oder nur zum Mindestlohn von etwas über 800 Euro im Monat. Viele junge Leute wandern deshalb aus, auch viele der gut ausgebildeten, weil sie im Ausland deutlich mehr verdienen.

Was meiner Meinung nach fehlt, ist vor allem die soziale Gleichheit. Es gibt immer noch Arm und Reich. Wir haben jetzt ein System, das so korrupt und gierig ist wie überall im Westen. Das ist nicht das, was wir mit der Revolution wollten.


*Vasco Esteves kam 1969 als politischer Flüchtling aus Portugal nach Deutschland. In Portugal war er Studentenführer, in Deutschland kämpfte er für die Rechte und die Organisation der portugiesischen Einwanderer und unterstützte später die Nelkenrevolution in Portugal. Nach seinem Uniabschluss in Mathematik arbeitete er in Deutschland 30 Jahre lang im IT-Bereich. Derzeit lebt er als Schauspieler in Berlin. Er gilt als Zeitzeuge insbesondere der 60er und 70er Jahre, sowohl des Widerstands gegen den Faschismus in Portugal als auch der ersten Generation portugiesischer Einwanderer in Deutschland.