Esther Bockwyt hat mit diesem Sachbuch definitiv ein sehr gutes, tiefgehendes, psychologisch-philosophisch fundiertes Werk für jene geschrieben, die sich mit der Materie schon etwas intensiver beschäftigt haben. Theoretisch philosophische Grundlagen und Gedankengebäude wie Postkoloniale Theorie, Intersektionaler Feminismus, Critical Race Theory, Queer Theory und Queer-Feminismus, BLM (Black Lives Matter), linke Identitätspolitik, Judith Butler und Focault sollte man schon vorab kennen, denn sie werden nicht mehr ausführlich erklärt. Es ist also tatsächlich kein populärwissenschaftliches Fachbuch auf einem niedrigen Niveau für alle, sondern eher ein Werk für Fortgeschrittene und Profis im Thema.
Dafür hat die Autorin den Anspruch an die Wissenschaftlichkeit sehr ernsthaft betrieben, bezüglich der ausführlichen Quellen wie Studien, Sekundärliteratur, Zitate, etc. gibt’s gar nix von mir zu meckern, was ich sonst immer mache. Bockwyt betrachtet das politisch verkürzte Kampfwort Woke sehr kritisch, aber fair, zeigt auf, in welchen Bereichen sich diese Bewegung gegründet hat, mit welchen guten Ansätzen sie positive Veränderungen bewirkt hat und wo die kapitalen psychologischen Fehler in der Weiterentwicklung im System Woke mit allen oben genannten Theorien existieren, die die Bewegung in sich und die Koexistenz mit nur minimal abweichenden Meinungen in der Gesellschaft letztendlich zerstört.
Wie sehr wir schon bei einer Cancel Culture angekommen sind, zeigt auch der Lebensweg – der Life Cycle – dieses Buches, denn es sollte schon vor einem Jahr in einem anderen Verlag herauskommen und wurde, als es fix und fertig geschrieben war, ohne Angabe von Gründen wahrscheinlich durch Interventionen gecancelt. Aus diesem Grund muss ich wieder einmal ausnahmsweise einen Verlag, nämlich Westend, loben, der sich trotz Protesten auf Twitter getraut hat, dieses Werk herauszubringen. Übrigens nicht zum ökonomischen Nachteil, denn das Buch ist derzeit sehr angesagt auf den Amazon Bestsellerlisten und auch temporär schon bei einigen Händlern ausverkauft.
Die Autorin startet sehr strukturiert mit der philosophischen Einordnung der Theorie auf einem wie schon gesagt hohen Vorwissensniveau. Zuerst wird die Position der Wokeness zum Anti-Rassismus, dann zum Thema Geschlecht, Körper und Sexualität und anschließend zur psychischen Gesundheit ausführlich analysiert. Am Ende des Kapitels werden nochmals die Kernelemente der Wokeness in einer Tabelle kurz und knackig herausgearbeitet. So etwas mag ich übrigens sehr: Übersicht, Struktur und ein logischer, roter Faden sind für mich in einem Sachbuch essentiell.
Wer könnte guten Gewissens etwas gegen Vielfalt und Toleranz sagen oder gar für Diskriminierung sein? Kein Mensch möchte als intolerant oder rückständig gelten. Moderne, fortschrittliche Unternehmen auch nicht, diese glauben, dass sich Wokesein zu Marketingzwecken eignet. Und so kommt es, dass das Destruktive der woken Ideologie, das sich hinter dem ursprünglichen Guten verbirgt, weniger gut erkennbar ist, als es in anderen problematischen Strömungen der Menschheitsgeschichte der Fall war und ist. […]
Wokenesss ist beinahe unbemerkt zu einer Ideologie geworden, der man sich scheinbar nicht verweigern kann. Dieser ausufernde Druck beengt Menschen wie kaum etwas anderes und macht zugleich eine freiwillige, von innen herauskommende woke Haltung unmöglich.[…]
Insofern könnte man die Wokeness, wenn sie in Konsequenz und Radikalität gelebt wird, als Planwirtschaft der Gefühle und Identitäten bezeichnen.
In einem weiteren Kapitel, genannt Woke Psyche, wird analysiert, wie die theoretischen Modelle dann in der Gesellschaft praktisch durchgesetzt werden. Hier spielen die psychologischen Muster von Narzissmus, Kränkung als Trauma, Hypersensibilität, das Über-Ich, Aggression, Negativitätsverzerrung, Histrionie, und die ablaufenden gruppenpsychologische Prozesse die Hauptrolle. Das ist wirklich großes Kino. Sehr tief und detailliert wird erklärt, wie solche eigentlich menschlich recht normalen Muster ablaufen, durch die Woke Theorie installiert werden und ab welchem Punkt diese aus psychologischer Sicht schädliche Auswirkungen aufweisen. Ich habe mich ja schon während des Studiums mit Entwicklungspsychologie und Organisationspsychologie intensiv auseinandersetzen dürfen, aber so detailliert habe ich zum Beispiel Narzissmus noch nicht erklärt bekommen und ebenso habe ich neue Erkenntnisse im Bereich gruppenspsychologischer Prozesse gewonnen.
Bleiben Menschen auf der psychischen Ebene in einem Übermaß kindlich, sind sie unfähig, erwachsene Verantwortung zu übernehmen, haben eine ausgeprägte und unrealistische Anspruchshaltung der Welt gegenüber und tendieren dazu, sich und andere als hilflose Opfer wahrzunehmen. Man dreht sich um die eigenen Bedürfnisse im Sinne eines primären, nicht überwundenen kindlichen Narzissmus. […]
Die beschriebenen psychischen Mechanismen in Gruppen tragen bei der woken Bewegung zusätzlich – neben dem narzisstischen Bedürfnis, der Zwanghaftigkeit und der Aggression – dazu bei, dass sich der eigene Glaube weiter verfestigt, der Blick eingeengter wird und die Outgroup der Unwoken , der „Ewiggestrigen“, der „Menschenfeinde“ immer ausufernder zum Feind erklärt und abgewertet wird. […] Es hat sich ein festes Groupthink etabliert, in dem minimaler Dissens bereits dazu führt, dass man aus der woken Gruppe ausgeschlossen wird.
Fazit: Ich persönlich bin begeistert von diesem Buch, aber es ist eben für Fortgeschrittene in der Materie. Man muss schon etwas Kompetenz bezüglich linker Identitätspolitik, moderner Philosophie und ein kleines Grundwissen in Psychologie mitbringen, um alles zu verstehen. Also ein bisschen im Thema drinnen sein.
Wichtiger Zusatz: In Anbetracht der Tatsache, dass jene, die mitten in dieser Diskussion sind, recht wenig Überzeugungsarbeit benötigen, wünsche ich mir für die eigentlich zu diesem Thema zu informierende Zielgruppe eine zweite Version mit ähnlichem, fast identischem Inhalt, aber viel einfacher präsentiert, mehr die eingangs erwähnten philosophischen Grundkonzepte ganz simpel erklärt. Vielleicht setzt sich die Autorin erneut mit einem populärwissenschaftlichen Profi zusammen und schreibt das Buch nochmals in einer völlig anderen Ausprägung und für die Zielgruppe „Woke for Dummies“. Sorry, das ist jetzt natürlich gar nicht political correct, aber das kann ich auch zu wenig 😉. Ich glaube nämlich, dass so ein zweites Buch für den Diskurs auch sehr wichtig wäre, denn Philosophen und mittlerweile auch Pädagogen vernebeln ja mit ihrem akademisch-komplizierten butlerianischen Geschwätz oft die eigentlichen Sach-Argumente in der Diskussion. Hier bräuchte es noch Erklärungen und Wissen, um in dieser wichtigen Gesellschaftsfrage, die alle betrifft, auch kompetent mitdiskutieren zu können. Na Westendverlag und Esther Bockwyt, wäre das nicht ein gutes Folgeprojekt?
Woke – Psychologie eines Kulturkampfs von Esther Bockwyt ist im Westend Verlag im flexiblen Einband erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.
Rezension von awogfli