Neue Studie schildert Bemühungen um Waffenstillstand in der Ukraine seit dem 28. Februar 2022 und ihr Scheitern am Westen. Wiederholte russische Vorstöße, die Waffen schweigen zu lassen, wurden ignoriert.

Gestern vor zwei Jahren, am 28. Februar 2022 begannen die ersten, beinahe von Erfolg gekrönten Verhandlungen über eine Beendigung des Ukraine-Kriegs. Daran erinnert eine kürzlich publizierte Studie von Oberst a.D. Wolfgang Richter, einem einstigen Militärberater der deutschen Vertretungen bei der UNO und der OSZE. Die Verhandlungen öffneten Ende März 2022 den Weg zu einem Kompromiss, der die Neutralität und einen EU-Beitritt der Ukraine sowie einen Abzug der russischen Truppen vorsah und einen baldigen Frieden „in Reichweite“ erscheinen ließ, wie Richter feststellt, der heute für das Geneva Centre for Security Policy (GCSP) tätig ist. Zentrale Ursache für das Scheitern war demnach, neben dem „Widerstand“ ukrainischer Nationalisten, „massive Einflussnahme westlicher Regierungsvertreter“, die Kiew energisch drängten, den Krieg fortzusetzen. Wie die New York Times berichtet, schlug Russlands Präsident Wladimir Putin bereits im Herbst 2022, dann erneut seit September 2023 ein Einfrieren der Front und einen Waffenstillstand vor. Kiew und der Westen verweigern dies, um einen Sieg um jeden Preis bemüht, bis heute. Die Folge: Europa diskutiert inzwischen über die Entsendung von Bodentruppen.

Erste Verhandlungen

Verhandlungen über eine schnelle Beendigung des Krieges waren, wie Richter schreibt, bereits am 28. Februar 2022 aufgenommen worden, vermittelt vor allem durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett. Sie fanden zunächst in Belarus statt – im Bezirk Gomel –, dann zudem in der Türkei wie auch in Israel. Eingebunden war unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz, der am 2. März 2022 zu Gesprächen mit Bennett über den Ukraine-Krieg nach Israel reiste. Bennett traf am 5. März in Moskau den russischen Präsidenten Wladimir Putin und flog dann nach Berlin, um erneut mit Scholz zu konferieren. Am 14. März tauschte sich Scholz in Ankara mit Erdoğan aus, während am selben Tag – so schildert es Richter – der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von „bedeutsamen Verhandlungsfortschritten“ sprach.[1] Am 19. März „stoppte Moskau den Vormarsch bei Kiew“, heißt es in Richters Analyse: Die bilateralen Verhandlungen zwischen den beiden Seiten hatten mittlerweile „erste substantielle Ergebnisse erzielt“ und Moskau zu ersten militärischen Zugeständnissen veranlasst. Es gab Hoffnung auf einen Verhandlungserfolg und einen baldigen Waffenstillstand.

Kompromissfrieden in Reichweite

Ein Durchbruch schien am 29. März 2022 zu gelingen, als sich beide Seiten in Gesprächen in Istanbul auf das Istanbul Communiqué einigten; dieses sah in zehn Punkten Schritte vor, die es ermöglichen sollten, den Krieg zu beenden.[2] Sie umfassten ein Bekenntnis der Ukraine zur Neutralität, einen Verzicht des Landes auf Atomwaffen und die Zusicherung, weder auswärtige Militärstützpunkte noch fremde Truppen auf ukrainischem Gebiet zuzulassen. Umgekehrt erklärte Russland sich bereit, seine Truppen abzuziehen – Ausnahme: die Krim – und keinerlei Einwände gegen einen ukrainischen EU-Beitritt zu erheben. Die Ukraine sollte Sicherheitsgarantien mehrerer Staaten erhalten, darunter die USA, Großbritannien und Deutschland sowie eventuell China und die Türkei. „Im Falle eines Angriffs auf die neutrale Ukraine“, erläutert Richter, seien Beistandsmechanismen „einschließlich der Anwendung von Waffengewalt“ zum Schutz des Landes vorgesehen gewesen. Details hätten mit den Garantiemächten geklärt werden sollen. Für die Lösung des Streits um die Zugehörigkeit der Krim habe man einen Zeitraum von 15 Jahren vorgesehen. „Ein Kompromissfrieden“, hält Richter fest, „schien somit in Reichweite zu sein“. Russland leitete noch am selben Tag, dem 29. März, den Rückzug seiner vor Kiew stehenden Truppen ein.

Boris Johnson in Kiew

Letztlich scheiterte der Kompromiss allerdings an zwei Faktoren. In Kiew formierte sich, berichtet Richter, „die nationale Opposition“, die sich „vermutlich“ mit einigen der mit der Ukraine verbündeten Mächte abstimmte sowie das Istanbul Communiqué kategorisch zurückwies. Zugleich verweigerten auch die westlichen Staaten ihre Unterstützung. So traf am 9. April 2022 der britische Premierminister Boris Johnson in der ukrainischen Hauptstadt ein und erklärte, wie Richter unter Berufung auf ukrainische Verhandlungsteilnehmer schreibt, „die britische Regierung“ sei „nicht bereit …, ihre Unterschrift unter ein Garantieabkommen“ zu setzen. „Stattdessen ermutigte er Kiew, die Kampfhandlungen fortzusetzen, und sicherte umfangreiche Waffenhilfe zu.“[3] Weitere Regierungen westlicher Staaten schlossen sich dem in den folgenden Tagen an. Letztlich brach die Ukraine am 19. Mai die Verhandlungen ab. „Nach Aussagen ukrainischer Verhandlungsteilnehmer“, schreibt Richter, „hatten sowohl die massive Einflussnahme westlicher Regierungsvertreter als auch der Widerstand der nationalen Opposition gegen jegliche Zugeständnisse an Russland die ukrainische Führung zum Verhandlungsabbruch bewegt. Diese Auffassung wird vom ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennett geteilt“.

Vermittlungsversuche

Chancen, die Kämpfe zu stoppen und zu Verhandlungen überzugehen, hat es seitdem immer wieder gegeben. So berichtete im Dezember 2023 die New York Times unter Berufung auf zahlreiche Insider auf russischer wie auch auf westlicher Seite, Putin habe bereits im Herbst 2022 nach der damaligen erfolgreichen Offensive der Ukraine dem Westen über interne Kanäle zu verstehen gegeben, er sei trotz der jüngsten russischen Geländeverluste weiterhin zu einem Waffenstillstand bereit.[4] Auch international nahmen damals die Bemühungen um ein Ende der Kampfhandlungen zu; dafür machten sich zum Beispiel Brasilien, Indien und China stark.[5] China etwa legte am ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine ein Zwölf-Punkte-Papier „zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise“ vor und entfaltete intensive Vermittlungsaktivitäten.[6] All dies scheiterte daran, dass der Westen darauf setzte, die ukrainischen Streitkräfte könnten mit einer schon vorab gepriesenen Frühjahrsoffensive weitere Territorien zurückgewinnen. Moskau müsse dann, so hieß es regelmäßig, aus einer Position der Schwäche in Verhandlungen mit Kiew gehen. Die Hoffnung lautete, dies sei bis Ende 2023 erreichbar und werde es US-Präsident Joe Biden ermöglichen, unbelastet in den Präsidentschaftswahlkampf zu ziehen.

Um jeden Preis

Das Scheitern der ukrainischen Offensive hat die Pläne des Westens zunichte gemacht. Seit spätestens September 2023, so berichtete es im Dezember die New York Times, signalisierte Präsident Putin erneut seine Bereitschaft, den aktuellen Frontverlauf einzufrieren und zu einem Waffenstillstand überzugehen.[7] Moskau habe dies über vielerlei Kanäle vermittelt, hieß es – nicht nur über die üblichen bilateralen Kommunikationswege, sondern zudem über fremde Regierungen, die über gute Beziehungen sowohl zu Russland als auch zu den USA verfügten. Im Spätsommer und im Herbst gab es im Westen ernsthafte Überlegungen, in einen Waffenstillstand einzuwilligen (german-foreign-policy.com berichtete [8]); doch setzte sich letztlich ganz offenkundig diejenige Fraktion, die Russland um jeden Preis militärisch niederwerfen will, durch – dies, obwohl Militärs schon seit dem Herbst warnen, das sei nicht mehr möglich. Inzwischen ist es den russischen Streitkräften gelungen, die Stadt Awdijiwka einzunehmen und in die Offensive zu gelangen; Kiew gerät immer mehr in die Defensive. Dies veranlasst Berlin, die EU und weitere europäische Staaten, nicht nur die Lieferung von Waffen stark auszuweiten; inzwischen wird sogar über die Entsendung von Bodentruppen diskutiert [9] – in einen Krieg, der im Frühjahr 2022 hätte beendet werden können.

[1], [2], [3] Wolfgang Richter: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wien, Dezember 2023. S. auch Die Kriegsziele des Westens.

[4] Anton Troianovski, Adam Entous, Julian E. Barnes: Putin Quietly Signals He Is Open to a Cease-Fire in Ukraine. nytimes.com 23.12.2023.

[5] S. dazu Auf der Seite der Diplomatie (III).

[6] S. dazu Auf der Seite des Krieges.

[7] Anton Troianovski, Adam Entous, Julian E. Barnes: Putin Quietly Signals He Is Open to a Cease-Fire in Ukraine. nytimes.com 23.12.2023.

[8] S. dazu Heikle Gespräche.

[9] S. dazu Der Wille zum Weltkrieg (II).

Der Originalartikel kann hier besucht werden