Diese Frage wird so direkt den Bürgern gegenwärtig nicht vorgelegt, noch stellen sie sich diese selbst in ihrem Alltag.
Dennoch wirft die Politik sie auf, wenn Verteidigungsminister Boris Pistorius erklärt: „Wir müssen kriegstüchtig werden“ (ZDF, 29.10.23)
Da wollen die Medien nicht zurückstehen und machen selbst die Kleinsten mit Kriegsnotwendigkeiten vertraut (siehe „Ein Marschflugkörper wie Du und ich“, Overton-Magazin, 1.3.24). Das Volk soll eben nicht nur brav seine Arbeit tun und so die Voraussetzungen für den Krieg schaffen. Es ist auch als Mitmacher im Waffengang gefragt, in der einen oder anderen Form schon als Material zu dessen Realisierung verplant: als Soldaten und aktivierbare Reservisten, als Arbeitnehmer in der Kriegswirtschaft oder in der Gesundheitsversorgung, als Volkserzieher oder Pfaffen in der Militärseelsorge…
Dazu braucht es als Erstes Loyalität. Bescheidwissen über die Gründe der weltpolitischen Affären ist da nicht gefragt, kann eher stören. Verlangt ist zudem ein solides Feindbild und damit die Bereitschaft, bis zum Äussersten zu gehen. Wer als Gegner ins Auge gefasst wird – Russland und China –, ist auch kein Geheimnis. Aber es geht ja generell um „Herausforderungen“, die uns aus dem Ausland drohen. Dort sieht man das übrigens genauso. So steht immer ein „Wir“ gegen die anderen, die es existenziell bedrohen.
Und es stimmt ja, im modernen Krieg sind nicht nur die Soldaten an der Front die Opfer, sondern es gilt immer auch die Versorgungswege und Produktionsstätten, also die Lebensgrundlagen der feindlichen Nation, zu treffen. Damit gibt es ständig zivile Opfer, auch wenn alle Kriegsparteien betonen, dass sie nur militärisch relevante Ziele angreifen. Die Ukraine und der Krieg im Gaza liefern dazu reichlich Anschauungsmaterial. Von daher ist jetzt schon in aller Härte die Frage an jeden Bürger gestellt, wie er oder sie zu der Einsatzplanung der Regierung in Sachen Krieg stehen, in der sie als potentielle Opfer fest eingeplant sind. Noch ist es Zeit, sich gegen die Kriegsvorbereitung zu wehren; wenn der Krieg ansteht, wird die Frage gar nicht mehr gestellt, dann zählt nur noch die Pflicht.
Die ist dem Staatsbürger zwar vertraut, sie muss aber immer neu bebildert werden. Also: Wozu soll man sein Leben geben? Wie heissen aktuell die allzu bekannten Antworten?
Für unsere Sicherheit
Politiker wie Journalisten lieben es in der ersten Person Plural von „wir“ und „uns“ zu sprechen und so ihre Zuhörer oder Leser zu vereinnahmen. Das sollte man nicht durchgehen lassen. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob die Politik ihre Sicherheit bzw. Freiheit in der Ukraine oder am Hindukusch bedroht sieht oder ob es um die persönliche Sicherheit von Herrn Müller oder Frau Meier geht. Irgendwie soll das immer dasselbe sein, auch wenn Müller oder Meier niemanden aus diesen Gegenden kennen, mit dem sie irgendwelche Händel laufen haben. Worauf diese Vereinnahmung setzt und damit Glaubwürdigkeit gewinnt, ist die tatsächliche Abhängigkeit, in der die Bürger von „ihrem“ Staat stehen.
In der Konkurrenz des kapitalistischen Alltags sind sie ständig auf die staatliche Gewalt angewiesen. Zwar gilt die Marktwirtschaft als Wunderland der Gewaltfreiheit, wo Waren gegen Geld getauscht werden und der Handel eine total friedliche Angelegenheit darstellen soll. Dabei steckt er aber voller Gegensätze: Die einen wollen viel Geld für ihre Ware, die anderen viel Ware für ihr Geld. Wie das – ausserhalb staatlicher Aufsicht – ausgeht, kennt jeder aus den einschlägigen Filmen über Drogen- oder Waffenhandel. Beide Parteien bringen ihre Revolverhelden mit und die Spannung resultiert aus der Frage, ob die Übergabe ohne Waffeneinsatz zustande kommt oder ob eine Partei versucht, sich gleich beides, Ware und Geld, anzueignen.
Wo es um Aneignung geht, steht auch im normalen Leben hinter jedem Handel die staatliche Gewalt, die den friedlichen Händewechsel zu garantieren hat. Wie umfangreich diese Garantie ist, beweist ein dicker Wälzer, das Bürgerliche Gesetzbuch. In dem ist bis ins kleinste Detail geregelt, wie das jedem Handel zu Grunde liegende Vertragsverhältnis zu gestalten ist und wann es seine Gültigkeit hat und wann nicht. Deutlich werden die darin liegenden Gegensätze für den kleinen Mann meist bei Mietstreitigkeiten, beim Internethandel oder beim Gebrauchtwagenkauf.
Abhängig sind natürlich in besonderer Weise die Bürger, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen. Abhängig nicht nur von denen, die ihre Arbeitskraft für ihr Geschäft nutzen wollen, sondern auch vom Staat, da ein Leben von Lohn oder Gehalt dauerhaft nicht möglich ist wegen der berühmten Wechselfälle, die Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter bereiten. Die Abhängigkeit vom Staat liefert allerdings alles andere als einen guten Grund, deshalb auch für ihn zu sein. Denn selbst mit Arbeitslosen- & Krankenversicherung, mit Rente oder „Bürgergeld“ ist der Lebensstandard nie sichergestellt, weil sich die Konditionen ständig ändern. Und mit der Kriegsertüchtigung wird das Leben im kapitalistischen Alltag dann definitiv unangenehm, da der Staat die dafür anfallenden Kosten stemmen, also den Bürger damit belasten muss. Fazit: Von „unserer“ Sicherheit kann nicht die Rede sein. Es ist geht im Verteidigungsfall um die Sicherheit des Staates in der Auseinandersetzung mit anderen Staaten. Für die sollen die Bürger den Kopf hinhalten, was ihnen definitiv Unsicherheit beschert.
Für die Sicherung des Friedens
„Si vis pacem para bellum“, dieser lateinische Spruch hat zur Zeit Hochkonjunktur, auch bei Politikern, die kein Latein beherrschen. „Wer Frieden will, muss zum Krieg bereit sein“, so CDU-Chef Friedrich Merz als einer von vielen (Table Berlin, 14.1.24) Behauptet wird, dass die andere Seite durch Rüstung und Kriegsbereitschaft vom Krieg abgehalten werden muss. Unterstellt ist immer, dass die anderen Staaten den eigenen bedrohen. Und das behaupten alle reihum vom andern.
Sie wissen offenbar um ihre Verletzlichkeit und verfügen daher über einen entsprechenden Gewaltapparat, schliesslich bewegen sie sich in Konkurrenz zueinander und versuchen jeder für sich den grössten Vorteil aus dem internationalen Geschäft für sich herauszuholen und andere Staaten für sich zu benutzen. Der friedliche Handel schafft eben Gegensätze, die nicht nur mit wirtschaftlicher Erpressung, sondern gegebenenfalls – wenn Rechtsansprüche der Souveräne kollidieren – mit Gewalt ausgetragen werden. Dies gilt heute im Westen als Verteidigung einer regelbasierten Weltordnung, die eh im Recht ist und keine Aktivitäten von Unrechtsstaaten dulden will.
Entscheidend ist für die Mitteilung ans Volk: Die Schuld am Konflikt hat immer die Gegenseite, die sich den eigenen Ansprüchen verweigert, ja sie böswillig beschädigt. Deshalb müssen immer die eigenen Interessen verteidigt – und nicht kriegerisch einfach durchgesetzt – werden. Und deshalb heissen die Kriegsminister Verteidigungsminister. Deutschland definiert seine Interessen dabei inzwischen weltweit und so steht viel deutsches Militär in vielen Ländern, die die Bürger gar nicht zu kennen brauchen. Denn „unsere“ Lieferketten reichen ja bis in den letzten Erdenwinkel…
Es sind nicht die privaten Interessen der Bürger, die da verteidigt werden, sondern die des deutschen Staates, der mal Flüchtlingsrouten schliessen, Wirtschaftswege in Asien offenhalten oder sich schlicht Einfluss auf andere Regierungen sichern muss. Dass das friedlich abgewickelt, von der Gegenseite also hingenommen wird, dafür braucht es entsprechendes Material an Soldaten und eine wuchtige Wirtschaftskraft mit billigen und willigen Menschen. Abschreckung funktioniert dabei nur, wenn die Bereitschaft der Politik auch da ist, die Menschen wirklich einzusetzen und Krieg zu führen. Das hat Deutschland bereits mehrfach bewiesen – etwa in Jugoslawien, Afghanistan, Mali. Gesichert wurde so der Frieden, d.h. ein Zustand, mit dem die deutsche Politik leben kann.
Für unsere Werte und die Demokratie
Glaubt man den Worten der Politiker, dann geht es nie um die Interessen Deutschlands, den Erfolg seiner Wirtschaft und um politisch-militärischem Einfluss in der Welt, der den Erfolg sicherstellen soll, sondern um Werte. Die sollen vor allem in der hiesigen Herrschaftsform – der Demokratie – verwirklicht und durch Autokratien wie Russland, China, Iran und einige andere bedroht sein. Laut dieser Begründung dürfte der Frontverlauf zwischen den Staaten oder Staatenblöcken aber nicht so aussehen, wie er aktuell zu besichtigen ist. Zählen zum Westen, der für diese Werte stehen soll, doch selbstverständlich auch Autokratien. Schliesslich gilt diese Einstufung auch für Ungarn oder die Türkei, die als Nato-Partner zu den Verteidigern dieser Werte gehören sollen.
Stutzig machen könnte den Bürger auch die Tatsache, dass dieses Bündnis von einem Staat angeführt wird, der es mit den immer wieder hochgehaltenen Werten nicht so genau nimmt. So im Fall des Folterverbots, gegen das die USA mehrfach verstossen haben und es in Guantanamo immer noch offen tun. Sie haben zudem die grössten Diktatoren Südamerikas und deren Folterknechte ausgebildet und unterstützt oder mittels ihres Geheimdienstes gewählte Regierungen beseitigt. Eine solche wurde im Iran in den 1950er Jahren mit Unterstützung der USA durch den Schah ersetzt, in Chile waren sie mit dabei, als der gewählte Präsident Salvador Allende von General Pinochet weggeputscht wurde, und in jüngster Zeit war der CIA auch beim Maidan-Putsch mit von der Partie.
Bürger, die über Kriegsverbrechen der USA berichten, werden eingelocht – Meinungsfreiheit und Pressefreiheit hin oder her. Dafür stehen die Namen Snowden, Assange oder Manning. Zur Sicherung der angeblichen Werte wird auch kein Bündnis mit irgendwelchen Diktatoren oder Schlächtern gescheut, seien es die Herrscher Saudi-Arabiens, Ägyptens oder seinerzeit in Indonesien, dessen Untaten jetzt, Jahrzehnte später, „aufgearbeitet“ werden. Als Vertreter der Werte schwingen sich die Regierenden der massgeblichen westlichen Länder, speziell die europäischen Grossmächte, auf. Sie treten als Schiedsrichter an, die Regierungen anderer Länder auf ihre Rechtmässigkeit hin zu beurteilen, sie mit Sanktionen zu belegen oder auch zu bekriegen. Alles Tun ist damit moralisch begründet, wendet sich eben gegen die legendäre „Achse des Bösen“ oder ähnliche Schurken-Netzwerke. Bei solchen Feindbildkonstruktionen darf man natürlich nicht an Verschwörungstheorien denken!
Wenn es ums Krieg führen geht, haben die Werte in allen Verlautbarungen Hochkonjunktur. In der Praxis heisst das: Statt Schutz der körperlichen Unversehrtheit gilt es, das eigene Leben zu opfern; statt frei seine Meinung zu äussern, wird diese daraufhin begutachtet, ob sie der Kriegsmoral dient oder sie untergräbt; auch sonst ist es mit vielen Freiheiten vorbei, schliesslich gelten Befehl und Gehorsam, notfalls explizit unterm Kriegsrecht. Die Menschenwürde ist dennoch nicht dahin, geehrt werden die Opfer des Krieges, weil sie ihr Leben für das Vaterland gegeben haben, ganz so, als ob dies ein freiwilliger Akt wäre. Geht dann der Krieg – wie in Deutschland 1945 – verloren, ist nachher allen klar, dass es eine einzige Lüge war, wofür man den Kopf hinhalten musste.
Für unsere Heimat
Heimatschutz ist überhaupt ein Höchstwert. Man zerstört nie die Heimat und das Vaterland von anderen, sondern verteidigt stets die bzw. das eigene. Mit Heimat verbinden viele Menschen die Vertrautheit der gewohnten Umgebung, das „Veedel“, die Menschen, die man kennt und mit denen einen vieles verbindet – sei es der gemeinsame Schulbesuch, der Verein oder die Nachbarschaft. Diese gefühlsmässige Bindung wissen auch die Agitatoren der Kriegstüchtigkeit für ihre Zwecke zu nutzen. Nur wenn es um die militärische Verteidigung dieser gewohnten und vertrauten Umgebung geht, dann stehen sowohl Landschaft wie Einwohner zur Disposition, sie werden je nach Kriegsbedarf der Zerstörung preisgegeben. Waffen schützen bekanntlich nicht Menschen, sondern verletzen oder töten sie.
Zudem hat die Berufung auf die Heimatidylle auch immer etwas Verlogenes. Ausgesucht haben sich die wenigsten ihre Umgebung, meist wurden sie entweder dort hinein geboren oder beruflich verschlagen. Das Zusammenleben gestalten sie ebenfalls nicht gemeinsam mit ihren Mitbürgern nach eigenem Gusto, dessen Regeln werden ihnen vielmehr von oben per Gesetz vorgegeben. In diese Ordnung müssen sie sich einfinden und versuchen dann, das Beste für sich daraus zu machen. Die Inhalte der Regeln sind auch kein Geheimnis an einem nationalen Kapitalstandort, der sich in der globalen Konkurrenz bewähren will.
Über die Inhalte haben die Bürger nicht zu entscheiden, auch wenn sie zur Wahl aufgerufen sind. Entschieden wird dabei über Personen, die die Gemeinde, das Land oder den Bund verwalten sollen. Und so kann es zwar sein, dass man mit dem einen oder anderen Politiker in die Schule gegangen ist und sogar persönliche Vertraut vorliegt. Doch worüber dieser Volksvertreter zu entscheiden hat, das steht längst vor der Wahl fest.
Das beginnt – ganz augenfällig – in der Kommune. In ihr wird etwa über Schulbau, Sportplatz und Strassenbau entschieden, was Geld kostet. Doch nur ein Teil der Lohn- und Einkommensteuer der Bewohner bleibt in der Kommune; deren wichtigste Einnahmequelle ist die Gewerbesteuer. Mit dieser Vorgabe des Bundes stehen die Kommunen in der Konkurrenz zueinander um die Ansiedlung von Unternehmen. Also muss diesen ein roter Teppich ausgebreitet werden – in Form von billigen Grundstücken, Strassen- und Eisenbahnanschlüssen etc. Das kostet ebenfalls Geld und deshalb steht die Rangfolge bei den Ausgaben immer schon fest, bevor die gewählten Gemeindevertreter zusammenkommen. Klagen über schlechte Schulen, verrottete Sporthallen oder Schlaglöcher in den Strassen sind verbreitet, aber scheinen das schöne Bild der eigenen Heimat bei vielen nicht zu beeinträchtigen. Wenn man also den Kopf für Heimatschutz hinhält, geht es nicht um die Realität dieses Gutes, sondern um das verlogene Ideal einer anheimelnden Ordnung.
Für Deutschland
Letztendlich kürzen sich all die schönen Titel auf eins zusammen: Es geht um Deutschland, d.h. um dessen Stellung in der Welt. Wobei – das zeigt die ganze Litanei, die hier zum Abschluss kommt – gar nicht die praktischen Zwecke im Vordergrund stehen, die das eigene Land verfolgt, etwa Deutschland im Roten Meer oder in Afghanistan realisieren will. Der Bürger muss vor allem eins wissen: dass es um Recht und Ehre der Nation geht. Dafür soll sich jeder Deutsche als Teil eines grossen Ganzen sehen, dem er sich zugehörig fühlt, wie es bei Sportveranstaltungen oder beim Absingen der Nationalhymne eingeübt wird.
Dieses Gemeinschaftsgefühl kann natürlich nur entstehen, wenn man von all den Gegensätzen absieht, die den Alltag in der kapitalistischen Gesellschaft bestimmen. Das macht die grundlegende Leistung des Nationalismus – der heute meist Patriotismus heisst – aus. Er ist es, der die Menschen in Gegensatz zu den Bürgern anderer Nationen bringt. Hergestellt wird diese Gemeinschaftlichkeit praktisch durch den Staat, der bestimmt, wer dazu gehört und wer nicht und wer als Angehöriger eines anderen Staates deshalb unter dem Verdacht der Illoyalität steht, wie sie im Ausländergesetz dokumentiert ist. Wer sich ohne staatliche Erlaubnis hier aufhält wird schliesslich ausgewiesen…
Zu dieser inszenierten Gemeinschaftlichkeit sind die Bürger aufgefordert – natürlich, siehe oben, auf Basis der staatlichen Gewalt, die ihnen ihre abhängige Rolle zuweist und die aus der fiktiven Gemeinsamkeit („Wir sind ein Volk“) eine wirkliche macht. Sie sollen sich als Teil dieser Gemeinschaft fühlen und die Ansprüche ihrer Herrschaft teilen. Nur dann können sie guten Gewissens auf andere Bürger schiessen, die sich ebenfalls ihren Staat nicht ausgesucht haben und die die gleichen Sorgen haben wie die hiesigen Bürger: die Sorge um den Arbeitsplatz, um eine bezahlbare Wohnung, um Lebenshaltung bei steigenden Preisen usw.
Der nationale Standpunkt ist heute als Selbstverständlichkeit durchgesetzt. Arbeiter schiessen nicht auf Arbeiter – so hiess dagegen einmal eine Parole der Arbeiterbewegung. Die alte Parole wurde jüngst von der oppositionellen Gewerkschaftsinitiative „Sagt nein!“ angesichts der laufenden Kriege und Kriegsvorbereitung ausgegraben. Es war eine Parole, die sich an Arbeiter richtete, die noch eine Ahnung vom Klassengegensatz zu ihren Arbeitgebern und zu dem Staat hatten, der deren Interesse am Wirtschaftswachstum betreut – und denen vielleicht auch noch der Spruch von Karl Marx bekannt war, dass Arbeiter kein Vaterland haben.
Dieses Bewusstsein ist heutzutage nicht mehr vorhanden. Schon vor dem Ersten Weltkrieg schlossen die Arbeiterorganisationen ihren „Burgfrieden“ mit der kaiserlichen Regierung. Die Nation war ihnen wichtiger als der Kampf gegen ihre Abhängigkeit von Kapital und Staat. Und an dieser Stellung hat sich weder nach den Millionen Toten in den Schützengräben des ersten noch nach denen des zweiten etwas geändert. Im Nachkriegsdeutschland hiess es zwar immer wieder „nie wieder“, aber die Arbeiter und ihre Organisationen haben nichts daraus gelernt und sich nicht wirklich gegen die Wiederaufrüstung gestemmt. Aktuell sind die deutschen Gewerkschaften mit Beginn des Krieges in der Ukraine dabei, ihre Satzungen der neuen Kriegslage anzupassen. Und die IG-Metall hat ein Bündnis mit dem Rüstungskapital geschlossen. Begründet wird dies natürlich mit den Arbeitsplätzen, von denen viele abhängig sind.
So wird aus der Sorge um den Arbeitsplatz die Sorge um den Erfolg der Nation. Und da macht es offenbar auch nichts, wenn die Nation gerade dabei ist, den nächsten Krieg vorzubereiten. Nicht umsonst gibt es den Deutschen Gewerkschaftsbund DGB, der sich als nationale Organisation versteht und bei allen Solidaritätsadressen an die Gewerkschaften anderer Staaten stets auf den Vorteil der deutschen Wirtschaft bedacht ist.
Wer sich gegen die Kriegsertüchtigung wenden will, bewegt sich somit ausserhalb der national begründeten und nationalistisch aufgeheizten Gemeinschaft und hat eben den Nationalismus dieser Organisationen zu bekämpfen. Bündnispartner dafür finden sich nicht da, wo man sich national mit anderen verbunden fühlt, sondern in der Bereitschaft von Menschen – welcher Nationalität auch immer – sich von der Unterordnung unter die Staatsmacht ideell und dann auch praktisch zu verabschieden.