Wenn Menschen Pflege brauchen, übernehmen in Österreich oft Angehörige diese Aufgabe – vor allem Frauen. Für viele bringt diese unbezahlte Arbeit finanzielle Schwierigkeiten: Sie können gar nicht oder zumindest nicht Vollzeit arbeiten, zahlen dadurch auch weniger in die Pension ein. Die linke Stadtregierung in Graz erprobt einen neuen Weg: Menschen werden
von Stephanie Gaberle (moment.at)
In der Pflege türmen sich die Probleme. Seit Jahren. Pflegekräfte werden schlecht bezahlt. Die Arbeit ist hart und in Vollzeit oft kaum zu schaffen. Es ist zu viel zu tun für zu wenige Menschen. Statt einer nötigen Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn erleben viele unregelmäßige, lange Schichten und viele Überstunden. Viele dieser Kräfte stehen auch noch vor der Pension, aber immer mehr Menschen in unserer älter werdenden Gesellschaft brauchen Pflege. Zugewanderte Pflegekräfte retten das System noch vor dem Kollaps. Aber Parteien, die Zuwanderung verhindern wollen, werden stärker.
Und: Die Ansprüche der Patient:innen werden größer. “Menschen wollen immer häufiger zu Hause betreut werden”, sagt Sabine Zanier von der Pflegedrehscheibe im Sozialamt Graz. “Sie möchten nicht in ein Pflegeheim gehen, viel lieber bleiben sie in ihren eigenen vier Wänden, vor allem in einem so verletzlichen Zustand. Am besten im Kreise von Menschen, die sie kennen und die ihnen gut tun.” Das ist teuer.
Angehörige übernehmen die Pflege
Kompetente Pflege dieser Art unter fairen Umständen für die Pflegekräfte ist aktuell nicht für alle möglich – und wäre ohne Hilfe auch nicht für alle leistbar. Die Verantwortung für die Pflege von kranken oder älteren Familienmitgliedern übernehmen dann Angehörige. Das ist mental und körperlich anstrengend. Nicht selten bedeutet sie auch finanzielle Einbußen – weil die Arbeit nicht bezahlt wird, aber für Erwerbsarbeit weniger Zeit und Energie übrig bleibt.
Vor allem machen das die Frauen. “Es werden aber auch immer mehr Männer”, so Christine Bindar, ebenfalls von der Pflegedrehscheibe. “Unseren persönlichen Erfahrungen nach ist das Verhältnis so 70 zu 30%.”
Ein einzelnes Wundermittel gegen dieses enorme Problem gibt es nicht. Aber vor diesem Hintergrund will das “Grazer Modell für pflegende Angehörige” eine neue Perspektive bieten. Mit 2024 beginnt die Pilotphase. Die Stadt Graz hat in diesem Jahr 15 Angehörige angestellt, die sich um ältere und kranke Familienmitglieder kümmern.
Von Graz in die gesamte Steiermark?
15 Personen – das klingt erstmal nicht viel, soll aber laut Pflegedrehscheibe nur ein Vorlauf sein. Zwar haben sich seit Beginn viel mehr Menschen beworben, aber bei weitem nicht alle erfüllen die Kriterien für die Pilotphase.
Das Modell soll Angehörige nicht nur finanziell absichern, sondern auch unterstützende Strukturen schaffen und damit die Lebensqualität verbessern – sowohl die der Pflegenden als auch der zu Pflegenden.
Das Burgenland als Inspiration
Schon seit 2019 wird in Österreich ein ähnliches Modell erprobt. Dort sind derzeit fast 300 Menschen angestellt. Das Projekt im Burgenland war auch Inspiration für das in Graz. Zanier und Bindar stehen in engem Austausch.
“Wir sind selbst des Öfteren ins Burgenland gefahren, um uns ein Bild zu machen und zu schauen – was machen die besonders gut, was davon können wir auch in Graz umsetzen?“, sagt Zanier. “Vor allem haben wir gesehen, wie wichtig es ist, dass es dieses Angebot gibt und wie gut es ankommt.”
Das Grazer Modell selbst war von Beginn an im Koalitionsprogramm der Grazer KPÖ/Grünen/SPÖ-Regierung, wurde vom Sozialamt initiiert und wird von der Pflegedrehscheibe der Stadt Graz durchgeführt. Hat es Zukunft?
Was bekommen die Pflegenden?
Nur pflegebedürftige Personen, deren Einkommen unter der Grenze zur Armutsgefährdung liegen, können die Förderung derzeit in Anspruch nehmen. Angestellt werden in Graz Erwachsene, die Angehörige der Pflegestufe 3, 4, 5, 6 oder 7 betreuen. In der Pilotphase können das Kinder, Eltern, Ehepartner:innen oder andere Verwandte “in gerader Linie” sein. Sie müssen nicht mit der zu pflegenden Person zusammen in einem Haushalt leben. Wer gerade in Karenz oder Pension ist, kann dem Modell zumindest vorerst nicht beitreten.
Die finanzielle Absicherung ist ein zentrales Element des Projekts. Die Entlohnung richtet sich nach der Pflegestufe. Für jemanden in der Pflegestufe 3 werden 20 Wochenstunden berechnet. Netto sollen das etwa 1.200 Euro sein. Für jemanden in der Pflegestufe 5 rechnet man mit 40 Wochenstunden und etwa 2000 Euro netto.
Ein Teil der Entlohnung ist ein Selbstbehalt – es kommt auch aus dem Pflegegeld, das die zu pflegende Person erhält. “Im Burgenland wird vermehrt auf das Vermögen und Einkommen zurückgegriffen. Wir machen das anders. In Graz setzt man auf einen Selbstbehalt”, so Zanier.
Gibt es auch psychosoziale Unterstützung?
Jeder Fall wird persönlich betreut. „Es geht nicht nur um die finanzielle Unterstützung. Jeder Mensch, der pflegt, hat eigene Bedürfnisse“, sagt Zanier. Bei Fragen und Problemen sind Bindar und Zanier die ersten Ansprechpersonen.
Daneben werden auch psychosoziale Entlastungsgespräche angeboten “Wir selbst machen das nicht, aber wir sind hier im engen Austausch mit psychosozialen Anlaufstellen der Stadt Graz”.
Wie wird der Prozess dokumentiert?
Um die Dokumentation des täglichen Ablaufs und der anfallenden Auf- und Ausgaben kümmern sich die Pflegenden selbst. “Sie werden von uns bei allen Fragen begleitet, haben aber gleichzeitig viel Eigenverantwortung”, sagt Zanier.
“Die Qualitätssicherung ist ausschlaggebend für den Erfolg des Projekts – wir brauchen messbare Ergebnisse. Und die gewährleisten wir durch die Kombination aus genauer Dokumentation und intensiver Zusammenarbeit mit den anerkannten Trägerorganisationen der mobilen Dienste.” So stelle man sicher, dass die Pflege auf einem hohen Niveau erfolgt und die Pflegenden die Unterstützung erhalten, die sie benötigen.
Was sagt die Politik dazu?
Das Grazer Modell soll auch nicht nur eine lokale Initiative bleiben – Zanier und Bindar wollen, dass es auf die ganze Steiermark ausgeweitet wird. Das braucht natürlich Geld – und politische Unterstützung. In Graz unterstützt die Stadtregierung aus KPÖ, Grünen und SPÖ das Projekt. Im Land haben die drei Parteien derzeit keine Mehrheit. Im Herbst wird gewählt, einer linken Mehrheit fehlen in den jüngsten Umfragen ein paar Mandate.
“Das Ganze wird auf jeden Fall Thema im Wahlkampf sein. Wir möchten, dass sich alle Parteien dazu äußern und sich zu langfristigen Lösungen für die Pflege bekennen“, sagt der zuständige Stadtrat Robert Krotzer (KPÖ). Gesichert ist es für 2024. Könnte es aber passieren, dass das Projekt nach einem Jahr wieder ausläuft und die Angehörigen dann ohne Support dastehen?
„Wir verständigten uns als Koalition, das Pilotprojekt zu starten, haben aber immer die klare Absicht, es langfristig aufzubauen,” sagt Krotzer. Eine sorgfältige Begleitung des Projekts sei wichtig, damit es erfolgreich startet und von der Gemeinschaft angenommen werde. “Dies ist kein unüberlegtes Unterfangen, sondern ein nachhaltiges Engagement für die Absicherung pflegender Angehöriger.“ Man wolle die Sicherheit geben, “dass die Projekte fortgesetzt werden“.
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