Berlin dringt trotz Warnungen in den USA auf militärischen Sieg der Ukraine über Russland. Leitmedien diffamieren den Versuch, Deutschland nicht mit Taurus-Lieferung in den Krieg zu führen, als unnötige „Angst“.

Durchhalteparolen, Forderungen nach einem Sieg über Russland und Spott über „Angst“ vor einer Entgrenzung der Waffenlieferungen an Kiew haben in Deutschland den zweiten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine geprägt. Während in den USA Warnungen laut werden, die Ukraine drohe den Krieg zu verlieren, und US-Regierungsmitarbeiter Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Verhandlungen mit Russland drängen, heißt es in Berlin, Moskau müsse „diesen Krieg verlieren“. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fordert, vor einer russischen Kapitulation dürfe es „keine Verhandlungen geben“. Auf einen ukrainischen Sieg spekulieren laut Umfragen lediglich 10 bis 25 Prozent der deutschen Bevölkerung; Mehrheiten rechnen im Gegenteil mit einem russischen Sieg und sprechen sich gegen Waffenlieferungen aus. Leitmedien ziehen die Weigerung von Kanzler Olaf Scholz, Kiew Marschflugkörper vom Typ Taurus zu übergeben, mit der Aussage ins Lächerliche, Scholz müsse noch „seine Angst überwinden“. Mit „Angst“ ist die begründete Vermutung gemeint, Moskau werde die Lieferung des Taurus als deutschen Kriegseintritt werten. Wegen stark steigender Rüstungsausgaben sagt ein Ökonom „Kanonen ohne Butter“ voraus.

Selenskyjs Wahl

Politiker aus der Berliner Regierungskoalition wie auch aus der Opposition haben am Wochenende die Forderung nach einem Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland bestärkt – dies, während andernorts, etwa in den Vereinigten Staaten, warnende Stimmen lauter werden. So konstatierte Ende vergangener Woche Charles Kupchan, ehedem Europadirektor im Nationalen Sicherheitsrat unter Präsident Barack Obama, es existiere „kein vorhersehbarer Weg zu einem Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld“ – und zwar auch dann nicht, wenn die ukrainischen Streitkräfte bald neue Waffen, etwa US-Kampfjets des Typs F-16, einsetzen könnten.[1] Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, urteilte Kupchan, stehe faktisch vor der Wahl, jeden Zentimeter ukrainischen Hoheitsgebiets zu verteidigen zu versuchen oder aber einen Weg zu finden, die Ukraine als einen ökonomisch überlebensfähigen Staat mit einer demokratischen Zukunft zu bewahren. Letzteres bezog sich nicht zuletzt darauf, dass das Land bei einer Fortführung des Krieges noch mehr Menschen, vor allem aus der jüngeren Generation, verlieren wird, während seine wirtschaftliche Existenz nach Einschätzung von Demografen schon heute wegen der hohen Zahl an der Front umgekommener Soldaten sowie der zahlreichen Flüchtlinge kaum noch sicherzustellen ist (german-foreign-policy.com berichtete [2]).

„Russland muss verlieren“

Während US-Regierungsmitarbeiter laut einem aktuellen Bericht der New York Times den ukrainischen Präsidenten zu Verhandlungen mit Russland zu bewegen versucht haben – wenn auch ohne Erfolg [3] –, sind aus Berlin derzeit nur anfeuernde Parolen zu hören. So äußerte am Samstag exemplarisch der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, „die militärische Unterstützung der EU-Staaten für die Ukraine“ sei „wichtiger denn je“; denn letzten Endes müssten „Präsident Putin und sein Regime … diesen Krieg verlieren“: „Russland muss scheitern“.[4] Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz wiederum erklärte, er setze darauf, dass Moskau letztlich kapituliere: „Wenn Russland die Waffen niederlegt, ist der Krieg zu Ende.“ Dazu müsse man „die russische Armee und die russische Staatsführung bringen“.[5] Merz fuhr fort: „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen, und zwar so gewinnen, dass Russland keinen Sinn mehr darin sieht, ihn militärisch fortzusetzen“. Wie das gelingen soll – zahlreiche Militärexperten, auch der Ex-Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Walerij Saluschnyj [6], halten dies für unmöglich –, erläuterte Merz nicht. Allerdings legte der Oppositionsführer im Bundestag sich fest: „Vorher“ – vor einer Kapitulation der russischen Streitkräfte – „wird es keine Verhandlungen geben.“

Gegen die Bevölkerung

Mit seiner stahlharten Forderung, Russland müsse den Krieg verlieren, stellt Berlin sich nicht nur der nüchternen Lageeinschätzung erfahrener Militärs, sondern auch einer klaren Mehrheit der Bevölkerung entgegen. So gaben bei einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR), die in der ersten Januarhälfte in zwölf europäischen Staaten erhoben wurde, gerade einmal zehn Prozent aller deutschen Befragten an, die Ukraine könne laut ihrer Auffassung den Krieg noch gewinnen.[7] 19 Prozent sahen dagegen Russland als Sieger, während 31 Prozent einen Kompromiss zwischen Moskau und Kiew erwarteten. Zwar fanden 32 Prozent trotzdem, die EU solle die Ukraine militärisch unterstützen; 41 Prozent äußerten hingegen, sie zögen es vor, wenn Brüssel Kiew zu Verhandlungen mit Moskau dränge. Eine Anfang Februar durchgeführte Ipsos-Umfrage ergab zwar, rund 25 Prozent der deutschen Bevölkerung seien der Ansicht, die Ukraine könne den Krieg noch gewinnen; doch meinten 40 Prozent, dies sei jetzt nicht mehr möglich. Für Waffenlieferungen an die Ukraine sprachen sich immerhin noch 39 Prozent Prozent aus; 43 Prozent waren jedoch dagegen.[8] Der mit Abstand größte Anteil an Befürwortern von Waffenlieferungen existiert laut der Umfrage bei Anhängern von Bündnis 90/Die Grünen (72 Prozent), bei denen auch der Anteil derjenigen, die einen Sieg der Ukraine noch für möglich halten, am höchsten liegt (47 Prozent).

Kanonen ohne Butter

Weil die milliardenschweren Waffenlieferungen an die Ukraine und die massive Aufrüstung der Bundeswehr immense Summen verschlingen werden, gewinnt aktuell die Debatte, wo die Mittel dafür herkommen sollen, an Fahrt. Interne Planungen des Verteidigungsministeriums gehen davon aus, dass das Mindestvolumen des deutschen Militäretats – zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts – sich 2028 auf 97 Milliarden Euro belaufen wird.[9] Hinzu kämen, so heißt es, vermutlich weitere „Bedarfe“ in Höhe von 10,8 Milliarden Euro. Gegenüber dem aktuellen Wehrhaushalt von knapp 52 Milliarden Euro entsteht damit eine Lücke von rund 56 Milliarden Euro. Kürzungsmaßnahmen führen schon jetzt zu ersten Sozialprotesten, und auch in der Wirtschaft wird Unmut laut; so stößt es auf Unverständnis, dass die Bundesregierung unlängst die staatlichen Mittel für die Batterieforschung um drei Viertel gekürzt hat, obgleich die Batterieproduktion als Schlüsselbranche der Energiewende gilt.[10] Finanzminister Christian Lindner stellte schon am Donnerstagabend in einer TV-Talkshow ein „mehrjähriges Moratorium bei Sozialausgaben und Subventionen“ in Aussicht, um die Rüstungsausgaben künftig finanzieren zu können.[11] Der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, stellte fest: „Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht.“ Künftig gebe es „Kanonen ohne Butter“.[12]

„Weniger Zögern, mehr Härte“

Einwände gegen entgrenzte Waffenlieferungen an die Ukraine werden mittlerweile brüsk vom Tisch gewischt – mit Argumenten, die eine wachsende Bereitschaft erkennen lassen, die Bundesrepublik aktiv in den Krieg gegen Russland zu führen. Dies gilt zur Zeit insbesondere für die Forderung, Kiew Marschflugkörper vom Typ Taurus zu übergeben. Griffen die ukrainischen Streitkräfte mit ihnen Territorien an, die bereits vor 2014 zu Russland gehörten, dann würde dies von Moskau vermutlich als Eintritt Deutschlands in den Krieg gewertet. Bereits am Freitag hieß es in einem Leitkommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Kanzler Scholz, der die Taurus-Lieferung bislang verweigert, müsse davon abrücken und „seine Angst überwinden“.[13] Der CDU-Vorsitzende Merz griff dies am Wochenende in der Debatte um den Taurus auf und äußerte, den Willen zur Vermeidung des Kriegseintritts als Feigheit diffamierend: „Hat er [Scholz, d. Red.] Angst?“[14] In der Grünen-nahen taz ist mittlerweile davon die Rede, man befinde sich ohnehin bereits in einem „Weltkrieg“, zu dem Putin im Jahr 2022 „den Startschuss“ gegeben habe: „Viele Mächte, nah und fern, verfolgen, wer hier die Oberhand gewinnt.“[15] Deshalb müsse der Westen aus dem Krieg als Sieger hervorgehen: „Weniger Zögern, mehr Härte ist das Gebot der Stunde.“ Dies gilt ganz offenkundig für den Weltkrieg, in dem der Autor den Westen aktuell sieht.

[1] Steven Erlanger, David E. Sanger: Hard Lessons Make for Hard Choices 2 Years Into the War in Ukraine. nytimes.com 24.02.2024.

[2] S. dazu „Ein irreversibler demographischer Schock“.

[3] Steven Erlanger, David E. Sanger: Hard Lessons Make for Hard Choices 2 Years Into the War in Ukraine. nytimes.com 24.02.2024. S. dazu Die Strategie der Eindämmung.

[4] Nils Schmid: Zwei Jahre Angriff auf die Ukraine: Putin muss diesen Krieg verlieren. vorwaerts.de 24.02.2024. S. dazu „Russland muss verlieren“.

[5] Hannes Niemeyer: „Hat Scholz Angst?“ – Merz zieht vernichtende Bilanz nach zwei Jahren Ukraine-Krieg. merkur.de 25.02.2024.

[6] S. dazu Heikle Gespräche.

[7] Ivan Krastev, Mark Leonard: Wars and elections: How European leaders can maintain public support for Ukraine. ecfr.eu 21.02.2024.

[8] Nur jede:r Vierte hält Sieg der Ukraine noch für realistisch, Waffenlieferungen bei Deutschen umstritten. ipsos.com 22.02.2024.

[9] Matthias Gebauer, Marina Kormbaki: Bundeswehr steuert auf 56-Milliarden-Euro-Loch zu. spiegel.de 31.01.2024.

[10] Oliver Scheel: Batterieforschung in Deutschland droht das Aus. n-tv.de 08.02.2024.

[11], [12] Raphaël Schmeller: Ampel zerlegt Sozialstaat. junge Welt 24.02.2024.

[13] Reinhard Müller: Wo bleibt der Booster für die Ukraine? Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.02.2024.

[14] Hannes Niemeyer: „Hat Scholz Angst?“ – Merz zieht vernichtende Bilanz nach zwei Jahren Ukraine-Krieg. merkur.de 25.02.2024.

[15] Jan Claas Behrends: Startschuss zum Weltkrieg. taz.de 25.02.2024.

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