Die Verwaltungskammer des spanischen Obersten Gerichtshofs hat Spanien für die Rückführung von acht unbegleiteten minderjährigen Ausländer:innen im August 2021 verurteilt. Dies geschah im Anschluss an die Migrationskrise im Mai desselben Jahres, bei der etwa 12.000 Menschen, darunter mehr als 1.500 Minderjährige, nach Ceuta geschwommen waren. In der Begründung argumentieren die Richter des spanischen Obersten Gerichtshofs, dass „diese Situation drei Monate andauerte, in denen es keine Anzeichen dafür gibt, dass die spanischen Behörden, ob auf staatlicher oder regionaler Ebene, ein individuelles Verfahren eingeleitet haben, um die Umstände und Bedürfnisse der einzelnen Minderjährigen zu ermitteln.
Im August, als die diplomatische Krise noch nicht gelöst war, trafen sich spanische mit marokkanischen Beamt:innen im Grenzgebiet zwischen den beiden Ländern und vereinbarten die Rückführung der Minderjährigen nach Marokko, wobei sie sich auf das Abkommen zwischen dem Königreich Spanien und dem Königreich Marokko über die Zusammenarbeit bei der Verhinderung der illegalen Einwanderung von unbegleiteten Ausländer:innen, ihren Schutz und ihre gemeinsame Rückführung vom 6. März 2007 stützten. Dieses internationale Abkommen wurde am 22. März 2013 im spanischen Staatsanzeiger veröffentlicht. So wurden die Minderjährigen oder zumindest einige von ihnen im August in Gruppen von jeweils mehreren Dutzend Personen nach Marokko zurückgeschickt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die spanischen Behörden ein anderes Verfahren durchgeführt haben, als die Namen der zurückgeschickten Minderjährigen zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt auch keine Belege dafür, dass die marokkanischen Behörden oder die Familien der Kinder eine Beschwerde eingereicht oder Verstöße gegen internationale Normen gemeldet haben.
Der Oberste Gerichtshof bestätigt das frühere Urteil des andalusischen Gerichtshofs, in dem festgestellt wurde, dass es sich bei der spanischen Maßnahme um eine Kollektivausweisung handelt. Das Gericht erinnert daran, dass die kollektive Ausweisung von Migranten, einschließlich allein reisender Minderjähriger, nach der Menschenrechtskonvention als verboten gilt und ohne das im Ausländer:innengesetz vorgesehene Verfahren durchgeführt wurde.
Die Richter:innen weisen darauf hin, dass nicht für jede:n betroffenen Minderjährigen ein individuelles Verwaltungsverfahren durchgeführt wurde, was zu einer Verletzung seiner:ihrer Rechte auf körperliche und seelische Unversehrtheit führte und ihn:sie einem ernsthaften Risiko physischen oder psychischen Leidens aussetzte.
In dem Urteil wird betont, dass das Abkommen zwischen Spanien und Marokko aus dem Jahr 2007 in diesem Fall nicht anwendbar ist, da es keine Verfahren für die Rückführung von Minderjährigen vorsieht. Ein solches Verfahren ist unerlässlich, insbesondere wenn die Grundrechte des Einzelnen auf dem Spiel stehen. Darüber hinaus weist er die Relevanz der Tatsache zurück, dass Marokko der Übergabe der Minderjährigen nicht widersprochen hat, da dies nicht bedeute, dass Spanien in voller Übereinstimmung mit seiner eigenen Rechtmäßigkeit gehandelt habe.
Der Abogado del Estado und der Letrado de la Ciudad Autónoma de Ceuta, welche die damalige Regierungsdelegierte in Ceuta, Salvadora Mateos, vertreten, und die für Minderjährige zuständige Stadträtin des Präsidiums der Regionalregierung von Ceuta, María Isabel Deu, betonen in ihren Schriftsätzen im Rahmen der Rechtsmittelverfahren die außergewöhnliche Schwere der Menschenlawine, die sich am 17. und 18. Mai 2021 in dieser Stadt ereignete, sowie die außerordentlichen Schwierigkeiten, die ihre Bewältigung für die spanischen Behörden mit sich brachte: Für den Staat in seiner Eigenschaft als Zuständiger für die internationalen Beziehungen, die Grenzkontrolle und den Schutz der öffentlichen Ordnung; für die autonome Stadt Ceuta unter anderem in ihrer Eigenschaft als Verantwortlicher für die Betreuung von Minderjährigen. In dieser Reihenfolge der Erwägungen betonen sie, dass die ganze Episode von Anfang bis Ende während einer diplomatischen Krise stattfand, als der marokkanische Botschafter in Spanien zu Konsultationen einberufen wurde und somit die Kommunikation zwischen den beiden Ländern auf hoher Ebene unterbrochen war. Sie weisen darauf hin, dass das Gespräch im August, in dem die Rückführung der Minderjährigen auf der Grundlage des Abkommens vom 6. März 2007 vereinbart wurde, nicht von den diplomatischen Diensten, sondern von Beamt:innen des Innenministeriums und der autonomen Stadt Ceuta geführt wurde.
Die Staatsanwaltschaft hat ihrerseits sowohl schriftlich als auch mündlich stets behauptet, dass es sich bei dem Abkommen vom 6. März 2007 um ein internationales Verwaltungsabkommen handelt, das kein Verfahren für die Rückführung unbegleiteter Minderjähriger regelt; und in diesem Zusammenhang hat sie auch bekräftigt, dass es keine Belege dafür gibt, dass die spanischen Behörden während der drei Monate, die die Situation andauerte, ein Verfahren oder eine Sorgfalt durchgeführt haben, die über die Ingewahrsamnahme der Minderjährigen und ihre endgültige Rückführung nach Marokko hinausging. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft stellte dieses Vorgehen eine Gefährdung der körperlichen und moralischen Unversehrtheit der Minderjährigen dar, ohne sich an das Leitkriterium des „Wohls des Minderjährigen“ zu halten, wie es das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vorschreibt, das sowohl Spanien als auch Marokko unterzeichnet haben.
Von dieser Zeitung befragte Rechtsquellen erklären, dass das Urteil nicht über künftige Ereignisse entscheidet und umstrittene Aspekte klärt, wie etwa die Frage, ob das 2007 mit Marokko unterzeichnete Abkommen für die Rückführung von Migrant:innenkindern in das Nachbarland ausreicht und ob neben der Anwendung dieses Abkommens auch das Ausländerrecht angewendet werden muss. Auf jeden Fall bestätigt er, dass, wenn er ein allein reisendes Migrant:innenkind nach Marokko zurückschicken will, die Rückführung, um legal zu sein, den Garantien von Artikel 35 des Ausländergesetzes und Artikel 191 der Verordnung des Organgesetzes 4/2000 über die Rechte und Freiheiten von Ausländer:innen in Spanien und ihre soziale Integration entsprechen muss, in dem das Verfahren für die Rückführung ausländischer Minderjähriger festgelegt ist.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!