Mehrere Staaten des Globalen Südens arbeiten auf eine Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg hin. Berlin lehnt eine solche ab und dringt auf die Fortsetzung des Krieges, obwohl die Ukraine immer mehr in die Defensive gerät.
Während mehrere nichtwestliche Staaten, darunter solche aus dem Globalen Süden, nach Chancen für eine Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg suchen, weist die Bundesregierung allein schon den Gedanken daran zurück. Am gestrigen Mittwoch hat Indiens Premierminister Narendra Modi in Telefongesprächen mit Russlands Präsident Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj für einen Waffenstillstand geworben. Zuvor hatte sich Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor ebenso dafür stark gemacht wie der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan oder auch ein Sondergesandter der chinesischen Regierung. Außenministerin Annalena Baerbock hingegen kommentierte den Vorschlag, über ein „Einfrieren“ des Krieges nachzudenken, mit der Äußerung, alle, die „darüber reden, dass man jetzt irgendwie auch genug hätte von der Unterstützung der Ukraine“, sollten sich stattdessen mit russischen Kriegsverbrechen befassen. Die Fortsetzung des Krieges, die Baerbock verlangt, während andere nachdrücklich für einen Waffenstillstand und für Verhandlungen plädieren, fügt der Ukraine und ihrer Bevölkerung tagtäglich neue irreparable Schäden zu.
Vermittlungsbemühungen
Nach Möglichkeiten für Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine Beendigung des Ukraine-Kriegs hat am gestrigen Mittwoch Indiens Premierminister Narendra Modi in zwei getrennt geführten Gesprächen mit Russlands Präsident Wladimir Putin und dem Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, gesucht. Zunächst gratulierte Modi Putin telefonisch zu seinem Wahlsieg. Dann habe man sich über einen Ausbau der „speziellen und privilegierten strategischen Partnerschaft“ zwischen beiden Ländern ausgetauscht, bevor man sich mit dem Ukraine-Krieg befasst habe, teilte Indiens Ministerpräsident mit.[1] Anschließend telefonierte Modi mit Selenskyj. Beide hatten Möglichkeiten im Blick, die Kooperation zwischen ihren Ländern zu stärken, wobei Modi zudem Optionen thematisierte, den Ukraine-Krieg zu einem baldigen Ende zu bringen.[2] Einen Tag zuvor hatte Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor sich vor einem Publikum in Washington dafür stark gemacht, endlich Gespräche über einen Waffenstillstand mit Russland zu führen. Der Krieg könne, zumal beide Seiten ernste Sicherheitsbedenken hätten, lediglich mit Verhandlungen beendet werden, erklärte Pandor.[3] Südafrika unterhalte gute Beziehungen sowohl zu Russland wie auch zur Ukraine – und es unterstütze jegliche Vermittlung.
„Einen Friedensgipel abhalten“
Bereits am 8. März hatte der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, Selenskyj zu Gesprächen über einen Ausbau der bilateralen Handelsbeziehungen empfangen und diesen Anlass genutzt, um sich gleichfalls für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine stark zu machen. Erdoğan wies darauf hin, dass die Türkei sich seit je als Vermittlerin zwischen beiden Seiten betätigt; ihr war etwa das Zustandekommen des ersten Abkommens über die Öffnung des Schwarzen Meeres für ukrainische Getreideexporte zu verdanken. Der türkische Präsident erklärte, er sei „bereit, einen Friedensgipfel abzuhalten“, an dem freilich Russland beteiligt werden müsse.[4] Selenskyj verweigert das bisher. Auch China hat seine Vermittlungsbemühungen wieder gestartet. Anfang März reiste sein Sondergesandter für eurasische Angelegenheiten, Li Hui, nach Moskau, Kiew, Warschau, Berlin, Paris und Brüssel, um dort jeweils Verhandlungsoptionen zu eruieren. Darüber hinaus traf er sich mit Vertretern des Schweizer Außenministeriums: Zur Zeit ist ein Friedensgipfel in der Schweiz im Gespräch. In Berlin traf Li mit dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Thomas Bagger zusammen. Der Austausch mit ihm, der sich auch um den Ukraine-Krieg drehte, wurde als „offen“ und „ausführlich“ charakterisiert.[5]
Den Krieg einfrieren
Während der Globale Süden einmal mehr bemüht ist, Wege zu einer Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg zu finden, erweist sich selbst die bloße Debatte darüber in Deutschland als nahezu unmöglich. In der vergangenen Woche hatte Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, öffentlich die Frage gestellt: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“[6] Genau jener Gedanke – einen Waffenstillstand zu erreichen, damit den Frontverlauf vorläufig einzufrieren, anschließend Friedensverhandlungen einzuleiten – ist im vergangenen Jahr Gegenstand von Diskussionen gewesen, die in den Vereinigten Staaten bzw. in US-Medien geführt wurden. So wurde etwa im Mai 2023 in Washington intensiv darüber nachgedacht, den Ukraine-Krieg nach dem Modell des Korea-Kriegs einzufrieren, in dem seit Juli 1953 immerhin die Waffen schweigen, wenngleich er bis heute nicht mit einem Friedensvertrag beendet ist.[7] Im November rieten US-Experten in der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs der Ukraine dringend dazu, „einen Waffenstillstand auszuhandeln“, um die militärische Niederlage der Ukraine zu vermeiden.[8]
Verhandlungen? „Verrat!“
Derlei Vorschläge haben in Deutschland zur Zeit keine Chance. So äußerte beispielsweise Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), Vizepräsidentin des Bundestages, über den Vorstoß des SPD-Fraktionsvorsitzenden: „Wer wie Rolf Mützenich den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine ‘einfrieren‘ will, gibt dem Aggressor nach.“[9] Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, warf Mützenich „Appeasement-Politik“ vor.[10] Außenministerin Annalena Baerbock wiederum tat den Vorschlag, über ein Ende des Tötens und Sterbens in der Ukraine auch bloß nachzudenken, verächtlich ab: „All diejenigen, die derzeit darüber reden, dass man jetzt irgendwie auch genug hätte von der Unterstützung der Ukraine“, sollten „mal einen Blick in den jüngsten Bericht der Vereinten Nationen“ zu russischen Kriegsverbrechen werfen. Wer das tue, werde „nicht wieder darüber sprechen, dass man vielleicht den Konflikt einfrieren soll“.[11] Erst kürzlich hatte Oberst a.D. Wolfgang Richter, ein präziser Analytiker des Ukraine-Kriegs, konstatiert, in den USA werde „die Lage weitaus nüchterner diskutiert als in Deutschland, wo das Moralisieren über die Realpolitik triumphiert und Verhandlungen als ‘Mission impossilbe‘ oder gar als ‘Verrat‘ diffamiert werden“.[12]
Bis alles in Scherben fällt
Dabei verschlechtert sich die Lage der Ukraine kontinuierlich. Wie Richter detailliert belegt hat, wäre im Frühjahr 2022 ein Waffenstillstand erreichbar gewesen, bei dem das Territorium der Ukraine bis auf die Krim und das Donbas intakt geblieben wäre; er scheiterte maßgeblich daran, dass die westlichen Staaten der Regierung in Kiew davon abrieten (german-foreign-policy.com berichtete [13]). Seither sind Hunderttausende zu Tode gekommen; Russland ist nach eigenen Angaben zwar zu Verhandlungen bereit, doch nicht mehr dazu, die mittlerweile annektierten Territorien zurückzugeben. Und während Berlin immer noch darauf dringt, die Kämpfe fortzusetzen, spitzt sich die militärische Lage der Ukraine immer weiter zu. Den ukrainischen Streitkräften fehlen neben Munition vor allem Soldaten; neue Vorschriften, die es ermöglichen sollen, eine erhebliche Zahl junger Menschen auf den Kriegsdienst zu verpflichten, sind in der Bevölkerung unpopulär. Demografen weisen schon lange darauf hin, dass es nach Kriegsende nicht möglich sein wird, die schweren Verluste an Menschen vor allem in den jüngeren Generationen halbwegs auszugleichen.[14] US-Verteidigungsminister Lloyd Austin konstatierte am Dienstag: „Das Überleben der Ukraine ist in Gefahr.“[15]
[1] PM Modi speaks to Russia’s Putin, stresses on dialogue in resolving Ukraine conflict. indianexpress.com 20.03.2024.
[2] PM Modi holds talks with Ukraine’s Volodymyr Zelensky, conveys India’s ‘consistent support’ amid war with Russia. livemint.com 20.03.2024.
[3] Carien du Plessis: South Africa to push for Russia to join Ukraine peace talks. theafricareport.com 20.03.2024.
[4] Turkey’s Erdogan offers to host Ukraine-Russia peace talks. euronews.com 09.03.2024.
[5] Außenministerium informiert über die 2. Runde der Pendel-Diplomatie von Li Hui. german.cri.cn 11.03.2024.
[6] Mützenich will nicht von umstrittenen Aussagen abrücken. spiegel.de 19.03.2024.
[7] S. dazu Der Korea-Krieg als Modell.
[8] Richard Haass, Charles Kupchan: Redefining Success in Ukraine. A New Strategy Must Balance Means and Ends. foreignaffairs.com 17.11.2023. S. dazu Die Strategie der Eindämmung.
[9] Peter Carstens: Mützenich sieht in Taurus-Streit „niedere Beweggründe“ am Werk. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.03.2024.
[10] Strack-Zimmermann (FDP) wirft SPD „Appeasement-Politik“ vor. deutschlandfunk.de 20.03.2024.
[11] Pistorius gegen Überlegungen zum Einfrieren des Ukrainekriegs. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.03.2024.
[12] Thomas Fasbender: Militärexperte Richter: „In den USA ist man sehr wohl bereit, mit Russland zu verhandeln“. berliner-zeitung.de 12.03.2024.
[13] S. dazu Kein Wille zum Waffenstillstand.
[14] S. dazu „Ein irreversibler demographischer Schock“.
[15] Lolita C. Baldor: US defense chief vows continued aid to Ukraine, even as Congress is stalled on funding bill. apnews.com 20.03.2024.