Linke und rechte Regierungen halten sich in den Staaten Lateinamerikas in etwa die Waage. Doch das kann sich rasch ändern.
Romeo Rey für die Online-Zeitung INFOsperber
Der Fokus ist gegenwärtig vor allem auf Argentinien und die Entwicklung in Zentralamerika gerichtet. Nach Ansicht des erfahrenen Ökonomen Heiner Flassbeck begibt sich der im Dezember gewählte Javier Milei mit seinem ultraliberalen Programm zur Sanierung der gravierenden Wirtschaftsprobleme auf ein Minenfeld. In der Berner Zeitung war zu lesen, dass ein Ökonom mit Schweizer Wurzeln Mileis Programm ausgearbeitet hat. Doch wer den «Präsidenten mit der Kettensäge» als Ratgeber begleitet, sollte sich vor Augen halten, dass solche Eskapaden in Argentinien seit nahezu einem Jahrhundert jedes Mal in einem noch grösseren Schlamassel endeten.
Trotzdem scheinen selbst in Berlin einflussreiche Kreise keine Bedenken zu haben, Milei auf diesem wilden Ritt möglichst nahe zu begleiten, wie German Foreign Policy feststellt. Dabei müsste man eigentlich seit der Ankündigung des «Omnibus-Gesetzes» wenige Tage nach dem Machtwechsel in Buenos Aires Grund genug haben, um an den Aussichten eines «libertären» Exzesses dieser Grössenordnung zu zweifeln. Ein Artikel von amerika21 führt aus, dass der Gesetzesentwurf vorsieht, auf einen Schlag Hunderte bestehende legale Verfügungen, die alle erdenklichen Aspekte der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik betreffen, zu ändern oder geradewegs abzuschaffen.
Argentinien: Neoliberale Ideen vermischt mit Autoritarismus
Sandra Weiss beschäftigt sich im IPG Journal mit der erste Phase der Regierung Milei. Ins Zentrum ihrer Analyse stellt die Politologin und ehemalige Diplomatin das end- und heillose Hin und Her zwischen Liberalismus und Neoliberalismus auf der einen Seite und populistischem Reformismus verschiedenster Couleur auf der anderen Seite. Als neue Ingredienzien erscheinen dabei ein Antifeminismus, so furios und kontrovers wie noch nie in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas, und die Kriminalisierung von Protesten fast jeglicher Art. Dabei werde dem repressiven Apparat des Staates freie Hand gegeben, als ob Argentinien immer noch (oder schon wieder) unter diktatorischer Herrschaft kuschen müsste. Verdienstvoll ist, dass die Autorin auf die tieferen Wurzeln dieser widersprüchlichen Staatstheorie – absolute Freiheit für die wirtschaftlichen Akteure, während das darbende Volk gefälligst stillschweigend leiden soll – eingeht, die von der Mont-Pèlerin-Society und der Heritage Foundation bis zu den wirren Vorstellungen eines Milei reichen.
El Salvador: Auf dem Weg in die Diktatur
Solch anmassende, sozial und politisch aber brisante Politik breitet sich derzeit in verschiedenen Ländern des Subkontinents aus. Die schweizerische Wochenzeitung (WOZ) beschreibt den Prozess eines «Zurück zum Liberalismus, wie auch immer» in einem kompakten Hintergrundbericht über die Methoden und Tricks, wie sich Nayib Bukele im mittelamerikanischen Kleinstaat El Salvador rechtswidrig an der Macht hält: mit dem Versprechen, law und order wiederherzustellen, vom Volk gutgläubig und mit grossem Mehr gewählt. Mit seiner Politik des «eisernen Besens» wurden nicht nur Zehntausende Angehörige der berüchtigten Mara-Banden hinter Gitter gesetzt, sondern auch unzählige Unschuldige und Oppositionelle. Dutzendfach hat es solche de-facto-Diktaturen auf dem Halbkontinent und auf dem Isthmus gegeben: Stroessner in Paraguay, Trujillo in der Dominikanischen Republik, die jahrzehntelange Herrschaft der Oligarchen in Guatemala, der Statthalter der USA Somoza in Nicaragua, Pérez Jiménez in Venezuela, Fujimori in Peru, um nur die bekanntesten zu nennen.
Ecuador und Mexiko: Krieg gegen Drogenkartelle
Während sich linke Regierungen in Lateinamerika abmühen, längst überfällige soziale, wirtschaftliche, steuerpolitische und kulturelle Reformen anzuschieben, öffnen konservative Kräfte unbeirrt neue und alte Freiräume, um ihren eigenen Plänen und Projekten Auftrieb zu geben. Ihre Strategie läuft darauf hinaus, die realen Machtverhältnisse in der Legislative, im Justizapparat, in der Wirtschaft, Aussenpolitik, Diplomatie und im Militär zu konsolidieren. Sie lassen die linken «Weltverbesserer» in der Exekutive an fest etablierten Bollwerken auflaufen und sorgen dafür, dass an den Eckpfeilern der Macht nicht zu heftig gerüttelt wird. Ein Seilziehen dieser Art ist gegenwärtig in Ecuador im Gang. Ein Kampf bis aufs Messer gegen die Kartelle und Banden des weltweiten Drogenhandels spielt ihnen dabei in die Hände, berichtet amerika21. Dabei geniessen die «Retter der Demokratie» in breiten Kreisen der Bevölkerung grosse Popularität und Zustimmung.
Ein beredtes Beispiel dafür ist auch Mexiko mit dem Präsidenten Andrés Manuel López Obrador. Dieser treibt mit teils populistischen, teils nationalistisch gefärbten Projekten und Programmen seit fünf Jahren eine Politik voran, die sich als Errungenschaften einer mässig linksgerichteten Herrschaft verkaufen lassen sollen. Doch auch hier durchkreuzen und bedrohen die Akteure des Drogenkriegs immer wieder konstruktive Ansätze der Regierungsarbeit und richten dabei grössten Schaden unter den Schwächsten der Gesellschaft an. Wie Konflikte zwischen Drogenbanden die Bewohner ländlicher Regionen bedroht, zeigt ein Bericht in der NZZ. Im Südosten des Landes leben Indigene zwar in äusserst bescheidenen, aber in ihren Ejido-Genossenschaften relativ autonomen Verhältnissen. Jetzt werden sie in die Kämpfe zwischen Kriminellen und Militär verwickelt und riskieren dabei, das Wenige, das sie besitzen, zu verlieren.
Guatemala: Indigene gegen die Machtelite
In einem dramatischen Spannungsfeld befindet sich die indigene Bevölkerung Guatemalas seit der jüngsten Präsidentenwahl. Im August 2023 gewann Bernardo Arévalo, der gegen die Korruption und Erosion der Demokratie in Guatemala vorgehen will, überraschend die Stichwahl. Mit allen Mitteln versuchte die traditionelle Elite, den Machtübergang auf den neuen Staatschef zu verhindern. Der seit langem in dieser Region ansässige Journalist Knut Henkel vermittelt im IPG Journal lebhafte Eindrücke vom Kampf der mehrheitlich indigenen Bevölkerung gegen eine Herrschaft von chronisch Korrupten. Wochen und Monate lang harrten Arévalos Unterstützerinnen und Unterstützer im Zentrum der Hauptstadt aus, um alle Manöver der Gegenseite zur Vereitelung der Amtsübernahme zu kontern. Schliesslich gelang das Werk demokratischer Resistenz: Am 14. Januar legte Bernardo Arévalo mit einer Verspätung von ein paar Stunden seinen Amtseid ab, nachdem die letzten Manöver zur Hintertreibung des Machtwechsels misslungen waren.
Peru: Schweiz unterstützte Todesmine
Immer seltener findet man in den Blättern der bürgerlichen Presse Beiträge, die das Wirken schweizerischer Unternehmen in Lateinamerika kritisch hinterfragen. Die NZZ am Sonntag machte in dieser Hinsicht kürzlich eine Ausnahme. Sie berichtete über ein schweres Unglück in einer Goldmine in den peruanischen Anden. Ein Untersuchungsbericht dokumentiert schwere Mängel und Sicherheitsprobleme im Bergwerk – obwohl die Mine als Vorzeigebetrieb galt und von der Schweiz unterstützt wurde. Dieser Fall, der 27 Minenarbeitern das Leben kostete, wirft unter anderem die Frage auf, wie es mit der Konzernverantwortungsinitiative weitergehen soll, die vom Volk angenommen wurde, jedoch am anachronistischen Ständemehr gescheitert ist.
Brasilien: Aktionsplan für die Industrie
Derzeit gibt es nur wenige Schlagzeilen, welche die Mühen und Nöte von linker Politik betreffen. Brasilien hat zu Beginn des zweiten Jahres im gegenwärtigen Mandat von Präsident Lula da Silva grosse Pläne angekündigt, die in der Darstellung von amerika21 jedoch nicht weit über allgemeine Formulierungen hinauskommen. Über kurz oder lang wird sich die Regierung in Brasília jedoch daran erinnern und messen lassen müssen. In vielen Ländern des Erdteils sind neue oder wiedergewählte Autoritäten mit hochtrabenden Programmen rasch zur Stelle. Doch was davon nach einigen Jahren verwirklicht sein wird, ist meistens bescheiden.
Romeo Rey, Die Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 284 Seiten, 3. Auflage, C.H.Beck 2015, CHF 22.30