Der Green New Deal und die Gemeinwohlökonomie ergänzen sich in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung auf Mikro- und Makroebene. Damit wollen beide Konzepte nicht weniger als umfassende Lösungen für die globalen Krisen bieten.
Ob Klimakrise, regionale sowie globale Ungleichheit, gesellschaftliche Polarisierung oder militärische Konflikte: Zentrale Ursache dieser sich zuspitzenden Polykrise ist ein dysfunktionales Wirtschaftssystem, das zu einer zerstörerischen Fehlallokation von Macht und Wohlstand geführt hat – diese Diagnose ist das gemeinsame Fundament des Green New Deals (GNDE) und der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Um diese Krisen zu meistern, ist es unumgänglich, den Marktkapitalismus in seiner bestehenden Form in ein System des gemeinwohlorientieren Wirtschaftens zu überführen. Einig sind sich die GNDE- und GWÖ-Bewegung überdies darin, dass dies nur im Sinne einer Evolution und keinesfalls als disruptive Revolution erfolgsversprechend ist.
Ein zukunftsfähiges Wirtschaftssystem muss aus der heuristischen Bipolarität zwischen zügellosem, neoliberalem Kapitalismus und gleichmacherischen, freiheitsverneinenden Kommunismus ausbrechen. Es muss die Kooperation trotz Marktkonkurrenz stärken und marktwirtschaftliches Handeln kompromisslos mit drei Fragen verbinden, die im Neoliberalismus fast nostalgisch klingen, aber essenziell sind: Dient es den Menschen? Dient es der Umwelt? Dient es dem Frieden?
Das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie gibt es seit einigen Jahren. Hauptinitiator ist der Wissenschaftler Christian Felber, der das Modell 2010 zusammen mit 15 Unternehmerinnen und Unternehmern als Graswurzelbewegung öffentlich gemacht hat. Felber wollte Praxisbezug, selbst neue Wege ökonomischen Handelns aufzeigen und nicht auf Vorgaben aus Wissenschaft und Politik warten. Im Grunde schlägt auch die Gemeinwohl-Ökonomie nichts anderes vor, als die Hauptziele aller demokratischen Verfassungen weltweit umzusetzen: Sinn des Wirtschaftens soll es sein, das Gemeinwohl – also das Wohl und die allmähliche Verbesserung der Lebenshaltung aller Bevölkerungsschichten – zu fördern. Die Grundsätze der GWÖ lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Schutz der sozialen Sicherungssysteme
- Öffentliche Güter ergänzen private Güter
- Die Startchancen sind durch ein öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem sowie die Beschränkung des Erbrechts gleichmäßig verteilt
- Die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ist begrenzt
- Privateigentum, Gemeinschaftseigentum, Gesellschaftseigentum und Naturnutzungsrechte koexistieren maßvoll
- Unternehmen werden ab einer bestimmten Größe am weiteren Wachstum gehindert
- Handelsräume werden durch gemeinsame Arbeits-, Sozial-, Steuer-, Umwelt-, Transparenz- und Antikorruptionsstandards geschützt
Unternehmen, die diese Grundsätze beachten, erhalten einen Nachweis durch eine auditierte Gemeinwohl-Bilanz (GWB). In dieser GWB werden – auf Basis der Gemeinwohl-Matrix – die Werte
- Menschenwürde,
- Solidarität und Gerechtigkeit,
- ökologische Nachhaltigkeit,
- Transparenz und Mitentscheidung,
mit den Berührungs-Gruppen der bilanzierenden Unternehmen und Gemeinden, also
- Lieferanten,
- Eigentümern und Finanzpartnern
- Mitarbeitenden,
- Kunden sowie Mitunternehmen und
- dem gesellschaftlichen Umfeld
verknüpft und nach demokratisch erarbeiteten Kriterien bewertet. Dabei ist diese Bilanzierung kein starres, sondern ein „atmendes“ System, entwickelt sich also mit den Erkenntnissen aus der Praxis Jahr für Jahr weiter.
Hier könnte ein Green New Deal anknüpfen. Ziel ist vor allem, dass das die Belohnung für unethisches Handeln umgekehrt wird. Zum Beispiel dürfen verursachte Umweltschäden oder die Ausbeutung abhängig Beschäftigter nicht mit höheren Gewinnen belohnt werden, während damit zwangsläufig Akteure, die nach ethischen Standards wirtschaften, bestraft werden. Vielmehr sollen Unternehmen mit einer positiven GWB auch wirtschaftlich profitieren, etwa indem sie bei öffentlichen Aufträgen oder in Form niedrigerer Steuersätze bevorzugt werden.
Obwohl die GWÖ erst im Jahr 2011 als Modell vorgestellt und seinerzeit nur von 15 Unternehmen praktiziert wurde und die „Rechtlichen Anreize für Unternehmen mit GWB“ noch keineswegs politisch umgesetzt sind, hat sie eine beeindruckend positive Resonanz erfahren. Die Zahl der unterstützenden Unternehmen ist mittlerweile auf über 2.300 angestiegen. Aktuell erstellen bereits über 1000 Unternehmen, sowie einige Gemeinden, Hochschulen und andere Organisationen eine Gemeinwohlbilanz. Das Modell hat nicht nur in ganz Europa, sondern inzwischen auch in sogenannten „Energiefeldern“ international Fuß gefasst – von Schweden bis Chile, von den USA bis Ghana.
Auf politischer Ebene hat die GWÖ mit der Gemeinwohlbilanz Eingang in den Koalitionsvertrag der amtierenden Regierungen in Baden-Württemberg, Hessen und Bremen gefunden. In der EU-Kommission spielt sie inzwischen eine wichtige Rolle bei den Richtlinien für eine nichtfinanzielle Bilanzierung durch Großunternehmen in der EU. Der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich mit überwältigender Mehrheit für eine Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie ausgesprochen.
Inzwischen ist das Thema auch in der universitären Wissenschaft angekommen. An der Universität von Valencia hat sich ein Lehrstuhl für Gemeinwohl-Ökonomie etabliert. In Deutschland hat die Universität Bremen 2018 eine Studie für kleine und mittlere Unternehmen erstellt, um die UN-Empfehlungen hinsichtlich der „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development Goals – SDGs) zu erreichen. Die Studie hält fest, dass eine Strategie nach den Grundsätzen der Gemeinwohl-Ökonomie und mithilfe einer Gemeinwohl-Bilanz durchaus Wirkung zeigt: „Der Ansatz der Gemeinwohlbilanz entspricht aus unserer Sicht dabei einem hohen Ambitionsniveau in der Umsetzung der SDGs“.
Es ist nicht übertrieben, dass mit der GWÖ ein evolutionäres marktwirtschaftliches und praxistaugliches Modell entwickelt wurde, das sich vom jahrhundertalten Dogma des „unfehlbaren freien Marktes“ löst und eine „enkeltaugliche“ Neuausrichtung der Ökonomie ermöglicht.
Während die GWÖ mit ihren neuartigen Bilanzierungsinstrumenten auf Unternehmensebene, in Gemeinden und öffentlichen Institutionen ansetzt, soll mit dem Green New Deal die nationale (beziehungsweise europäischen) Klima-, Wirtschafts- und Sozialpolitik neu ausgerichtet werden. Dort, wo in den Wirtschaftswissenschaften die Grenze zwischen Mikroökonomik und Makroökonomik verläuft, befindet sich in etwa auch die Grenze zwischen den Ansatzpunkten und Adressaten von GWÖ und GNDE. Wohlgemerkt trennt diese Grenze nicht unterschiedliche normative Überzeugungen, sondern lediglich die Ebene der Adressaten und die Ausrichtung der Instrumente.
Das Instrumentarium der GWÖ richtet sich, wie bereits erwähnt, auf private und öffentliche Wirtschaftsakteure. Die Gemeinwohlbilanz schafft einen neuen Bewertungsmaßstab für ökonomische Aktivität und versucht damit, die normative Reorientierung von Unternehmen und öffentlichen Körperschaften herbeizuführen.
Der Green New Deal ist ein Programm für das Europäische System der Zentralbanken, öffentliche Entwicklungsbanken, Finanzaufsichtsbehörden, die Europäische Kommission und die nationalen Regierungen. Seine Schwerter sind neue Verordnungen, Richtlinien und Bundesgesetze, mit denen die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um gemeinwohlorientiertes Wirtschaften auf der Mikro-Ebene der individuellen Wirtschaftsakteure zu fördern und jedes gemeinwohlschädigende Handeln zu sanktionieren.
In seinem Anspruch, ein ganzheitliches Reformprogramm für die europäische Klima- Wirtschafts- und Sozialpolitik zu sein, umfasst der Green New Deal Maßnahmen für nahezu alle Politikfelder – von der Fiskal- bis zur Agrarpolitik, von der Chip-Fabrik bis in den Kindergarten. Die zentralen Paradigmenwechsel, die durch die Umsetzung eines Green New Deals eingeleitet würden, lassen sich dennoch in einigen Worten skizzieren:
- Staatliches Geld wird nicht länger als eine knappe Ressource angesehen. Ausgaben des Staates sind weder durch Steuereinnahmen, noch durch das Wohlwollen von Kapitalmärkten begrenzt. Eine GNDE-Politik trägt diesem Umstand konsequent Rechnung. Sie bricht aus dem lähmenden Austeritätsparadigma der gegenwärtigen Europäischen Fiskalarchitektur aus und ermöglicht endlich großflächige und umfassende Investitionen in eine nachhaltige Infrastruktur (sei es im Bereich Mobilität, Energie, Digitalisierung oder Bauen).
- Arbeitslosigkeit und Vermögensungleichheit sind keine notwendigen Folgen rationaler Marktprozesse. Sie sind das Ergebnis von Politikversagen. Eine GNDE-Politik will unfreiwillige Arbeitslosigkeit durch die Einführung einer staatlichen Jobgarantie beenden. Zudem soll eine staatliche Aus- und Weiterbildungsgarantie dafür sorgen, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an die einem immer stärkerem Wandel unterworfene Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt anpassen können und nicht Gefahr laufen, durch den notwendigen Strukturwandel abgehängt zu werden.
- Trotz wachsender Bemühungen, durch grüne Labels und Zertifizierungen private Investitionen in nachhaltige Unternehmungen zu lenken, fließen Investitionen in die fossile Industrie weiterhin ungebrochen. Eine GNDE-Politik soll diese Fehlallokation von privatem Kapital durch eine rigorose Finanzmarktregulierung mit beispielsweise hohen Haircuts für nicht-nachhaltige Investitionen beenden.
- Die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik (GAP) sowie die Verordnungen und Richtlinien im Bereich Mobilität, Industrie, Wohnen, Digitales, Recht, Energie, Handel und Gesundheit werden anhand der Ziele des effektiven Klimaschutzes, der sozialen Gerechtigkeit und der demokratischen Teilhabe der EU-Bevölkerung novelliert. Mehr zu den einzelnen Politikbereichen ist den zahlreichen Policy Papers zu einem europäischen Green New Deal zu entnehmen, namentlich dem von der Bewegung DiEM25 initiierten Blueprint for Europe´s Just Transition aus dem Jahr 2019, der gerade von der Initiative „Mission Fair Transition“ überarbeitet wird.
Gemeinwohl-Ökonomie und Green New Deal bilden eine Symbiose zwischen der dezentralen Transformation des Selbstverständnisses von Unternehmertum und Konsum (GWÖ) und der vertikalen Schaffung politischer Rahmenbedingungen und Anreize für ein nachhaltiges und sozial gerechtes Wirtschaften (GNDE). In diesem Sinne ist es förderlich, die beiden Ansätze weiter miteinander zu verzahnen und den Austausch zwischen ihren Fürsprecherinnen und Fürsprechern zu fördern. Selbstverständlich werden auch GWÖ und GNDE in einzelnen Bereichen immer wieder in Sackgassen oder in Umwege geraten. Die demokratische Verfasstheit der beiden Bewegungen ermöglicht aber eine von der Mehrheit getragene erfolgreiche Weiterentwicklung.
Weiterführende Literatur:
Felber, C. (2018): Gemeinwohl-Ökonomie. Piper: München.
Felber, C. (2017): Ethischer Welthandel. Deuticke: Wien.
Stiglitz, J. (2012): Der Preis der Ungleichheit. Siedler: München.
Adler, D., Wargan, P. und Prakash, S. (2019): Blueprint for Europe´s Just Transition.
(https://report.gndforeurope.com/cms/wp-content/uploads/2020/01/Blueprint-for-Europes-Just-Transition-2nd-Ed.pdf)
Nersisyan, Y. und Wray, L.R. (2020): “Can we afford the Green New Deal?”, Journal of Post-Keynesian Economics.
Ehnts, D. und Höfgen, M. (2022): „Was ist Modern Monetary Theory?“, Perspektiven der Wirtschaftspolitik.
Ehnts, D. und Plattner, J. (2022): „Die Eurozone und die Weltwirtschaft – Geld und Ressourcen“, DIW Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, 91(3), S. 51 – 70.
Dieser Artikel erschien erstmals auf MAKROSKOP – Das Magazin für Wirtschaftspolitik