Von Russland in Stich gelassen, sucht Armenien nach Verbündeten im Westen – ein Akt von grosser Sprengkraft.
Amalia van Gent für die Online-Zeitung INFOsperber
Das Gipfeltreffen zwischen ranghohen Politikern der EU, der USA und Armeniens vom 5. April in Brüssel sollte in aller Welt die Solidarität des Westens mit Armenien demonstrieren. «Wir sind hier, um die transatlantische Unterstützung für Armeniens Souveränität, Demokratie, territoriale Integrität und sozioökonomische Widerstandsfähigkeit zu bekräftigen», stand in der gemeinsamen Erklärung, die den Medien zuvor verteilt worden war.
«Schulter an Schulter mit Armenien»
Dieses Treffen, an dem die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, der US-Aussenminister Antony Blinken, der Leiter der EU-Aussenpolitik, Joseph Borrell und der armenische Premierminister Nikol Paschinjan teilnahmen, hatte die Regierungen der Regionalmächte Russland, der Türkei und des Irans in helle Aufregung versetzt. Moskau sprach von einem «feindlichen Akt». Und Teheran schwor, nicht zuzulassen, dass «westliche Komplotte zur Untergrabung der Sicherheit in der Region stattfinden».
Die öffentlichen Erklärungen aus Brüssel betonten keine politische, sondern lediglich eine wirtschaftliche Partnerschaft: Die EU stehe «Schulter an Schulter» mit Armenien, erklärte von der Leyen und kündigte ein auf vier Jahre angelegtes Finanzpaket in Höhe von 270 Millionen Euro für Armenien an. «Wir teilen die Zukunftsvision des armenischen Volkes und wollen, dass Armenien seinen Platz als starke, unabhängige Nation einnimmt, die in Frieden mit ihren Nachbarn lebt», doppelte der US-Aussenminister nach. Auch er bezog sich in erster Linie auf die wirtschaftliche Unterstützung der USA, die in diesem Jahr auf 65 Millionen Dollar fast verdoppelt werden soll.
Armenien, die kleinste Republik im Südkaukasus, wird von seinem übermächtigen Nachbarn Aserbaidschan existentiell bedroht. Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan war nach Brüssel gereist, weil er von seinen westlichen Gesprächspartnern in erster Linie ernsthafte Sicherheitszusicherungen zu erhalten hoffte. Eine solche Zusicherung kam aber nicht – zumindest nicht offiziell.
Dennoch zeigte sich Paschinjan zuversichtlich: Er betrachte das hochrangige Treffen als deutliches Zeichen «für die sich vertiefende Partnerschaft Armeniens mit den USA als auch mit der EU». Es ist eine Erklärung, die das Potential hat, die Geopolitik in der Region fundamental zu verändern.
Moskaus treuester Alliierte im Südkaukasus
Armenien war in den letzten hundert Jahren der treueste Alliierte Russlands auf dem Kaukasus. Dies vor allem aus Gründen der Selbsterhaltung: Wie jedes Volk, das das Grauen eines Genozids erlebt hat, haben die Armenier ein ausgesprochen starkes Verlangen nach Sicherheit. Diese Sicherheit verbanden sie nach dem Genozid 1915-1917, als die Jungtürken über 1,2 Millionen Armenier des Osmanischen Reichs ermorden liessen, immer und ausschliesslich mit Russland. Nur eine starke Sowjetunion, respektive ein starkes Russland, könne die Armenier vor einer neuen physischen Vernichtung bewahren, war ihr Credo. So räumte Armenien als einzige Republik des Südkaukasus auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Moskau das Recht ein, Militärstützpunkte in seinem Territorium zu haben. Heute sind in Armenien rund 10’000 russische Soldaten stationiert.
Das armenische Credo kam ernsthaft ins Wanken, als Aserbaidschan im Herbst 2020 mit Unterstützung der Türkei die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach massiv angriff und Russland untätig zusah. Seine Bündnis-Verpflichtungen beschränkten sich lediglich auf das Territorium Armeniens, hiess es kurzangebunden aus Moskau. Die armenische Armee wurde damals auf dem Schlachtfeld Bergkarabachs vernichtend geschlagen.
Moskaus Wende
Zwei Jahre später unternahm Aserbaidschan erneut einen Grossangriff, diesmal auch innerhalb des souveränen Territoriums Armeniens, und bescherte seinem Nachbarn erhebliche Verluste an Territorien und Menschenleben. Für Russland und das von Moskau geführte Militär-Bündnis OVKS ein Bündnisfall, auf den jedoch beide abermals nicht reagierten. Sie verurteilten nicht einmal die hemmungslose Aggression Aserbaidschans.
Hatte Moskau geostrategisch tatsächlich die Seiten gewechselt, wie renommierte Beobachter in Armenien und im Ausland behaupteten? Tatsache ist, dass ein Tag vor dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine Russland und Aserbaidschan ein Abkommen zu einer umfassenden «strategischen Zusammenarbeit» ihrer Länder unterzeichneten. Aufgrund dieser «strategischen Zusammenarbeit» benutzt Russland nach 2022 das Pipeline-Netz von Aserbaidschan und der Türkei, um seine sanktionierten Energiestoffe auf den Weltmarkt zu bringen – ein durchaus lukratives Geschäft für alle drei Länder.
Armenische Wende
Keine der zahlreichen Niederlagen und Verluste nach 2020 dürfte die armenische Seele aber so tief verletzt haben wie das Ende Bergkarabachs im September 2023. Zur Erinnerung: Nach einem massiven Angriff der aserbeidschanischen Armee gegen das faktisch wehrlose Bergkarabach wurde seine gesamte armenisch-stämmige Bevölkerung, insgesamt über 110’000 Menschen, in die Flucht getrieben. Dass der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew zuvor neun Monate lang das geographisch isolierte Bergkarabach belagern und hungern liess, und Moskau das Leid der Menschen als unbeteiligter Zuschauer hinnahm, hatte die Armenier gedemütigt. «Unser ewiger Beschützer Russland hatte sich auf einmal zu unserer Bedrohung Nummer eins verwandelt», sagt der Autor Grigor Shashikyan. «Dies geschah im Moment, als Paschinjan sich zur dramatischen geostrategischen Wende Armeniens entschloss», ergänzt der politische Analyst Eric Grigorian.
Im Oktober 2023 ratifizierte das armenische Parlament das «Römische Statut» des Internationalen Strafgerichtshofs, obwohl dieses einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen in der Ukraine beinhaltet. Im Februar 2024 kündigte Armenien an, seine Teilnahme an dem von Moskau geführten Militärbündnis OVKS einzufrieren. Im März forderte der Chef des armenischen Nationalen Sicherheitsrates Moskau auf, die russischen Grenztruppen vom internationalen Flughafen Zvartnots abzuziehen, während das armenische Aussenministerium, von den europäischen Bestrebungen des armenischen Volks beflügelt, versprach, das Verfahren der sogenannten «Östlichen Partnerschaft» mit der EU zu beschleunigen.
Damit schien Jerewan sämtliche roten Linien Moskaus überschreiten zu wollen. Im Jahr 2008 war im Rahmen der Östlichen Partnerschaft Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und der Ukraine das Angebot gemacht worden, mit politischen wirtschaftlichen und juristischen Reformen sich enger an die EU zu binden. Die Kriege in Georgien und der Ukraine zeigen jedoch, dass die russische Föderation nicht davor zurückschreckt, notfalls militärische Gewalt einzusetzen, um eine Erweiterung der NATO und der EU bis an ihre Grenzen zu verhindern. Hatte die Regierung Pashinjan eine andere Wahl, als den Konfrontationskurs mit Moskau zu wählen? War sie sich der Risiken ihrer Politik, in diesen Zeiten des Kriegs ohne Alliierten zu bleiben, überhaupt bewusst?
Sturm braut sich über dem Südkaukasus zusammen
Vartan Oskanian, armenischer Aussenminister zwischen 1998 und 2008, warnt vor einem «komplizierten Ost-West-Tanz im Südkaukasus». «Unsere Situation hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit jener der Ukraine. Wir haben eine erste Phase der Ukrainisierung durchlaufen, als wir Berg-Karabach verloren haben, und jetzt stehen wir kurz davor, in eine zweite Phase einzutreten, in der wir möglicherweise grosse Teile des armenischen Territoriums verlieren», schrieb er nach dem Brüsseler Treffen auf Facebook. «Unsere Bündnisse bröckeln, und die Gegner sitzen uns im Nacken wie ein hungriges Wolfsrudel».
Neben Teheran und Moskau haben auch Baku und Ankara auf das Brüsseler Treffen erzürnt reagiert. Beide bezeichneten das diplomatische Engagement Washingtons und Brüssels als Verletzung der Neutralität, denn die Angelegenheiten des Südkaukasus würden weder die EU noch die USA betreffen.
Baku und Ankara hegen spätestens seit 2020 unisono Anspruch auf den sogenannten «Sangesur-Korridor» im Süden Armeniens. Dieser soll die Türkei auf dem Landweg mit Aserbeidschan und darüber hinaus mit der Welt der turksprachigen Republiken Zentralasiens verbinden. Davon versprechen sich Aserbaidschans Autokrat Ilham Alijew und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Erfüllung eines alten Traums: den sagenhaften Reichtum Zentralasiens an seltenen Erden, Energie und Edelmetallen unter Umgehung Russlands, Chinas und Irans auf den Weltmarkt zu exportieren und die Türkei und Aserbaidschan zu einem Drehkreuz für die Energieversorgung Europas zu machen.
Theoretisch hätten Aserbaidschan und die Türkei Armenien in ihre Pläne einbinden können, um die «Sangesur-Route» nach dem Beispiel der Cargo-Transportrouten in Westeuropa ohne langwierige Grenzkontrollen, aber unter Achtung der territorialen Integrität des Landes zu nutzen. Erdogans und Alijews Initiative ist aber ein ultranationalistisches Projekt, ein Projekt ausschliesslich für die türkisch-sprachige Welt bestimmt. Sie fordern von Armenien deshalb extraterritoriale Rechte. Beide Staaten sehen nichts Verwerfliches im Einsatz von militärischen Mitteln: Ob man Frieden mit Krieg erreichen könne, wurde Alijew auf einer Konferenz letzten Dezember gefragt: «Wir haben bewiesen, dass es eine militärische Lösung des Konflikts gibt. Der Konflikt Bergkarabach ist beigelegt».
«Weder die Region noch die Welt könne sich weitere Kriege leisten»
Russlands andauernder Krieg in der Ukraine und Aserbaidschans Feldzug in Karabach seien «die beiden eklatantesten Beispiele für die Verachtung, die die heutigen Autokraten für grundlegende Menschenrechte und pluralistischen Gesellschaften hegen», kommentiert die renommierte Menschenrechtsorganisation Freedom House in ihrer kürzlich veröffentlichten Studie «Nationen im Wandel». Freedom House, das jährlich die politischen Reformen in den ehemals kommunistischen Staaten in Europa und Eurasien bewertet, warnt die USA und die EU, sich auf glaubwürdigere Abschreckungsmassnahmen gegen Aserbaidschan zu besinnen. Ansonsten könne Alijews Appetit auf mehr Aggression noch zunehmen und Armenien, das immerhin «freieste Land in Südkaukasus», destabilisieren. Im Freedom House Ranking ist Aserbaidschan eines der «unfreiesten» Länder – genauso «unfrei» wie Russland.
Ein Sturm braut sich über dem Südkaukasus zusammen. Die unerwartete Eskalation im Konflikt zwischen Israel und Iran verheisst für Armenien nichts Gutes: «Schlägt Israel gegen den Iran zurück, kann sich die Region leicht in ein Schlachtfeld verwandeln, und wir wären mittendrin», sagt der armenische Autor Grigor Shashikyan. Darüber hinaus würde jede Schwächung des Irans indirekt zu einer Schwächung Armeniens führen. Denn der Iran hat im Konflikt um Sangesur als einzige Regionalmacht stets betont, die Souveränität Armeniens zu respektieren. Teheran lehnte jede Veränderung der regionalen Grenzen ab.
Angesichts des Kriegs im Nahen Osten rief UN-Generalsekretär António Guterres vor dem Sicherheitsrat eindringlich zur Deeskalation auf: Weder die Region noch die Welt könne sich einen weiteren Krieg leisten.
Wie wahr! In diesem Rahmen wäre auch die Schweizer Aussenpolitik gut beraten, ihre Aufmerksamkeit neben der Ukraine-Frage auch auf den Südkaukasus und den Iran zu richten. Jede Eskalation hätte die Dynamik eines Domino-Effekts, der zur Destabilisierung Armeniens und Georgiens führen und schliesslich den ganzen Südkaukasus in Mitleidenschaft ziehen könnte.