Milo Rau erklärt in seinen Zürcher Poetikvorlesungen nicht nur seine Arbeitsweise, sondern auch der «totalen Gegenwart» den Krieg.
Andreas Mauz für die Online-Zeitung INFOsperber
Milo Rau hat seinen eminenten Platz im Kulturbetrieb nicht durch kleine Brötchen und selbstbezogenes Kunstgetüftel erworben. Sein Name steht vielmehr für die grosse Kelle, den entschiedenen Zugriff – für Radikalität. Insofern hätte man als Untertitel seines aktuellen Buches eher Ein Programm, Ein Appell oder ähnliches erwartet, weniger jedoch den braven Ein Essay. Doch steht der gar nicht brave Appell Raus ohnehin schon im Haupttitel: Die Rückeroberung der Zukunft. Zu dieser will das Buch anleiten. Die Zukunft ist der Gegenwart abzutrotzen, da diese – so die Diagnose – eine «totale» ist:
«Totale Gegenwart: die absolute Seinsvergessenheit, das absolute Wegsacken des Zusammenhangs, der metaphysischen Leitlinie. […] Die Kunst […] muss dagegen vor allem eines tun: Vergangenheit erforschen und Zukunft zurückerobern. Sie muss der Gegenwart hinten und vorne die Ausgänge freihalten, um uns […] wieder in geschichtliche Bewegung zu bringen. Denn nur eine offene Gegenwart, in der man aus Distanz zum Geschehen Stellung nehmen kann, ist darstellbar. Und nur eine darstellbare Gegenwart kann als veränderbar begriffen werden.»
Das ist die grosse Kelle im Modus des Essays. Die militärischen Konnotationen der «Rückeroberung» zeugen von der Entschiedenheit – oder eben: Militanz –, die Raus Bühnen- und Filmarbeiten ebenso bestimmen wie deren Reflexion. Die Lektüre seines Buches, basierend auf den Zürcher Poetikvorlesungen von 2022, lohnt sich. In drei Teilen gibt es eine dichte Zwischenbilanz von Raus künstlerisch-aktivistischem Engagement. Aber nicht nur das. Auch wer es mit dem Theater nicht so hat – dem Theater an sich, dem des global agierenden St. Galler Marxisten –, wird dem Band prägnante Thesen zur globalen Gegenwart entnehmen können.
Hoch zu Ross
Denn die Grossdiagnose der «totalen Gegenwart» wird im ersten Teil in Aufnahme des neutestamentlichen Bildes der apokalyptischen Reiter aufschlussreich entfaltet. Anders als das sechste Kapitel der Johannesoffenbarung identifiziert Rau nicht vier, sondern fünf «Reiter» – nämlich den der Überinformiertheit, der Kritik, der Abgrenzung, des Moralismus und des Realismus. Sie bilden «die Kampftruppe der totalen Gegenwart»; sie sorgen dafür, «dass das Ende eintrifft», «lähmen» sie uns doch, «während die Welt vor unseren Augen vernichtet wird».
Wie Rau in seiner pointierten Analyse verfährt, lässt sich anhand des zweiten Reiters näher erläutern: Im Gegensatz zum linken Gemeinsinn, der den Kritikbegriff hoch- oder gar für unverzichtbar hält, formuliert er eine entschiedene Kritik der Kritik. Sie sei insofern regressiv also sie sich bereitwillig für dieses und gegen jenes positioniere, die fraglichen Zusammenhänge letztlich aber doch als alternativlos wahrnehme: «Das als alternativlos erlebte Reale wird nicht als veränderlich, sondern eben nur als kritisierbar dargestellt.» Wie lähmend Kritik faktisch wirken kann, bringt Rau durch die Rede vom «Minimaldissens» auf den Punkt: Die kleinen Dissense zwischen ähnlich Sozialisierten und en gros Gleichgesinnten (auch und besonders im progressiven Theaterbetrieb) verhindern die Konfrontation mit dem «globalen Tod […]: die Uneinigkeit der Wohlmeinenden stärkt die Herrschaft des Tatsächlichen». Entsprechend plädiert Rau für «Grosszügigkeit», für eine Entkrampfung der «Binnen-Moral» – und damit eben auch gegen die Reiter der Abgrenzung und des Moralismus.
Wo dieser Kavallerie nicht nur durch Kritik, sondern durch Revolte begegnet wird, öffnet sich die Gegenwart. Sie wird mehr als «ein Übergangsraum, in dem sich die Zukunft zu realisieren hat». Wo dies geschieht, tritt an die Stelle des «kapitalistischen Realismus» ein «utopischer». Rau nimmt ausdrücklich in Anspruch, dass in seinem Kongo Tribunal (2015/17) – der Inszenierung eines Volksgerichts, das über die ungeahndeten Verbrechen des Kongokrieges urteilt – eine zukünftige Praxis internationaler Rechtsprechung aufleuchte.
Absteigen
Auf den diagnostischen ersten Teil folgen im zweiten therapeutische Vorschläge, nämlich fünf «Seinsweisen für das utopische Denken», die es erlauben sollen, von jenen Pferden abzusteigen: «die extreme Erfahrung (anstelle virtueller Information), die radikale Widersprüchlichkeit (anstelle des Moralismus), die ekstatische Praxis (anstelle akademischer Kritik), die praktische Solidarität (anstelle identitärer Abgrenzung) und die reale Utopie (anstelle des zynischen Realismus)». Zur Illustration der «extremen Erfahrung» verweist Rau exemplarisch auf sein Neues Evangelium (2021), das Projekt einer filmischen Adaption des Jesus-Stoffs für die Gegenwart. In Matera, wo bereits Pasolini und Gibson ihre Jesus-Filme gedreht haben, wurde Rau mit der Realität der illegalen Plantagenarbeiter:innen konfrontiert. Deren Erfahrungen, das würdelose Leben in der Versklavung durch die Mafia, geben dem Film seinen Glutkern: Yvan Sagnet, ein kamerunischer Aktivist und Anführer der Streikbewegung, übernimmt die Rolle des Jesus. Die Reich Gottes-Bewegung in Galiläa wird überblendet mit der der Aufständischen in der Basilikata.
Theatralischer Elendstourismus?
Raus Arbeiten werden gelegentlich dem Vorwurf ausgesetzt, das Leiden Betroffener dramaturgisch zu funktionalisieren und damit letztlich auch der Wahrnehmbarkeit seiner eigenen Person dienstbar zu machen. Am deutlichsten in der NZZ am Sonntag unter dem bösen Titel Wie erfolgreich ist Milo Rau mit dem theatralischen Elendstourismus? Anna Kardos’ kritisches Porträt macht es sich mit dem Essay aber zu leicht. Denn Rau betont nicht nur in seiner zweiten Therapieform nachdrücklich die Widersprüchlichkeiten, in die seine Projekte führen. Durch den bewusst gewählten Making-of-Charakter von Das neue Evangelium kommt neben den Helden Jesus/Sagnet eben auch Regisseur Rau zur Darstellung. Daher stellt er im Essay Fragen wie: «Was ist der Unterschied zwischen jemandem wie mir, der in Zürich eine Vorlesung hält, und jemandem wie Pussy Riot, die für ihre Überzeugungen bereit sind, ins Gefängnis zu gehen?» Daher gibt er im dritten Teil des Essays auch eine ausführliche Kommentierung des St. Galler Projekts Lasst Schepenese heimkehren!. Die Forderung, die Mumie heimkehren zu lassen, die durch die handgreifliche Ägyptenbegeisterung des 19. Jahrhunderts in den Besitz des Klosters kam, um dort als ausgewickelte Frauenleiche zur Attraktion zu werden (Besichtigung für Fr. 18.–), diese Forderung wird historisches Unrecht nur zu Handen des Gegenwartsgewissens markieren, nicht aber aufheben: «Ist es nicht verrückt, die Restitution einer Mumie gerade dorthin ins Auge zu fassen, wo nicht einmal die Rechte lebender Menschen respektiert werden?» Wer Rau selbstgefälligen «Elendstourismus» vorwirft, darf seine anspruchsvolle mitlaufende Selbstbefragung nicht unterschlagen.
Respekt vor Glückskeksen und Propheten
Andere Rezensionen wiederum haben den dritten Teil des Essays angegriffen, so Björn Hayer in der Zeit, wenn er die dort formulierten «Gesetze für den kommenden Aufstand» als «Glückskeks-Ratschläge» vorführt. Tatsächlich haben die jeweiligen Zwischentitel den Sound der Ratgeberliteratur – Komplexität aushalten, Das Problem bist du selbst, Dranbleiben, Sei demütig und gelassen. Und die (leider nicht eigens diskutierte) Bezeichnung dieser Tugenden als «Gesetze» hat durch deren Verpflichtungscharakter tatsächlich etwas Irritierendes. Liest man diese aber von ihren beispielbezogenen Entfaltungen her, wird klar: Selbst wenn man Raus Gegenwartsbeschreibung und seine Funktionsbestimmung der Kunst nur mit Einschränkungen teilt, kann man sich eine Überheblichkeit gegenüber den «Ratschlägen» eigentlich nicht leisten.
Kontroverser als jene Gesetze dürfte ohnehin ein Aspekt sein, der in der bisherigen Diskussion des Essays erstaunlich absent war: In Raus utopischer Kelle steckt viel Religion, zumal Christentum. Dass er seine Gegenwartsdiagnose mit apokalyptischer Energie auflädt, Jesus als positiven Helden wählt und die bekannte Pussy Riot-Performance als Tempelreinigung feiert, ist nur das eine. Das Andere: Er scheut auf den letzten Zeilen nicht das prophetische Pathos, das durch eine Zukunft, deren Rückeroberung misslang, nur allzu leicht als Blabla entlarvt werden könnte: «Die heutigen Besitzverhältnisse werden über Nacht ihre Gültigkeit verlieren […]. Alles, was zählt, ist: bereit sein, gemeinsam. Das ist die Ewigkeit […]: der Augenschlag zwischen dem, was war, und dem, was sein wird.» Respekt vor dem Mut, auch diese Sprache zu sprechen. Respekt vor Milo Rau.
Milo Rau: Die Rückeroberung der Zukunft. Ein Essay. Hamburg: Rowohlt 2023.