Wie soll man anfangen?
Seit über eine Woche versuche ich nun einen Weg zu finden, diesen Artikel in einer Art und Weise zu verfassen, in der diejenigen, die offen für neue Sichtweisen zu diesen Thema sind, nicht abschreckt. Trotzdem halte ich es für äußerst wichtig, dass ich die wichtigsten Fakten nicht verharmlose oder gänzlich weglasse, um mich nicht auf Zehnspitzen durch Paragrafen von Eierschalen zu schleichen, damit ich bestimmte sensible Leser nicht vor den Kopf stoße, die in Bezug auf die in diesem Artikel behandelten Themen noch unentschlossen sind.
Letzten Endes habe ich die Antwort gefunden: Es wird nicht möglich sein, jedes Herz zu erreichen, das diesen Text liest. Ich habe einen Standpunkt zu diesem Thema, dem nicht jeder zustimmen wird. Diese Tatsache akzeptiere ich jetzt. Was jedoch im Bereich des Möglichen liegt, ist, dass ich mich verpflichte, diesen Artikel aus einer Position der Nächstenliebe herauszuschreiben und nicht aus einem Ort des Grolls und/oder Hasses, aus der Perspektive eines aufrichtigen Wunsches zu kommunizieren und nicht aus Selbstgerechtigkeit und/oder Rachsucht. In diesem Text möchte ich FÜR euch schreiben, liebe Leserinnen und Leser. Ich möchte nicht gegen euch schreiben. Und mit diesem Versprechen als Leitsatz fahren wir fort.
Was ich mit Sicherheit sagen kann
Väterlicherseits bin ich halbjüdisch. Man hat mir gesagt, dass ich Verwandte in Israel habe, obwohl ich nie einen von ihnen getroffen habe. Sie sollen wohl sehr nette Menschen sein. Ich würde darauf wetten, dass es nette Menschen sind. Vielleicht sehen einige von ihnen sogar aus wie ich? Vielleicht wurden einige von ihnen am 7.Oktober getötet, als die Hamas ihre Militäroperation durchführte, bei der 1.163 Menschen ums Leben kamen – die meisten von ihnen waren Zivilisten. Ich weiß es nicht, und vielleicht werde ich es auch nie erfahren. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich aufrichtig hoffe, dass keiner meiner israelischen Verwandten, die ich nie getroffen habe, am 7. Oktober getötet wurden. Ich kann auch mit Sicherheit sagen, dass ich, falls sie am 7. Oktober getötet wurden, hoffe, dass ihr Übergang vom menschlichen Leben zu dem, was danach kommt, so friedlich und schnell wie möglich war. Und schließlich kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich das Gleiche für jede einzelne Seele wünsche, dessen Leben an dem Tag genommen wurde.
Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023
Am 7. Oktober 2023 führte die palästinensische Widerstandsorganisation Hamas, die vor 37 Jahren gegründet wurde, eine Militäroperation außerhalb der Region Gaza durch. Gaza war und ist ein Teil von Israel besetztes Gebiet, dessen 2 Millionen Einwohner seit fast zwei Jahrzehnten von Israel gefangen gehalten werden. Die sorgfältig geplante Operation der Hamas begann mit einem Angriff auf Israels weiß-rote Metall-Kommunikationstürme, die sich etwa eine halbe Meile von der Grenze zum Gazastreifen entfernt befinden. „Sie wussten genau, was sie taten“, sagte Shai Asher, ein 50-jähriges Mitglied der bewaffneten Sicherheitstruppe des Kibbuz Kissufim. „Sie hatten einen makellosen Schlachtplan, der einwandfrei ausgeführt wurde.“ (1)
An diesem Tag ging die Hamas von ihrem oben genannten Ausgangspunkt aus zu einem unbestreitbar brutalen militärischen Angriff über, der 732 Zivilisten, darunter 37 Kinder und 373 israelische Sicherheitsbeamte das Leben kostete. (2)
Premierminister Benjamin Netanjahu
Die nachfolgenden Zitate stammen aus eine der bekanntesten israelischen Nachrichtenagenturen, Haaretz: „Netanjahu entwickelte und vertrat eine zerstörerische, verzerrte politische Ideologie, welche besagte, dass eine Stärkung der Hamas auf Kosten der palästinensischen Autonomiebehörde gut für Israel wäre. Ziel dieser Doktrin war es, die Kluft zwischen den Hamas in Gaza und der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland aufrechtzuerhalten. Dadurch würde die diplomatische Handlungsunfähigkeit aufrechterhalten und die „Gefahr“ von Verhandlungen mit den Palästinensern über die Teilung Israels in zwei Staaten mit dem Argument, dass die Palästinensische Autonomiebehörde nicht alle Palästinenser vertritt, für immer aus dem Weg geräumt.
Netanjahus fehlerhafte Strategie hat die Hamas von einer unbedeutenden Terrororganisation in eine effizient ausgestattete Armee von bestens ausgebildeten, menschenverachtender Kampfeinheiten verwandelt. das ist solide dokumentiert. Zwischen 2012 und 2018 genehmigte Netanjahu Katar den Transfer einer kumulierten Summe von etwa einer Milliarde Dollar, von der die Hälfte an die Hamas einschließlich ihres militärischen Flügels ging.
Am 11. März 2019 erklärte Netanjahu den rücksichtslosen Schritt wie folgt: „Der Geldtransfer ist Teil der Strategie, die Palästinenser im Ganzastreifen und im Westjordanland zu spalten. Jeder, der gegen die Gründung eines palästinensischen Staates ist, muss den Transfer des Geldes von Katar an die Hamas unterstützen. Auf diese Weise werden wir die Gründung eines palästinensischen Staates vereiteln.“ (3)
Israels Entstehungsbedingungen: Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land?
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, auf die Einzelheiten der über 125-jährigen Geschichte einzugehen, die Israels Kultur geprägt hat. Es würde jedoch den Rahmen diesen Artikels nicht sprengen, die „Ursprungsbedingungen“, die von Israels strukturellen Grundlagen ihrer grundlegender Ideologie zusammenzufassen. Eine Ideologie, die bisher nicht nur seine Gründung, sondern auch zu einem großen Teil seine Langlebigkeit als Staat im Nahen Osten ermöglicht hat.
„Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ ist der zentrale Leitgedanke, der Israel als Staat wohl 100 Jahre lang – je nach politischem Standpunkt mehr oder weniger 25 Jahre – durch alle möglichen Auseinandersetzungen getragen hat. Ich glaube, ich muss hier ganz offen sein: Wie man es auch dreht und wendet, die oben erwähnte Proklamation impliziert, dass die Millionen von Menschen, die zufällig keine Weißen waren und auf dem Land lebten, dass Israel sich über viele Jahrzehnte hinweg mit Gewalt aneignete, Hektar für Hektar, Region für Region, eine rassistische Proklamation ist.
Ich schließe daraus, dass die „Ursprungsbedingung“ eines jeden Vorhabens irgendwann, wie lange es auch immer dauern mag, an die Oberfläche kommen und entweder das betreffende Vorhaben umstürzen oder seine weitere Existenz als ein Projekt unterstützen wird, das strukturell einheitlich und daher mit einer gültigen Möglichkeit einer Zukunft gerechtfertigt ist, die nicht durch Widerspruch in Zeit und Raum gefesselt ist.
Die Berichterstattung Israels und der USA über die Ereignisse vom 7. Oktober
Mir ist klar, dass das hier ein sehr sensibles Thema ist. Nicht nur die Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass es heikel ist, sondern ich fühle es auch in meinem Herzen. Wir alle haben die schaurigen Geschichten über systematische Massenvergewaltigungen, Enthauptungen und Kindermorde, die angeblich am 7. Oktober stattgefunden haben, von den Nachrichten gehört, denen wir seit Jahrzehnten vertrauen. Das krasseste Beispiel ist die Serie von Berichten der New York Times, die, wenn sie wahr wären, jeden vernünftigen, anständigen, mitfühlenden Menschen in Rage versetzen würden.
Freunde, nachdem ich viele Stunden damit verbracht habe, die Berichterstattung der israelischen und US-amerikanischen Mainstream-Medien über die Geschehnisse am 7. Oktober zu studieren, ist mir klar geworden, dass das Narrativ, das wir immer wieder gehört haben, ausgeheckt wurde, um das Massenabschlachten an unschuldigen palästinensischen Zivilisten, vor allem an Frauen, Säuglingen und Kindern in Gaza in den letzten vier Monaten zu rechtfertigen (5a und 5b). Im Abschnitt „Zitate“ dieses Artikels finden Sie zwei Clips, die dieses Thema ausführlicher behandeln.
In den letzten vier Monaten wurden bis heute 30.000 Palästinenser in Gaza vom israelischen Militär durch Bomben, Schüsse, Verbrennungen und Hungertod getötet. (6) Diese Zahlen stammen vom NPR.
Der Raum der Möglichkeiten
Gab oder gibt es eine andere Möglichkeit als den drohenden geistigen und/oder materiellen Zusammenbruch für einen Staat mit einer widersprüchlichen Entstehungsbedingung? Bei allen Heiligen, ja! Für diejenigen unter Euch, die bis zu diesem Punkt gelesen haben, ist dies der Punkt, an dem wir zusammenkommen. Das Volk Israels, das Volk der anderen Länder des Nahen Ostens, das Volk der Vereinigten Staaten, das Volk Australiens, das Volk Europas, das Volk Afrikas, das Volk Südamerikas, das Volk Asiens, usw. Keine unserer Herkunftsbedingungen ist widerspruchsfrei. Wer ohne Widerspruch ist, werfe den ersten Stein – sage ich.
Ich schlage nicht vor, dass wir anfangen, Schuldkomplexe zu entwickeln. Ich schlage auch kein halbherziges globales Neuzeit-Kumbaya vor, bei dem wir auf magische Art und Weise alles, was ätzend ist, umgehen und direkt zum Einhorn- und Regenbogenteil des Films übergehen. Nein, was ich hier vorschlage, ist Alchemie. Wir stecken in der Scheiße, meine Freunde. Ich weiß, dass ihr es riecht, also versucht erst gar nicht, es zu übersehen. Und es wird heiß werden, bevor es wieder abkühlt, seid gewarnt. Diese Phase der Menschheitsgeschichte ist nicht für zögernde Menschen. Die Menschen in Palästina brauchen Hilfe. Das Volk von Israel braucht Hilfe. Sie und ich brauchen Hilfe! Und jeder von uns kann damit beginnen, indem er sich selbst ansieht. Ohne Vorurteile. Ohne Schuldzuweisungen. Ohne Angst. Um Widersprüche zu überwinden, müssen wir uns selbst ins Gesicht sehen. Ich muss mir selbst ins Gesicht sehen. Hier wird nicht von oben herab geredet. Jetzt sind wir am Leben. Das ist unsere Chance.
Dieser Randbereich, diese selten betretene Region, von der ich jetzt spreche, ist der Raum der Möglichkeit, in dem und aus dem sogenannte Wunder entstehen können. Wie sagte doch der Sänger Seal vor 30 Jahren? „… But were never gonna survive unless, we get a little crazy“ (Aber wir werden niemals überleben, wenn wir nicht ein bisschen verrückt werden).
Das ist der Raum der Möglichkeiten, den er da beschrieben hat! Das Gleiche wie immer wird uns nicht weiterbringen. Ich glaube, das ist inzwischen fast allen von uns klar, zumindest was das betrifft. Es wird etwas Neues von uns verlangt.
Ja, die Überwindung des Widerspruchs ist möglich. Ja, ein Weg der Versöhnung ist möglich, egal wie schlimm eine bestimmte Situation zu sein scheint. Ja, uns steht ein anderer weg offen als der der Schuldzuweisung, der Wiederholung und der Anhäufung von Leid.
Ich werde diesen Artikel nicht beenden, in dem ich euch sage, was ihr tun sollt. Ich habe euch meine Meinung zu diesem Thema dargelegt und euch den Kern meiner Philosophie dargelegt, was ich persönlich für den Ausweg aus unserer misslichen Lage des kollektiven und individuellen Leidens halte. Einem Dilemma, in dem wir ALLE mit drinstecken.
“Together we stand. Divided we fall.” – Pink Floyd, from their album “The Wall”
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Sabine Prizigoda vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!
Quellen:
1- https://www.washingtonpost.com/world/2023/10/27/hamas-attack-israel-october-7-hostages/
2- https://www.france24.com/en/live-news/20231215-israel-social-security-data-reveals-true-picture-of-oct-7-deaths
3- https://www.haaretz.com/israel-news/2023-10-11/ty-article/.premium/netanyahu-needed-a-strong-hamas/0000018b-1e9f-d47b-a7fb-bfdfd8f30000
4- https://time.com/6548068/palestinian-children-israeli-prison-arrested/
5a- https://www.youtube.com/watch?v=x8M9rc9PrWI
5b- https://www.youtube.com/watch?v=4FCizyfRqfs&t=12s
6- https://www.npr.org/2024/02/29/1234159514/gaza-death-toll-30000-palestinians-israel-hamas-war