Die Krise der Menschenrechte an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist weitestgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Dabei sind Gewalt, Pushbacks und die systematische Inhaftierung von Schutzsuchenden weiterhin gängige Praxis in Polen. Auch die neue polnische Regierung hat daran bisher nichts geändert.
In Polen gilt er als der erfolgreichste Film des vergangenen Jahres: Der Spielfilm »Green Border« der renommierten polnischen Regisseurin Agnieszka Holland erzählt eindrücklich von der Gewalt gegen Schutzsuchende an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Eine syrische Familie versucht 2021, über die Grenze nach Polen und dann zu ihren Verwandten in Schweden zu gelangen.
Agnieszka Holland, die auch den Film »Hitlerjunge Salomon« drehte, ist Enkelin von Holocaust-Opfern sowie Tochter einer Kämpferin des Warschauer Aufstands von 1944. Während der damalige polnische Justizminister den Film als »Nazi-Propaganda« verunglimpfte, war die Regisseurin 2023 wegen Hass-Kampagnen gegen sie vorübergehend auf Personenschutz angewiesen.
Seit wenigen Tagen läuft »Green Border« auch in deutschen Kinos. Was er zeigt, ist leider nach wie vor grausame Realität an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union. Seit August 2021 stecken immer wieder Menschen auf der Flucht in einer Art Niemandsland zwischen den beiden Zäunen fest; humanitäre Organisationen können ihnen nicht helfen, weil ihnen verboten wird, den Streifen zu betreten. Während Polen unter Einsatz von Gewalt versucht, die Schutzsuchenden von der Einreise abzuhalten, drängen belarussische Grenzbeamt*innen die Menschen mit Hunden und Schlagstöcken immer wieder Richtung Polen.
Als Reaktion auf EU-Sanktionen gegen Belarus hatten belarussische Behörden 2021 begonnen, die Einreise von Menschen aus dem Irak, Afghanistan und Ländern des Nahen Ostens und Afrikas über ihre Grenzen zu Polen, Litauen und Lettland zu organisieren. Polen stilisierte Geflüchtete daraufhin zur »hybriden Gefahr« und berief sich auf einen »Ausnahmezustand«, um brutale Gewalt, die Militarisierung der Grenze und Scheinlegalisierungen von rechtswidrigen Pushbacks zu rechtfertigen. Seitdem wird das geopolitische Armdrücken auf dem Rücken von Schutzsuchenden ausgetragen.
FLUCHT DURCH EINEN DER LETZTEN URWÄLDER EUROPAS
Auch 2023 reisten Menschen mit russischen oder belarussischen Visa weiter an die polnische Grenze und versuchten, diese zu überwinden, allerdings deutlich weniger als in 2021. Viele stecken dann im Białowieża Wald, einem der letzten Urwälder Europas, fest, der mit seinen Sümpfen und Mooren lebensgefährlich ist – im Winter umso mehr. Aktivist*innen der Initiative Grupa Granica stießen in den vergangenen Monaten immer wieder auf Geflüchtete mit Erfrierungen, denen eine Amputation drohte.
Allein in der ersten Jahreshälfte 2023 erhielt Grupa Granica 4600 Anrufe von im Grenzraum in Not geratenen Menschen. Die Betroffenen kamen vor allem aus Kriegs- und Konfliktländern wie Syrien, Afghanistan, Äthiopien, dem Sudan oder Eritrea und damit aus Ländern, deren Bürger*innen normalerweise internationalen Schutz in Europa erhalten – vorausgesetzt, sie erreichen die Europäische Union (EU).
MIT SCHARFER MUNITION GEGEN SCHUTZSUCHENDE
Die Gewalt gegen Schutzsuchende an der polnisch-belarussischen Grenze ist weiterhin massiv, zuletzt wurde sogar scharfe Munition eingesetzt: Anfang November schossen polnische Grenzbeamt*innen einem 22-jährigen Mann aus Syrien, dem es gelungen war, die Grenze zu überwinden, in den Rücken. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, es handele sich um einen »unglücklichen Unfall«, der Soldat sei »gestolpert«. Das Opfer wurde im Krankenhaus operiert, es bestand die Gefahr einer Lähmung.
Das EU-Grenzregime tötet auf vielfältige Art und Weise, etwa durch direkte Gewalt, Vernachlässigung, die Kriminalisierung von Hilfe oder das Errichten von Mauern, sodass Fluchtrouten gefährlicher werden: Anfang November wurde ein weiterer syrischer Mann, der bereits seit einer Woche gesucht worden war, tot im Grenzgebiet aufgefunden. Und im August starb die 20-jährige Somalierin Sadia Mohamed Mohamud, nachdem sie zuvor zweimal gewaltsam zurückgeschoben worden war und fast einen Monat lang in dem schmalen Streifen Land zwischen dem polnischen und dem belarussischen Grenzzaun hatte ausharren müssen.
MINDESTENS 60 TOTE UND HUNDERTE VERMISSTE AN DER POLNISCH-BELARUSSISCHEN GRENZE
Die polnische NGO Helsinki Foundation for Human Rights, die 2022 gemeinsam mit der polnischen Anwältin Marta Górczyńska den Menschenrechtspreis der Stiftung PRO ASYL erhielt, zählt mindestens 60 bestätigte Tote auf beiden Seiten der Grenze. Polnische Medien berichten zudem von über 300 Menschen, die seit 2021 im Grenzgebiet verschwunden seien. Aktivist*innen sind sich jedoch sicher, dass die tatsächliche Zahl der Toten und Vermissten um einiges höher ist.
Die Familien der Toten und Vermissten erhalten bisher keine systematische Unterstützung, um ihre Angehörigen zu finden, zu identifizieren und falls möglich eine Überführung zur Bestattung zu organisieren. An dem Punkt setzt die Helsinki Foundation for Human Rights mit einem neuen Projekt an. Die NGO weist darauf hin, dass polnische Behörden zum Teil direkt und indirekt zu dem Verschwinden(lassen) der Menschen beitragen.
GEWALTSAME PUSHBACKS DURCH POLNISCHE GRENZBEAMTE
Rechtswidrige Zurückschiebungen sind weiterhin gewaltsame Realität an der Grenze: Die Initiative Protecting Rights at Borders (PRAB), die illegale Pushbacks in Europa dokumentiert und in Polen unter anderem mit der NGO Stowarzyszenie Interwencji Prawnej kooperiert, verzeichnete allein zwischen Mai und August 2023 ganze 3.346 Pushbacks zwischen Belarus und Polen. Einige der Betroffenen hätten berichtet, mehrfach rechtswidrig zurückgeschoben worden zu sein.
Viele der Schutzsuchenden geben an, Gewalt durch polnische oder belarussische Kräfte erfahren zu haben. Betroffene berichteten unter anderem von Beleidigungen und Verhöhnungen, Schlägen, dem Einsatz von Tränengas, vollständigem Entkleiden, Verweigerung des Zugangs zu Toiletten oder Essen sowie der Zerstörung von Kleidung, Schuhen, Telefonen und Lebensmitteln.
Auch Pushbacks von Kindern und Jugendlichen sind in Polen gängige Praxis, wie ein aktueller Bericht von terre des hommes zeigt. Immer wieder werden mit den rechtswidrigen Zurückschiebungen auch Familien getrennt.
SCHWERE VERLETZUNGEN: MIT STACHELDRAHT GEGEN SCHUTZSUCHENDE
Viele der Schutzsuchenden sind in einem schlechten gesundheitlichen Zustand, wenn sie die polnische Seite erreichen. NGOs und Medien berichten immer wieder von Personen, die zurückgelassen und rechtswidrig auf die andere Seite der Grenze zurückgedrängt wurden, ohne zuvor eine (angemessene) medizinische Behandlung zu erhalten. Ärzte ohne Grenzen berichten, dass sie zum Teil Menschen mit schweren Verletzungen behandeln müssen, die durch die fünf Meter hohe und mit Stacheldraht gesicherte Mauer zwischen Polen und Belarus verursacht wurden.
Diese 185 Kilometer lange Mauer war im Sommer 2022 an der EU-Außengrenze zu Belarus auf polnischem Territorium fertiggestellt worden. Die Barriere ist mit Stacheldraht verstärkt und zusätzlich mit Überwachungstechnologien wie Kameras, Bewegungsmeldern und seismischen Sensoren ausgestattet. Doch auch sie hält Menschen offensichtlich nicht davon ab zu versuchen, Schutz in der EU zu erhalten. Seit dem Bau kommt es jedoch häufiger zu schweren Verletzungen: gebrochene Becken und Beine oder schwere Gehirnerschütterungen.