Afrodiverso empowert Schwarze Queers und unterstützt arme Rentner*innen in der kubanischen Hauptstadt Havanna
Die sich zunehmend verschlechternde ökonomische Situation auf Kuba trifft alte Menschen besonders hart. Afrodiverso ist eine antirassistische und afrofeministische Initiative in Havanna. In ihrer Arbeit begegnen sich junge LGBTIQ (Akronym für lesbisch, schwul, bi, trans, inter, queer)-Personen und Senior*innen.
Von Evelyn Linde, Havanna
Ein älteres Ehepaar steht in der Küche und singt. „Seit über 40 Jahren singe ich ihr jeden Tag ein Liebeslied“, erzählt der Ehemann. Sie lächelt und stimmt mit ein. Neben ihnen trinkt Argelia Fellove Hernández aus einer kleinen Tasse Kaffee. Immer sonntags bringt Argelia ihnen eine nahrhafte Mahlzeit. Diese hat Argelia zusammen mit Oyantay in ihrer Küche einige Straßen entfernt gekocht. Auch die beiden verbindet Liebe, neben der romantischen auch die zur Community. Das nicht-binäre Paar hat die Organisation Afrodiverso gegründet.
„Kunst, Gesundheit, Gemeinschaft“ sind die drei Grundsätze der zivilgesellschaftlichen Initiative in dem Wohnviertel Lawton in Havanna. Argelia und Oyantay verfolgen mit der antirassistischen und afrofeministischen Initiative das Ziel, Schwarze Angehörige der LGBTIQ-Community sichtbarer zu machen und zu empowern. Sie organisieren Drag-Performances, klären über sexuelle Gesundheit auf, machen Bildungsarbeit für Kinder und verteilen umsonst Essen an bedürftige Personen. So auch an diesem Sonntag: Argelia verabschiedet sich und geht zur nächsten Adresse. Die Essensübergabe an der Tür ist routiniert, aber freundlich. Während ein älterer Herr seine Portion in der Küche umfüllt und die Dosen zurückbringt, zückt Argelia ein Notizbuch und trägt ein, wer heute versorgt wurde. Inzwischen haben sich 58 Menschen mit Bitten um Unterstützung bei Afrodiverso gemeldet. Weil nicht immer alle da sind, versorgt Afrodiverso jeden Sonntag etwa 50 bis 55 Menschen mit einer gesunden und reichhaltigen Mahlzeit.
Auf der Straße wird Argelia von Nachbar*innen gegrüßt, das Vertrauen und der Respekt sind spürbar. Wie von dem älteren Ehepaar wird Argelia bei einer weiteren Essensübergabe ins Haus hineingebeten. In dem Zimmer sitzt eine ältere Frau auf ihrem Bett und schildert ihre Schmerzen. Argelia erkundigt sich bei der jüngeren Frau, die sie pflegt, welche Medikamente ihnen fehlen. In den staatlichen Apotheken herrscht Mangel und aus den privaten Läden können sich die meisten Menschen nicht einmal normale Schmerzmittel leisten. Von Tür zu Tür zeichnet sich ein immer deutlicheres Bild ab: Die Menschen, die Afrodiverso um Unterstützung gebeten haben, sind vor allem Rentner*innen.
Als alle Portionen verteilt sind, läuft Argelia zurück zum Haus. Oyantay ist dabei, Töpfe zu spülen. Mittags haben sie mithilfe von Unterstützer*innen aus der queeren Community bereits vor dem Haus Essen ausgegeben. Die Essenslieferung machen sie nur für die 23 bis 25 Menschen, die den Weg durch die Nachbarschaft nicht mehr selbst laufen können. Sie nennen ihr Projekt La Caldoza Diversa (die diverse Caldoza-Suppe), in Anlehnung an das Suppengericht Caldoza Cubana.
Queeres Empowerment trifft Küche für Alle
Es begann 2019 mit einer Art „Küche für alle“. Während der Coronapandemie änderte sich die Funktion ihrer Arbeit und Afrodiverso leistete zudem soziale Hilfe. Allerdings verschlechtert sich die ökonomische Situation in Kuba seit dem Ende der Pandemie weiter. So entschieden Argelia und Oyantay, weiterhin Menschen, die vulnerablen Gruppen angehören, zu unterstützten. Es kommen auch alleinerziehende Mütter oder Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen. Doch ob in der Hauptstadt Havanna oder einem Dorf im Osten Kubas – wenn Menschen auf Kuba von vulnerablen Gruppen sprechen, geht es oft um Rentner*innen.
Die Rente auf Kuba beträgt in der Regel 150 Pesos pro Monat. Nach dem staatlichen Wechselkurs sind das etwa zwölf Euro, nach dem weit verbreiteten Straßenwechselkurs etwa fünf Euro. Die Rentner*innen leiden besonders unter der Inflation, die vergangenes Jahr 30 Prozent betrug, und den kleiner werdenden Mengen an Lebensmitteln, die über das staatliche System der Verteilung, auch libreta genannt, zur Verfügung stehen. Die Situation verschärft sich zusätzlich dadurch, dass immer mehr junge Menschen das Land verlassen. Zurück bleiben die Älteren. Doch in dem Land, das für seine medizinischen Fachkräfte bekannt ist, mangelt es an Pflegeangeboten und -kräften.
Für noch mobile und gesunde Senior*innen bietet der Staat in den „Häusern der Großeltern“ Tagesbetreuung an. Wer jedoch krank ist und Pflege bedarf, lebt zuhause. Das im Jahr 2022 verabschiedete neue Familiengesetz nimmt für die Pflegearbeit Familienangehörige in die Pflicht. Nur wenn es keine Familie gibt, leistet der Staat Sozialhilfe.
Oyantay und Argelia sitzen in ihrem Wohnzimmer. Auf einem Sticker in Regenbogenfarben, der am Kühlschrank klebt, steht: „Christus liebt mich.“ Sie erzählen begeistert vom Familiengesetz, denn es legalisiert die gleichgeschlechtliche Ehe, stärkt die Rechte von Frauen und erhöht den Schutz bei Gewalt. Das Gesetz stärkt auch die Rechte von älteren Menschen und Pflegekräften. Die beiden erklären, dass die pflegende Person oft mit im Haus lebt. Die pflegebedürftige Person habe jetzt das Recht zu entscheiden, wer sie pflegt und auch die Möglichkeit, ihr Haus an die pflegenden Angehörigen zu vererben.
Neues Gesetz bringt teils Verbesserungen für ältere Menschen
Mit dem Gesetz delegiert der Staat allerdings auch die Verantwortung für die Pflegearbeit an die Familien. Das heißt angesichts patriarchaler und sexistischer Arbeitsteilung und Rollenbilder: an Frauen. Das Gesetz habe mit Blick auf die Pflegeverhältnisse nicht groß etwas geändert, sondern vielmehr eine bestehende Situation reguliert. Oyantay und Argelia problematisieren, dass die Verantwortung für die Pflegearbeit viele Frauen dazu zwinge, ihren Beruf aufzugeben. Mit dem Einbruch der Einnahmen steigt auch ihre Vulnerabilität. Die Feminisierung der Fürsorgearbeit erhöht so die Feminisierung der Armut.
Armut trifft afro-kubanische LGBTIQ-Personen besonders stark: Queerfeindlichkeit zwinge viele zum Schulabbruch oder Arbeitsverlust. „Sie werden als Travesti und als Schwarze diskriminiert“, sagt Oyantay. „Der Afrofeminismus hat sichtbar gemacht, dass es auf Kuba Rassismus und Sexismus gibt.“ Argelia und Oyantay diskutieren kritisch die Verantwortung des Staates. Auch mit Blick auf die Bekämpfung von Altersarmut sehen sie grundsätzlich den Staat in der Verantwortung. Sie verstehen die Arbeit von Afrodiverso als Hilfe für den Staat, nicht als Ersatz: „Eigentlich ist es nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber wir machen es trotzdem, aus Empathie.“ „Wir machen das aus Liebe“, bekräftigt Argelia. Trotz ihrer kritischen Perspektiven ist ihnen wichtig, dass die regierungskritische Opposition die Arbeit von Afrodiverso nicht für deren Regierungskritik instrumentalisiert.
Es scheint, dass sich angesichts der sich zuspitzenden sozialen Krisen auf Kuba Räume für sozialen Aktivismus öffnen. Dort wird nicht nur Suppe gekocht, sondern auch antirassistische und feministische Arbeit geleistet. Diese muss sich allerdings in einem Rahmen bewegen, der nach den Protesten gegen die Regierung und die Kommunistische Partei Kubas im Juli 2021 mit Repression gewaltsam abgesteckt wurde.
Afrodiverso hat sich entschieden, Räume der Solidarität und des Empowerments zu schaffen und ist landesweit mit anderen afrofeministischen Gruppen vernetzt. Sie teilen ihre Erfahrungen, damit auch andere Initiativen entstehen. Auch in ihrem Stadtviertel würden sie die Essensausgabe gerne auf zwei bis drei Male die Woche ausweiten. Aus der queeren Community haben sie ein Netzwerk aus Menschen, die sich abwechselnd engagieren. Doch noch fehlen ihnen die Ressourcen. Oyantay zeigt auf einen kleinen Kiosk, der auf der Küchentheke neben der Haustür aufgebaut ist: „Alles, was wir aus dem Erlös nicht selbst zum Leben brauchen, nutzen wir für die Arbeit von Afrodiverso.“ Auch Nachbar*innen spenden manchmal oder sie organisieren Sachspenden.
Doch ihnen geht es immer um mehr als nur um praktische Unterstützung. „Wir wollen auch die Seele ernähren, nicht nur den Magen. Liebe zu spüren, erfüllt die Seele“, sagt Oyantay. Die Menschen im Viertel wüssten, dass sie ein nicht-binäres Paar sind, und sie begegnen bei der Essensausgabe anderen LGBTIQ-Personen. Das seien für viele Menschen neue Begegnungen.
Bisher hätten sie keine Ablehnung erfahren, unter Umständen vorhandene Vorurteile wurden ihnen gegenüber nicht geäußert. Oyantay und Argelia erzählen außerdem, dass einige der Menschen in fundamentalistischen Kirchengemeinden sind, die Homofeindlichkeit predigten. Wer Vorurteile habe, komme nicht zu ihnen. Für die Menschen zähle die Praxis, die positiven Erlebnisse mit Afrodiverso, mehr als die Diskurse aus der Kirche. Und so kommen einige ältere Nachbar*innen nicht nur zur Essensausgabe, sondern auch zu Drag-Shows, die sie anlässlich von Geburtstagsfeiern in der Nachbarschaft organisieren.